Von fliegenden Karpfen

Das Drama vom todkranken Flüchtling in Berlin? Ausgedacht. Der Skandal um das vergewaltigte dreizehnjährige Teenagermädchen? Erfunden. Sensations-, Lügen- und Horrorgeschichten verfolgen uns nahezu täglich. Gerüchte und Halbwahrheiten haben Konjunktur. Es ist allzu menschlich, in Krisenzeiten Gerüchten Glauben zu schenken. Sie helfen uns, den Überblick zu wahren und wieder Boden unter die Füße zu bekommen.

Viele fühlen sich derzeit einfach überfordert. Gerüchte hingegen bedienen Instinkte, sind von verführerischer Einfachheit. Tatsächliche oder diffuse Ängste werden geschürt. Diese alte Sehnsucht nach Gewissheiten, festen Grenzen und stabilen Feindbildern beschleunigt Gerüchte. Ganz von allein. Wer Zweifel äußert, stört. So kann munter behauptet werden ohne Belege zu bringen. Facebook oder Twitter funktionieren wie flott entflammbare Brandbeschleuniger. Zum Löschen bleibt kaum noch Zeit.

Diese Verbindung von Drama und Dreistigkeit, von Anonymität und Desinformation produziert im Internet einen brisanten Mix. Ein Facebook-Eintrag reicht. Die Republik steht Stunden Kopf. Die Zauberlehrlinge der neuen sozialen Medien sind ratlos. Deshalb bitteschön ein Moment innehalten: Gerüchte sind so alt wie die Menschheit. Wir folgen ihnen gerne, wenn sie das eigene Weltbild bestätigen. Das war schon immer so. Nur verbreiten sich Postings, Fakes und Shitstorms heute in Echtzeit. Überall. Jederzeit abrufbar.

 

geruecht

„Das Gerücht“. A.P. Weber. 1943.

 

Als der Grafiker A.P. Weber das Thema Gerücht zu Papier brachte, ließ er ein Schlangenmonster mit ungezählten Augen und Ohren durch eine graue Großstadtwelt gleiten. Aus allen Fensterlöchern erhält dieses Fabelwesen der Falschheit frische Nahrung. Nichts scheint dieses Gespenst stoppen zu können. Webers Zeichnung stammt aus dem Kriegs-Jahr 1943. Für den Dichter Arno Schmidt war Webers Darstellung des Gerüchts „die beste Allegorie seit Leonardo da Vinci“.

Auch der Arzt und Soziologe Gustave Le Bon warnte in seinem Standardwerk Die Psychologie der Massen vor der verführerischen Kraft von Gerüchten. Der Franzose erklärte 1895 über die Leichtgläubigkeit des modernen Menschen. „Nie haben die Massen nach Wahrheit gedürstet. Von den Tatsachen, die ihnen missfallen, wenden sie sich ab und ziehen es vor, den Irrtum zu vergöttern, wenn er sie zu verführen vermag. Wer sie zu täuschen versteht, wird leicht ihr Herr, wer sie aufzuklären versucht, ihr Opfer.“

 

Gelobt sei der Zweifel! Das gilt natürlich auch für diese Seite.

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