Hurra! Ackern bis 101
Rente mit siebzig, fordert Wolfgang Schäuble. Lebensfremd, kontert Andrea Nahles. Schuften bis die letzten Zähne ausfallen? Wer will das schon? Auch die Babyboomer-Generation steht bald vor einer großen Zäsur. Es ist nun mal so: Jeder will alt werden. Aber keiner alt sein. Malochen bis weit über 65? In einem kleinen Betrieb in der Nähe von Boston gehören Rentnerjobs zum täglichen Brot. Vita Needle heißt die Vorzeige-Firma im Vorort Needham. Durchschnittsalter: 74 Jahre.
Das Überraschende. „Es macht mir großen Spaß hier zu arbeiten“, sagt Robert Omara (71). Auch seine vierzig Kolleginnen und Kollegen kommen gerne und freiwillig. Die Rentner sind zuverlässig, diszipliniert und belastbar. Sie arbeiten meist vier bis fünf Stunden, manche deutlich mehr. Der Umsatz hat sich in den letzten Jahren verdreifacht. Die Alten arbeiten in einer kleinen Werkhalle, in der früher ein Tanzsaal war. Sie produzieren Präzisionsnadeln aus rostfreiem Stahl. Zum Aufblasen von Basketballbällen oder für Gehirnoperationen. Die Älteste? Rosa Finnegan. Kellnerin im Ruhestand, verwitwet. Mit 85 stieg Rosa bei Vita Needle ein und blieb bis zum 101. Lebensjahr. Eine vielgefragte Heldin zahlreicher Reportagen und Fernsehnews.
Müssen in Boston Senioren ackern, damit Junge arbeitslos bleiben? Ist das nicht pure Ausbeutung von alten Menschen in Not, die sich ihren Ruhestand nicht leisten können? Eine Perversion des amerikanischen Traums? Die Vita-Needle-Truppe winkt ab. Einige müssen in der Tat ein paar Dollars hinzuverdienen. Aber die meisten machen mit, weil sie „nicht alleine dahinrosten“ wollen. Dazugehören, gebraucht und geschätzt zu werden. Das zählt. Arbeit als Gemeinschaftserlebnis, als Sinnstifter und Selbstverwirklichung. Tägliche Medizin gegen Frust und Einsamkeit.
Die Beschäftigten sind frühere Lehrer, Handelsvertreter oder Ingenieure. Sie teilen sich ihre Arbeitszeit selbst ein. „Geht nicht!“ ist hier ein Fremdwort. Der Schlüssel zum Erfolg: Die Produktion ist äußerst flexibel, alle können mehr oder weniger für jeden Kollegen einspringen. Das Gehalt liegt über dem Mindestlohn. Die Senioren empfinden ihre Arbeit nicht als Last, sondern haben Spaß und sind hoch motiviert. Auch wenn die 94-jährige Grace King immer wieder mal bei der Arbeit einschläft, worüber legendäre Geschichten kursieren. Entlassen worden ist bis heute kein einziger Vita-Mitarbeiter. Freundschaften sind entstanden. Jeden Freitagabend trifft sich die 82-jährige Ruth Kenny mit Kolleginnen zum gemeinsamen Kochen.
Vita Needle ist bislang der berühmte Einzelfall. Aber einer über den sich nachzudenken lohnt. Wie wollen wir künftig im Alter leben? Wie kann aus altem Eisen Edelstahl werden, wenn die Rentenkassen geplündert sind? Hirnforscher Gerald Hüther schreibt: „Das Hirn lernt auch im Alter noch, wenn wir uns für etwas begeistern.“ Arbeit als Jungbrunnen, als Therapie oder gar „Urlaub“ vom tristen Seniorenalltag, so der 74-jährige Ex-Architekt Jim Downey. Seine Kollegin Rose Finnegan, die flotte Kellnerin, musste sich erst mit 101 Jahren aus der Firma zurückziehen. Es ging einfach nicht mehr. Das machte sie wirklich traurig. Nur ein Jahr später starb sie – im Alter von 102 Jahren.
Mehr über die „Rentner GmbH – Arbeit und Selbstwert im Alter“ in dem lesenswerten Buch von Caitrin Lynch: „Geht´s noch?“.