Wo der Zauber zuhause ist

„Psst! Seien Sie bitte leise, hier wird Theater gespielt.“ Der große kräftige Manager am Eingang der Gemeindehalle versperrt freundlich, aber bestimmt den Weg. Wir haben zu spät von der Aufführung erfahren, betteln um Einlass. Wir wollen unbedingt sehen, wie der Milchwald in Dylan Thomas Heimat gespielt wird. Plötzlich erbarmt sich der Mann und öffnet doch noch die Tür.

Der Saal ist völlig überfüllt, es riecht nach Lampenfieber, Schweiß und Aufregung. Das Stück liegt in den letzten Zügen, auf der Bühne heißt es bald: es wird dunkel in der bibelschwarzen Nacht von … Laugharne.

Schlussapplaus brandet auf, der Saal tobt, die Schauspieler sind glücklich, der Regisseur, ein BBC-Mann, eilt auf die Bühne und verneigt sich mit dem ganzen Ensemble. „Unter dem Milchwald“ ist wieder ein voller Erfolg. 1958 wurde das Stück zum ersten Mal aufgeführt, erst auf englisch, später In Dylan Thomas Muttersprache, auf walisisch. Die Inszenierung ist ein großer Kraftakt mit monatelangen Vorbereitungen, vielen Laiendarstellern und einigen wenigen richtigen Schauspielern. Jeder Theaterabend ist ein Fest, ein Erlebnis, die Besucher kommen von überall, sogar aus den USA. Dylan Thomas ist ein gefeierter Autor, von London bis Los Angeles. Jedes englischsprachiges Kind kennt ihn, er ist so bekannt wie Goethe oder Schiller bei uns. Bob Dylan nahm seinen Namen an und Led Zeppelin widmete Dylan Thomas ihre schönste Hymne der Popgeschichte „Stairways to heaven“.

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Dylan Thomas. Poet, Dichter, Trinker. Er starb mit 39 Jahren. Bob Dylan bewundert ihn, nahm seinen Namen an.

 

Hier in Laugharne, an der walisischen Westküste ist der Milchwald zuhause. Von hier stammen die schrägen, eigenwilligen Charaktere, die Dylan Thomas in seinem weltberühmten Stück verarbeitet hat. Jeder macht hier im Sommer mit. Der Enkel von Fleischer Mr. Gleed spielt den strammen Metzgermeister Gossamar Beynon. Der populäre Postbote Adrian Nicholls verwandelt sich natürlich in die Kultfigur Willy Nilly Postmann. Aber auch all die anderen aus dem Stück, ob Reverend Eli Jenks, Misses Ogmore-Prichards oder Mister Organ Morgan,  sind mit Feuereifer dabei. Laugharne, die kleine Küstengemeinde mit rund vierhundert Seelen, ist immer Anfang August völlig aus dem Häuschen.  Bereits in der dritten Generation wetteifern die Laugharner beim Milchwald mit. Irgendwie spielen sie sich selbst, mit großem Engagement, mancher Unbeholfenheit, aber stets mit einem schelmischen Augenzwinkern.

Nach der Aufführung treffen sich Einheimische, Gäste und Schauspieler bei Richard, einer der mehreren Stehkneipen an der Dorfstraße. Es ist  brechend voll und höllenlaut, die Biergläser kreisen über den Tresen. Die Laugharner sind stolz auf ihren Milchwald, auf ihren Dylan Thomas, der in einem nahen Bootshaus vier Jahre seines Lebens verbrachte. Heute ist in dem früheren Schuppen ein kleines Museum untergebracht.

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Die Dichterstube. Heute ein kleines Museum in Laugharne. Dylan Thomas schrieb fast zwanzig Jahre am „Milchwald“. Erich Fried übersetzte seinen Genie-Streich auf deutsch.

 

Bei Richard sieht, hört und erfährt man alles über den verlorenen Sohn, der auszog, um in den buntesten Farben das Leben einer Kleinstadt zu beschreiben. Man trinkt ein Pint nach dem anderen, alle gefüllt bis an den Rand. Dylan Thomas könnte hier stehen. Mitten unter uns, gleich nebenan an der Theke. Und zuhören. Er habe sich hier am wohlsten gefühlt, sagen die alten Laugharner. Der Whiskey sei sein treuer Begleiter gewesen. „Ich habe achtzehn Whiskeys getrunken, das ist Rekord“, sollen seine letzten Worte gewesen sein.

Gestorben ist Dylan Thomas im fernen New York. Nach seiner ersten öffentlichen Lesung im „Poetry Center“ Ende Oktober 1953, die ein riesiger Erfolg war, schleppte er das ganze Honorar in seine Stammkneipe. Er feierte, fiel ins Koma. Zwei Tage lang. Und wachte nicht mehr auf. Da war er 39 Jahre alt. Begraben wurde er in seiner Heimat, in walisischer Erde. In Laugharne.

 

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Seit zwanzig Jahren ist der „Milchwald“ im brandenburgischen Netzeband zuhause. Ein Theaterabend mit Stimmen und Puppen voller Poesie.

 

Laugharne hat sich seitdem kaum verändert. Es ist ein kleiner, sympathischer Ort geblieben. Die Menschen sind  eher verschlossen, aber haben das Herz an der richtigen Stelle. In Laugharne gibt es auffällig viele Kneipen, ein Kirchlein und ein Schloss, das schon lange verfallen ist, einen Sparmarkt, dazu Bäcker, Fleischer, zwei Friedhöfe, eine Buchhandlung, mehrere Kunsthandwerkerläden und eine Schule. Doch einmal im Jahr ist die neue „Jahrhunderthalle“, die mit Hilfe von EU-Mitteln in die strukturschwache walisische Randregion verpflanzt wurde, der unbestrittene Mittelpunkt. Dann ist Milchwald-Zeit, dann kommen die Menschen zusammen, um  ihrer Leidenschaft nachzugehen, dem Theaterspiel.

„Wir sind stolz auf unseren Milchwald“, sagen die Laugharner an der Theke, auch wenn wir in vielen Rollen schräg, verrückt oder äußerst wundersam daherkommen. So what! So ist das Leben, so sind wir.“

 

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„Anfangen, wo es anfängt: Es ist Frühling, mondlose Nacht in der Kleinen Stadt. Sternlos und bibelschwarz, die Kopfsteinpflasterstraßen still und der geduckte Liebespärchen- und Kaninchenwald humpelt unsichtbar hinab zur schlehen-schwarzen, zähen, schwarzen krähenschwarzen fischerbootschaukelnden See. “ So beginnt „Unter dem Milchwald“ (Under The Milkwood)

 

Als die Laugharner erfahren, dass ihr Stück in Deutschland in einem kleinen Dorf nicht weit von  Berlin gleichfalls gespielt wird, wundern sie sich. „Nie davon gehört“, sagen die Thekensteher von Laugharne. Aber ihre Augen strahlen. „Das ist doch großartig, das ist wunderbar.“ Männer und Frauen, ob jung oder alt, klopfen uns auf die Schulter und spendieren eine weitere Lage Bier. Wir stoßen auf Dylan Thomas an und feiern bis tief in die bibelschwarze Nacht von Laugharne. Der Ort, in dem der Milchwald zuhause ist.

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