Babylon Berlin – Kalle

Seit ein paar Jahren brummt es wieder im Viertel. Be Berlin. Die Immobilienkäufer fallen aus der ganzen Welt ein. Es sind Schweden, Spanier, Griechen, anyway. „Investieren Sie in die Zukunft! Die Gründerzeit ist zurück!“ Es gilt wieder als angesagt hier zu wohnen. Die Preise schnellen nach oben. Geld sucht optimale Optionen, vermehrt sich in Windeseile. Grundstücke verdoppeln binnen Jahresfrist ihren Wert. Wohnen wird zum Luxus. Schicke Apartments entstehen und stehen leer. An die Scheiben einer funkelnagelneuen Eigentumsresidenz – Motto „Verwirklichen Sie ihre Träume“ – hat ein Unbekannter mit knallroter Farbe gesprüht: „Suche Traumwohnung für unter 200 Euro im Monat.“ Am nächsten Morgen kommt die Polizei. Ein paar Tage später der Fensterreiniger. Aus dem Café gegenüber dudelt der Song: I will survive.

An den Wochenenden bevölkern Touristen das Quartier. Menschen mit klappernden Rollkoffern und festem Blick auf ihre Smartphone-Apps. In ihren Augen das Staunen, dass hier alles so „authentisch“ sei. Dabei sind Bäcker, Buchladen und Schuster verschwunden. Gehalten haben sich Restaurants mit Namen wie Ali Baba, Calcutta oder Reste fidèle. Geblieben sind auch die Parfümerie Sergio und der Ausstatter Berlingold. Nur Dolce Vita scheint vorbei zu sein. Die Boutique verspricht „Wahnsinnsangebote zu unglaublich günstigen Preisen“. Totalausverkauf steht auf roten Werbebannern. An einem Verteilkasten klebt ein Theaterplakat. Dort steht: „Und Gott sprach: Wir müssen reden.“

 

Berlin leuchtet.

 

 

Ich eile die Treppe zur S-Bahn hoch. Kalle winkt mir zu. Sein Stammplatz ist auf dem Absatz zwischen zwei Treppen. Genau hier wartet der Punker auf Kundschaft. Mit Hund, Decke, Bierflasche und Buch. Kalle vertreibt sich die Zeit mit Lesen. Es verkürzt die Wartezeiten und bildet ungemein, erklärt er. Kalle raucht und redet gerne. In seinen Händen hält er ein abgegriffenes Taschenbuch. „Mieses Karma“ steht auf dem Umschlag. Ich frage ihn, worum es in der Geschichte geht. Kalle kratzt sich am Kopf, dreht eine neue Kippe und erzählt den Plot. Die Heldin sei eine attraktive Talkmasterin, die allmählich zu einer kleinen miesen Ameise schrumpft.

Was fasziniert den Berufs-Schnorrer mit den gelb gefärbten Haaren am bösen Karma? Der Roman sei klasse, sagt er. Übersetzt bedeute dies, dass richtige Bösewichte vom Schlage eines Hitler, Stalin oder Erdogan künftig als Darmbakterien Wiedergutmachung leisten müssten. Wäre doch cool, oder? Pause. Passanten hetzen vorbei. Sie haben den Kopf eingezogen, eiligen Schrittes, froh in Ruhe gelassen zu werden.

 

Berlin Art Week. 2017.

 

Der Punker hat seine Werbestrategie geändert. Statt des branchenüblichen „Haste Kleingeld?“ oder „Hey Alter, Du siehst gut aus, Du hast doch sicher ein paar Groschen“, flötet er den Vorbeihastenden zu: „Guten Tag. Sind Sie motiviert, Ihr Geld mit mir zu teilen?“ Einige wenige lächeln. Diese Geldanlageoption klingt wie das Versprechen eines Finanzberaters der Immobilien oder Windräder verticken will.

Da auch die Sharing-Strategie nur bedingt fruchtet, schaut Kalle, der Punker mit Decke, Hund und Buch wieder in sein „mieses Karma“. Dort liest er weiter über bedeutende Menschen, die ganz schnell zu Käfern schrumpfen.  Nun lächelt er. Das Leben ist doch wie ein Roman.

 

 

Fortsetzung folgt

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