Das Wunder von Rossow
Bange machen gilt nicht. Seit 93 Jahren lebt Edith von Jüchen nach diesem Motto. Dieses unerschütterliche Selbstvertrauen verdankt sie ihrem Vater Aurel von Jüchen. Einem adeligen Gottesmann aus Gelsenkirchen. Er war in den Nazi-Jahren im brandenburgischen Rossow Pastor. Tochter Edith sagt: „Trotzalledem. Ich bleibe dabei. Es war die beste und schönste Zeit meiner Jugend.“
November 1938. Edith ist vierzehn Jahre alt als der Nazi-Terror gegen Juden über Deutschland hinwegfegt. Im kleinen Rossow bei Wittstock tauchen am 11. November 1938 angetrunkene SA-Leute in Zivil auf. Es ist ein Samstag, zwei Tage nach den organisierten Pogromen im gesamten Reichsgebiet. Der Kreisleiter aus Pritzwalk feiert Geburtstag und das einzige Judenhaus von Rossow soll sein Geschenk werden. In der Region Prignitz leben noch 21 Juden. Die Berliner Familie Abraham hat in Rossow ihren zweiten Wohnsitz. Scheiben klirren. Dann wirft eine Horde angetrunkener SA-Männer Möbel aus dem Dachfenster. Anschließend ziehen sie hinter das Anwesen und stecken die Sommerlaube an.
An diesem Samstagabend sitzt Pastor Aurel von Jüchen im nahen Pfarrhaus an seiner Predigt. Der furchtlose Mann hatte bereits zuvor als junger Pfarrer in Thüringen angeeckt und war zwangsversetzt worden. Wegen seiner Reden gegen die Nazis. Als von Jüchen das Feuer entdeckt, rennt er los. Er befürchtet Schlimmes. Das Feuer kommt tatsächlich vom Haus der Abrahams – vom Judenhaus. Er wundert sich, dass die Feuerglocke nicht geläutet wird. Tochter Edith: „Mein Vater hat sich furchtbar empört. Warum wird nicht gelöscht?“
Der Pastor versucht die rund zwanzigköpfige SA-Meute zu stoppen. Er weist die Männer darauf hin, dass alle illegalen Aktionen gegen Juden nach dem 9. November vom Reichsinnenminister untersagt worden seien. Das ist uns egal, antwortet der Kreisleiter: „Wir sind das Gesetz.“ Der Pastor eilt in die Dorfkneipe, in der die Rossower beim Samstagabendbier sitzen. Das Anwesen Abraham brennt, ruft er. Das Dorf ist in Gefahr. Die Männer zögern, dann brechen sie auf, um gemeinsam zu löschen.
Die Abrahams aus Berlin sind im Dorf beliebt. An diesem Schreckenssamstag übernachten beide nicht im Dorf. Ehefrau Martha, „deutschblütig“, wie es in den Akten heißt, hat in Rossow Verwandte. Martha ist die Tante des achtjährigen Hans Podorf. Der kleine Hansi muss miterleben, wie die SA-Männer auf dem Grundstück seiner Tante randalieren. Hans Podorf: „ Die Nacht war furchtbar. Ich war wie ein Kind der Abrahams. War oft in ihrer Berliner Wohnung an der Prenzlauer Allee. Ich kannte sie genau.“
Die Abrahams führen einen florierenden Textilbetrieb mit 150 Mitarbeitern. Artur, der jüdische Direktor, erhält noch 1935 das Ehrenkreuz für Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges. Unterschrift: Adolf Hitler. Das alles nutzt nichts. Während sein Haus in Rossow abzubrennen droht, wird der 59jährige Fabrikant am selben Abend in Berlin verhaftet und ins KZ Sachsenhausen verschleppt. Er schreibt später: „Die dort erlittenen Misshandlungen führten zum fast völligen Verlust meines Gehörs.“
In Rossow eskaliert die Situation. Pastor von Jüchen muss flüchten, rettet sich ins Pfarrhaus. Steine fliegen. Wieder klirren Scheiben. Die aufgebrachten SA-Männer beschimpfen ihn als „Judenknecht“ und drohen ihn aufzuhängen. Da geschieht Überraschendes. Die Rossower versammeln sich vor dem Pfarrhaus. Erst die Frauen, später auch die Männer. Aufmerksame Nachbarn hatten bereits die Polizei in Herzsprung alarmiert. Zwei Gendarmen schicken am Ende die SA-Meute nach Hause. Sie erklären, der Reichsinnenminister habe Einzelaktionen gegen Juden strikt untersagt. Das Haus Abraham ist gerettet – und der Pastor auch.
Arthur Abraham wird am 7. Dezember 1938 aus dem KZ entlassen. Gegen Zahlung eines Lösegeldes in Höhe von einer Million Reichsmark. Kurz vor Kriegsbeginn im Sommer 1939 können die Abrahams in letzter Minute nach Australien auswandern. Pastor Aurel von Jüchen hingegen erhält ein Disziplinarverfahren – von seiner Kirchenleitung. Er habe das Dorf gespalten, heißt es. Doch die Rossower stehen einmal mehr zu ihm. Alle unterschreiben eine Petition, nur nicht der Bürgermeister und der Ortsbauernführer. Die beiden Nazis im Dorf.
Diese Unterstützung hat Aurel von Jüchen vor dem KZ gerettet. Für Tochter Edith von Jüchen ist das bis heute – das Wunder von Rossow.
Aurel von Jüchen: „Alle politischen Unrechtsstaaten leben von der Feigheit der Verantwortlichen und von der Verschwiegenheit der Betroffenen. So blieb ich und hielt mich an die in der Kirche geltende Forderung, dass ein Pfarrer seine Gemeinde nicht verlässt.“