„Familienabend“ 4. und letzter Teil

Folge 4:

„Ich fange so langsam an, die liebe Verwandtschaft zu hassen. Letzten zum Beispiel fing Karls Frau an, ob Paul nicht mal ihr Wohnzimmerfenster putzen könne. Sie hätte gar nicht mehr die Kraft dazu.“ Wolfgangs Mutter machte nach, wie gebrechlich ihre Schwägerin plötzlich tat. Selbst ihre Stimme piepste nur noch. „Ist das nicht eine Frechheit? Mein Mann ist selbst alt, schließlich lassen sie nur Rentner, na oder Stasi- bzw. Außenhandelsleute rüber. Da bildet die sich ein, Paul könne ihren Dienstbolzen machen. Ich habe sofort gesagt: Komm Paul, wir gehen! Was denkst Du, wie sich Dein Bruder aufgeregt hat. Wir sollen um Gottes Willen bleiben, seine Frau ist nicht mehr ganz normal. Das dürfe sie nie wieder tun usw.“

„Ich gebe Dir  nächstes Mal einen Eimer Wasser mit“, versuchte Karin zu ulken. Aber der Witz kam nicht an. „Na Scherz beiseite“, lenkte sie ein. „Wir haben im Urlaub auch mal einen kennengelernt, der eigentlich durch und durch Nazi war. Abends beim Skat, als er etliche Bier heruntergekippt hatte und er nicht mehr klar sehen konnte, fing er an Nazilieder zu singen. Und ihm gegenüber saß ein Skatbruder, der für jeden Halbblinden sichtbar sein Parteiabzeichen dran hatte. Aber der hat nichts gesagt, wollte wohl keinen Ärger machen. Worauf ich eigentlich hinaus will, ist folgendes: Dieser Mann, wie gesagt Ex-Nazi heute noch, erzählte mit leuchtenden Augen, das er singend und stolz lieber heute als morgen mit der roten Fahne in Westberlin einmarschieren würde. Dann beteuerte er zehnmal, dass dieser Tag kommt. Daran kann man sehen, wie auch dieser Mann bereits von den Westlern gedemütigt worden sein muss. Ich kenne viele, die denen drüben den Sozialismus gönnen, obwohl sie ihn selbst nicht lieben. So etwas kommt nicht von ungefähr. Wenn man es genau betrachtet, sind die Einzigen, die sich hin und wieder für uns einsetzen, die CDU/CSU-Politiker.“

Ein „Späti“ in der DDR. Alltag im Land der „kleinen Leute“. Foto: Jürgen Hohmuth

Wolfgangs Vater winkte ab, als wollte er sagen: Euch ist nicht zu helfen. Dann kramte er im Zeitungsständer, nahm sich eine „Berliner Zeitung“ heraus und ignorierte die weitere Unterhaltung. Nur hin und wieder, wenn er einen Schluck Kaffee trank, sagte er spöttisch: „Hm, Westkaffee!“

Das Drehbuch für die Gerichtsverhandlung am 14. März 1980 gegen das Ehepaar R. Minister Mielke zeichnete das Papier ab. Wilma erhielt sieben Jahre Haft. Vier Jahre und zwei Monate verbüßte sie. Ihre Texte blieben bis heute unveröffentlicht. Quelle: MfS/BSTU

Wolfgangs Mutter machte ihrem Sohn und der Schwiegertochter mit Zeichensprache verständlich, sie sollten den Opa in Ruhe lassen. Sie wollte nicht, dass er sich ärgere. Derartige Debatten führten nie zu etwas in der Familie. Allmählich merkte Jörg, dass er auch wieder zu Wort kommen durfte. Alle tranken etwas, nur er saß trocken. Seine Oma erlaubte ihm, sich eine Brause aus der Speisekammer zu holen. Ins Zimmer zurückgekehrt, erläuterte der Junge ihr die Hälfte aller Bilder seines Asterix-Heftes. Es kostete sie einige Mühe, ihm bei seiner sprudelnden Erzählung geduldig zuzuhören.

Als sie endlich wieder mit ihrem Mann allein war, nahm sie ihre Tabletten. Die Herzschmerzen setzten ihr zu.“ ENDE

 

Familienabend von Wilma R. Dieser und 18 weitere Texte wurden 1978 vom MfS beschlagnahmt. Vierzig Jahre später werden sie auf dieser Website zum ersten Mal veröffentlicht. Wilma lebt heute zurückgezogen im Ostteil Berlins.

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