1945 – Ein kurzer Sommernachtstraum

Alles neu macht der Mai. Ein beliebter Kinderreim. In diesen Tagen freuen wir uns über jede Lockerung. Vor 75 Jahren war am 8. Mai 1945 ein ganzes Reich untergegangen. In den Ruinen der „Reichshauptstadt“ notierte die Berliner Schriftstellerin Ruth Andreas Friedrich in ihr Tagebuch: „Wie ein Spuk ist das Dritte Reich zerstoben. Mit den Hakenkreuzfahnen ist auch Herr Hitler auf den Abfallhaufen geflogen. Fahr zur Hölle, Führer und Reichskanzler!“ Über die geschundene Stadt legte sich eine bleierne Stille. Kein Geschützlärm mehr, keine Granaten. Aber auch kein Strom, kein Gas oder etwa Wasser aus der Leitung. Merkwürdig nur: Die Nazis waren plötzlich alle verschwunden. Wohin?

Immerhin: Keine drei Wochen nach der Kapitulation – genau am 26. Mai 1945 – blüht in den Ruinen ein erstes kulturelles Pflänzlein auf. Die Philharmoniker bitten zu ihrem ersten Nachkriegs-Konzert in den Steglitzer Titania-Palast. Das Premieren-Programm hat eine klare Ansage: Auftakt mit der Sommernachtstraum-Ouvertüre von Felix Mendelssohn Bartholdy. Dessen Werke waren unter den Nazis zwölf Jahre lang verschwunden, verfemt und verboten. Weiter im Programm folgen Mozart und die Vierte Symphonie von Tschaikowsky. Am Pult steht der 46-jährige Leo Borchard, genannt Andrik. Ein glänzendes Comeback. Das Publikum feiert ihn.

 

Der erste Nachkriegs-Dirigent der Berliner Philharmoniker Leo Borchard. (1899-1945) Foto: Gedenkstätte Deutscher Widerstand

 

Der erste Nachkriegsdirigent der weltberühmten Berliner Philharmoniker ist ein gebürtiger Moskauer. Anfang 1933 dirigierte er als Shooting Star die »Populären Konzerte«. Doch er musste den Dirigentenstab abgeben, wegen »politischer Unzuverlässigkeit«. Leo Borchard tauchte in Berlin ab, lebte fortan gemeinsam mit der Schriftstellerin Ruth Andreas Friedrich im inneren Exil. Er unterstützte still und effektiv die Widerstandsgruppe Onkel Emil, die im südlichen Bezirk Steglitz Verfolgten Schutz bot. Zwölf Jahre lang ein Leben zwischen Bangen, Hoffen und Warten auf einen Neuanfang.

 

Leo Borchard dirigiert Johann Strauß. Eine seltene Aufnahme von 1933.

 

Endlich. Mai 45. Nach Hitlers Ende nehmen die Berliner Philharmoniker Kontakt zu Leo Borchard auf. Er ist ihr Mann für die Zukunft. Andrik steckt voller Pläne, hat tausend Ideen. Noch gilt in Berlin die Ausgangssperre. Am 23. August 1945 bittet der Besatzungs-Offizier Thomas R. M. Creighton Leo Borchard zu einem Abendessen. Der britische Oberst ist ein großer Musikliebhaber. Die Abendgesellschaft plaudert in der Offiziers-Villa im Grunewald über Bach und Mendelssohn. Spät am Abend soll ein Chauffeur den Musiker zurück in seine Wohnung im amerikanischen Sektor bringen. Die damalige Sektorengrenze am Bundesplatz durchfährt der Fahrer ohne anzuhalten. Weisungsgemäß eröffnet der amerikanische Wachtposten das Feuer. Eine Kugel trifft den Dirigenten tödlich. Das tragische Ende eines hoffnungsvollen Comebacks an der Spitze der Berliner Philharmoniker. Die Hoffnung auf einen Neuanfang blieb ein kurzer Sommernachtstraum.

 

 

Diese Mai-1945-Episode findet sich auch in dem sehr empfehlenswerten Buch von Jens Bisky. Berlin. Biographie einer großen Stadt.

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