Der Stellvertreter
Überhaupt das Jackett. Es lag wie immer lose über den Schultern. Wenn er loslegte, redete und gestikulierte, griffen irgendwann die Gesetze der Physik. Es rutschte weg. Nun stand er hemdsärmelig vor dem Publikum. Aber stets betont bürgerlich mit Schlips und Kragen. So provozierte er am liebsten brave Bürgerseelen. Wenn er außer Rand und Band geriet, polterte er zornesrot vom Pult los und schlug beim Abgang alle Türen zu. Rumms! Gestatten, Rolf Hochhuth. Fabrikantensohn aus dem hessischen Eschwege und Wutbürger auf Lebenszeit – auf seine ganz spezielle Art. Bis zum Schluss. Nun trat er im Alter von 89 Jahren ab. Das Herz. Dabei wollte er seinen Neunzigsten unbedingt noch feiern.
Der Vorhang fällt. Der Dramatiker schweigt. Für immer. – Rumms. Ein Frösteln: Erst vor wenigen Wochen hatten wir lebhaft telefoniert. Über die Goebbels-Tagebücher, das Kriegsende vor 75 Jahren, den Fanatismus und Vernichtungswillen der Nazis. Er hatte ein brillantes Vorwort zu den Tagebüchern verfasst. Das deutsche NS-Drama hat Hochhuth ein Leben lang beschäftigt. Der gelernte Buchhändler schrieb geradezu manisch gegen das bundesdeutsche Verdrängen und Vergessen an. 1963 der Durchbruch. Der Knaller war der „Stellvertreter“, sein Theaterstück über das beredte Schweigen des Papstes zum Holocaust. So entfachte er einen wahrhaften Theater-Skandal und landete einen Welterfolg.
Hochhuth brachte 1978 Hans Filbinger zu Fall, den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg. Der ehemalige Nazi-Marinerichter wollte seine Vergangenheit nicht wahrhaben, konterte mit dem legendären Satz, der in die Geschichtsbücher einging: „Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein.“ Filbinger hatte einen 22-jährigen Matrosen wegen geplanter Fahnenflucht zum Tode verurteilt. Er selbst leitete die Erschießung wenige Monate vor dem Ende des Dritten Reiches.
„Wenn ich nicht streiten kann, fehlt mir die Luft zum Atmen. Dann ersticke ich.“ Das raunte er mir einmal während einer langen Buchmessen-Nacht zu, als er sicheren Geleitschutz zu seinem Hotel benötigte. Für mich war der berühmte Dichter wie ein einsamer Wolf, immer auf Jagd. Gegen die Großen, die Mächtigen, die Selbstgerechten. Er legte sich in seinen Stücken mit selbsternannten McKinsey-Göttern, Treuhand-Abwicklern oder linken Kulturpäpsten an. Manches Mal verrannte er sich. Er fühlte eine Seelenverwandtschaft mit dem britischen Historiker David Irving, der später den Holocaust leugnete. Er bekämpfte die Führung des Berliner Ensembles. Dessen damaliger Chef Claus Peymann sagte über Hochhuth trocken: „Ein echter deutscher Dichter – humorlos bis in die Knochen, kampflustig, streitsüchtig“.
In den letzten Jahren rannte Hochhuth Don Quichote-gleich gegen das Vergessenwerden und seine eigene Vergesslichkeit ins Feld. „Bin ich überhaupt gewesen“, seine bange Frage. Als furchtloser Dramatiker wollte er in die Geschichtsbücher eingehen. Wie der junge Schiller. Er sah sich als Stellvertreter des anständigen Deutschlands. „Autoren müssen das schlechte Gewissen der Nation artikulieren, weil die Politiker ein gutes haben.“
In unserem letzten Telefonat drängte er auf einen „baldigen Bericht bei Ihnen im Fernsehen“. Es ging um seine neuesten Pläne. Er wollte in der „Ruine“ des Berliner ICC-Kongresszentrums ein „Museum für neuere Geschichte“ einrichten. Auf meinen Einwand, dass es so etwas bereits gebe, winkte er ab. „Papperlapapp. Ich meinte ein richtiges Museum. Eines für die wirklich wichtigen Geschichten…“