Archive for : Juni, 2020

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Die Hundertjährige hat Fieber

Seit Monaten darben Berlins Nachtschwärmer. Sie verzagen vor verschlossenen Clubtüren. Was völkische Nazis, sittenstrenge DDR-Funktionäre und selbst der Bombenhagel im letzten Krieg nicht schafften, gelingt diesem kleinen, fiesen Covid-19-Virus. Seit Monaten fallen die legendären Kreuzberger Nächte aus oder tummeln sich maximal virtuell im Netz. Abgesehen vielleicht von einigen heimlichen Treffs in illegalen Kaschemmen oder versteckten Hinterhöfen. Manche Clubs flüchten sich in sogenannte Watchparties. Sie heißen zum Beispiel YWO. Das Kürzel steht für Yes, we`re open. Trotz aller Verheißungen von interaktiven, digitalen Dancefloors: Anfassen ist nicht. Knutschen schon gar nicht.

Tugendwächter mag diese Ruhe diebisch freuen. Berlins Clubleben liegt komplett darnieder. Online-Partys sind nun der letzte Notnagel im hauptstädtischen Nachtleben. Nächtliche Partys vor dem heimischen Laptop sind allerdings genau so verheißungsvoll wie eine Kanne Fencheltee. So lustvoll wie kalorienarmer Süßstoff. Oder verlockend wie ein Schlag Haferschleimsuppe. Das Entscheidende fehlt: Die Bühne. Die Arena zum Balzen, Flirten und Glitzern. Die kurzen Momente des Glücks, in denen Sehnsüchte wie Glühwürmchen umherschwirren, bis sie auf dem Heimweg im Morgengrauen verglühen.

 

Berliner Nachtleben vor einhundert Jahren. Erwartungsfrohe Gäste mit Masken in der „Weißen Maus“. Hier flog Anita Berber 1923 aus dem Laden und erhielt Hausverbot.

 

Der Vorhang zum echten, wilden Leben bleibt zu. Wie genau vor hundert Jahren, als die Spanische Grippe wütete. Damals raffte die Pandemie in Europa Millionen Menschen hinweg. Ohne Warn-App, Lock-Down oder besorgte Wutbürger, die an die Kraft kosmischer Strahlen glauben. Über diese Zeit ist wenig überliefert. Die Chronisten berichten lieber über den aufkommenden Berlin-Mythos der Zwanziger Jahre. Die Boheme berauschte sich an „Ausdruckstanz“, Cognac und Morphium.  Alles wurde kürzer: die Haare, die Kleider, die Liebe, der Schlaf. In jedem zweiten Nachtlokal verkaufte die Toilettenfrau den Stoff, so heißt es, der Künstler, Großbürger und Kleinkriminelle am Laufen hielt: Kokain. Klaus Mann notierte: „Früher mal hatten wir eine Armee, jetzt haben wir prima Perversitäten! Laster noch und noch! Kolossale Auswahl! Das muss man gesehen haben!“ Die moderne Großstadt als „Hure Babylon“.

 

 

Der Tanz auf dem Vulkan. Die Ikone der wilden Nächte war Anita Berber. Sie trat im „Wintergarten“, in der „Rakete“ oder im „Toppkeller“ auf, meist vor gutsitierten Gaffern. Sie tanzte bis die letzten Kleidungsstücke und Hemmungen fielen. Es gibt unzählige Anekdoten über diese Königin der Berliner Nächte. Otto Dix verewigte sie als dämonische Diva. Angezogen, im knallroten hochgeschlossenen Kleid. Von Kopf bis Fuß Grand Dame. Geheimnisvoll, gealtert, unnahbar. Der Chef der „Weißen Maus“ soll Anita Berber 1923 vor die Tür gesetzt haben. Sie habe im Rausch einem aufdringlichen Gast eine Flasche Champagner über den Schädel gebraten.

 

So sah Otto Dix die 25-jährige Anita Berber. Er malte sie ganz in Rot und als deutlich ältere Dame. Die Nazis entfernten das Porträt von 1925 als „entartet“ aus dem Nürnberger Museum. Heute ist es im Kunstmuseum in Stuttgart zu sehen.

 

Was aus der Tänzerin des Lasters wurde? Sie starb 1928 an Tuberkulose, krank und vereinsamt im Alter von gerade einmal 29 Jahren. Das Ende der wilden Berliner Lasterjahre nur wenige Jahre später blieb ihr erspart. Ein Finale des Grauens, als in den Clubs „ohne Herzbeschwerden“ noch gelacht und getanzt wurde, so Harry Graf Kessler, während in den Straßen längst Menschen starben. Als die Nationalsozialisten nach der Macht griffen, um im „brodelnden Kessel“, im „Sündenbabel Berlin“ endlich „aufzuräumen“.

Das Sylt-Versprechen

Niemals Alltag, immer Überfluss. Wilde Natur. Frischer Wind. Unbeschwertheit. Sonnenuntergänge. Romantik. Das volle Programm. So soll, so muss Deutschlands schönste und teuerste Insel wohl sein. So lautet das Sylt-Versprechen. Der Name verpflichtet. Sylt ist Sehnsuchtsort. Ein friesisches Ferienparadies mit schicken Villen im weiß-cremigen Hampton-Style, reetgedeckt. Ein exklusives Reichen- und Investorenmekka. Was Long Island für die New Yorker, ist den Deutschen dieser dünne heftig umwehte Inselstrich in der Nordsee.

Für Susanne Matthiessen ist Sylt viel mehr: Kindheit, Jugend, Heimat und Fluchtpunkt. Sie zählt sich zum Inseladel. Geboren bei auflaufender Flut in der inseleigenen Nordseeklinik. Mittlerweile sterben die echten Insulaner aus. Im Januar 2014 wurde die Geburtsstation geschlossen. Matthiessen (Jahrgang 1963) hat die schrillen Boomjahre ihrer Insel hautnah miterlebt. In den wilden Siebzigern sei Sylt „wahrscheinlich gesellschaftlich der lebendigste Ort Deutschlands“ gewesen, schreibt sie in ihrem Roman Ozelot und Friesennerz“. Eigentlich handelt es sich bei ihrem Debüt eher um eine Familienchronik. Eine Innensicht auf eine Insel, deren Geschäftsmodell die Organisation von „Eskapaden“ für Begüterte war. Heute heißt das Events.

 

Die „Goldenen Jahre“, in denen sich in Kampen an der „Buhne 16“ das „reichste, schamloseste und sündigste Strandparadies“ des Wirtschaftswunderslandes angesiedelt hatte. Ein Ort, an dem alles ging und erlaubt war. Hier trafen sich „Kampener Klunkerleute“. Eine Melange aus Geldadel, Alterben und Neureichen. In den Siebzigern kritzelte Vorzeige-Playboy Gunter Sachs Autogramme auf Geldscheine, tafelten die Vertreter von Verlegerdynastien wie Springer oder Augstein bei Fischfiete. Das Kult-Essen der Reichen und Schönen – „Langustinos à la Napoleon 63“. Alles nachzulesen im Sylt-Roman von Susanne Matthiessen.

Aus und vorbei. Heute geht es deutlich diskreter zu. Kampen ist längst eine geschlossene Gesellschaft für Wohlhabende. Mit privater Security aber ordentlich „Tinte auf dem Füller“. In Westerland hingegen versammeln sich Normalsterbliche. Die Durchschnittsurlauber im Friesennerz bilden die Zaungäste für das Treiben des Inseljetsets. Begehrt sind Sitzplätze im Café Orth an der Friedrichstraße. Dort flanieren unablässig „Schenkelschande bis Bauchblamage“ vorbei. Ein Platz zu ergattern sei wie eine Premierenkarte für die Bayreuther Festspiele.

Susanne Matthiessen entwirft fröhlich und frei ein Sittengemälde der Sehnsüchte der Deutschen, von den Siebzigern bis heute. Ihre Eltern führten in Westerland ein traditionsreiches Pelzgeschäft. Ihr Schicksal steht für die Nachkriegsgeneration. Einst galten Pelze als Statussymbol, heute stehen sie für Tierquälerei. Einst behängten aufstrebende Ehemänner ihre Gattinnen mit teurem Ozelot, Luchs oder dem „Oma-Persianer“. Der Husky-Look war übrigens der Renner bei Zahnarztfrauen. Dann klebte der neue Zeitgeist Blut an die Hände von Pelzhändlern. 2007 schloss Pelz Matthiessen für immer.

 

 

„Ozelot und Friesennerz“ ist ein kurzweiliges und unterhaltsames Buch über die Trauminsel der Deutschen. Susanne Matthiessen schaut frech hinter die Kulissen und erzählt aus der Sicht einstiger Strandräuber, wie deren heutige Nachfahren die Insel wie einen Gaul tot reiten, bis er zusammenbricht. Ein Sylt-Buch, das ungeschminkt und doch voll Herzenswärme Glanz und Gegensätze beschreibt. Genau das Richtige für Menschen wie mich, die noch nie auf der Insel waren.

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Auf verlorenem Posten

In engen, scharfen Kurven schlängelt sich die Landstraße auf die Höhen des Thüringer Waldes. Geschafft. Zu sehen ist hier oben leider wenig. Es regnet aus Kübeln. Willkommen in Lichtenhain. Letzter Außenposten der einstigen DDR. Das Tor ist mit einem Schloss gesichert. Im Zaun sind Löcher. Durchs Unterholz klettert es sich kinderleicht in eine versunkene Welt. In das Reich der Grenztruppen der DDR. Grenzkompanie Lichtenhain. Gut zwanzig Kilometer entfernt von der einstigen Spielzeugstadt Sonneberg. Zwischen Birken und Kiefern verstecken sich eine Kaserne mit drei Etagen, Kfz-Garagen, eine ehemalige Hundezwingeranlage und ein Munitionsbunker. Regen prasselt auf die Dächer. Was sonst? Absolute Stille. So sieht wohl das Ende der Welt aus.

 

Nicthts bleibt ewig. Reste der 7. DDR-Grenzkompanie Lichtenhain im Juni 2020.

 

Auf der Höhe von Lichtenhain war die 7. Grenzkompanie des Grenzregiments 15 „Herbert Warnke“stationiert. Benannt nach einem verdienten Altkommunisten. Hier bewachten Soldaten einen hügeligen Abschnitt der 1.393 Kilometer langen innerdeutschen Grenze. Genannt „Staatsgrenze West“ oder „Todesstreifen“. Am Ende war dieses Monstrum ein tödlicher Irrtum der Führenden, die sich nicht anders zu helfen wussten, als ihre Macht durch Stolperdrähte, Stacheldraht und Minenfelder zu sichern. „Es gab Mauertote auf beiden Seiten, es sind auch Grenzsoldaten erschossen worden“, sagte vor kurzem Barbara Borchardt, die neue Verfassungsrichterin in Mecklenburg Vorpommern von den Linken. Dafür erntete sie einen Shitstorm.

Die Aussage ist faktisch zutreffend. Doch aus dem Mund einer ehemaligen SED-Genossin nur zynisch. Der Streit um die Notwendigkeit der Mauer ist Teil einer neu entfachten alten Debatte. Was waren die rund 500.000 DDR-Grenzer, die fast vierzig Jahre lang die Teilung bewachten? Heimatschützer oder Mördertruppe? Keiner musste zur Grenze und sich selbst zum KZ-Wächter machen, erklärte einmal SPD-Chef Willy Brandt. Auch diese Aussage ist ergänzungsbedürftig. Denn die meisten an der Grenze waren junge Wehrpflichtige. Konnten sie den Dienst verweigern? Vielleicht. Auf ihnen lastete jedoch die ganze Last der Verantwortung – mit allen Konsequenzen. Im Ernstfall: Schießen oder laufen lassen?

 

Lichtenhain. 2. Etage des Kompaniegebäudes. Erbaut 1968, geschlossen 1990.

 

Am Beispiel jeden einzelnen Grenzers lässt sich die Beziehung des Individuums zur Diktatur wie in einem Brennglas nachvollziehen. Die kleine Anpassung hatte große Folgen. Das System funktionierte. Bis zum Schluss. An den Wänden eines Schuppens in Lichtenhain lassen sich geheimnisvolle Spuren finden. Graffitis. Krakeleien mit Jahreszahlen, Namensinitialen und versteckten Botschaften. EKs, sogenannte Entlassungskandidaten hinterließen Strichlisten und Daten ihres herbeiersehnten Endes des Grenzdienstes. 1988, 1989, 1990. Jahre, in denen das kleine Land materiell und moralisch erschöpft war. Als der Westen leuchtete und jeder Ostler eine Alternative hatte. Als die große Unzufriedenheit im Sommer 1989 in eine Massenabwanderung mündete.

 

Ein beliebtes Ritual. Strichlisten bis zur Entlassung aus dem Grenzdienst markieren. Spuren in einem Schuppen am Eingangstor der Grenzkompanie Lichtenhain.

 

Am 9. November 1989 errangen die Grenzer in der Stunde der größten Niederlage ihren größten Triumph. Die Nationale Volksarmee schoss nicht auf das Volk. Sie ließ die Menschen selbst entscheiden und öffnete die Tore.

Der Regen will nicht aufhören. Ich erfahre, dass die 1968 errichtete Kaserne von Lichtenhain nach der Wende „Übergangsheim“ und auch mal Jugendherberge war. Seit über zehn Jahren steht der „Komplex“ leer. Der verlorene Außenposten liegt im Dornröschenschlaf mitten im 1.106 Kilometer langen Grünen Band quer durch Deutschland. Demnächst soll dieses Schutzgebiet UNESCO-Welterbe werden. Dreißig Jahre nach der Einheit. Der einstige Todesstreifen als grüne Oase. Nichts ist unmöglich…

 

EK 89 = Entlassungskandidat 1989. Inschrift eines Wehrpflichtigen in Lichtenhain. Manche Wände hüten heimliche Botschaften aus DDR-Tagen.

 

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Amazing Grace

Die Legende kennt jedes Kind in den USA. Kapitän John Newton geriet im Mai 1748 in schwere Seenot. In letzter Sekunde konnte er sich und sein Schiff retten. Das Schicksal meinte es gut mit ihm. Seine Fracht bestand aus Schwarzen, aus Sklaven. Ein einschneidendes Schlüsselerlebnis für den Sklavenhändler. Nach seiner wunderbaren Rettung schwor er, Sklaven als das zu behandeln, was sie sind: Menschen wie du und ich. Die Legende erzählt weiter, dass er später seinen Job an den Nagel hing und Pastor wurde. So schrieb er den Text zu Amazing Grace und bekämpfte fortan die Sklaverei.

 

 

Die Geschichte von diesem Wende-Wunder ist fast dreihundert Jahre alt. Sein Kirchenlied über die „wunderbare Gottes Gnade“ ist Hoffnungs-, Trauer- und Trostlied zugleich. Was hat sich seitdem geändert? Alles? Oder nichts? Im Lied des einstigen Sklavenschiffers John Newton heißt es:

Amazing Grace, how sweet the sound
That saved a wretch like me
I once was lost, but now am found
Was blind but now I see.

Wer rettet die Schufte (wretch) von heute? Die blind sind zu sehen, was in dieser Welt geschieht. Die seit drei Jahrhunderten nichts verstanden, nichts gelernt und nichts begriffen haben. Welches Schlüsselerlebnis brauchen Weltenlenker heute? Welchen Sturm? Welche Seenot? Welchen SOS-Ruf? Dieser Song mag in manchen Ohren kitschig klingen. Wer aber einmal wie ich in Arusha (Tansania), Kapstadt oder New York Upper East Side diesen Gospelsong in überfüllten Kirchen hören durfte, dazu die Begeisterung erlebte, den Stolz, das Selbstbewusstsein gepaart mit der Hoffnung auf eine bessere Welt, der vertraut in die Kraft der Musik, die Mauern zum Einstürzen bringen kann. Manche Mauern sind sehr dick. Da kann es verdammt lange dauern.

Aretha Franklin, der Harlem Gospel Choir, Cory Henry und viele, viele andere singen von der Botschaft niemals aufzugeben, diese wankende Welt in Seenot aus schwerem Wasser zu retten. Amazing Grace. Was für eine wunderbare Antwort auf die Mächtigen in ihren Bunkern.

Amazing Grace, how sweet the sound
That saved a wretch like me
I once was lost, but now am found
Was blind but now I see

Was Grace that taught my heart to fear
And Grace, my fears relieved
How precious did that Grace appear
The hour I first believed

Through many dangers, toils and snares
We have already come
T’was Grace that brought us safe thus far
And Grace will lead us home
And Grace will lead us home

Amazing Grace, how sweet the sound
That saved a wretch like me
I once was lost but now am found
Was blind but now I see.