Archive for : April, 2021

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Am Ende der Welt

Hier ist die Natur weit größer als der Mensch. Und wie! Im hohen Norden befindet sich eine der abgelegensten Gegenden Islands. Das rund dreißig Kilometer lange Tal Flateyjardalur bahnt sich in atemberaubender Schönheit seinen Weg in den Atlantik. Gerade in dieser schwer zugänglichen Region kämpften Generationen von Isländern mit den Gesetzen der Natur. Ein hartes, mühsames und entbehrungsreiches Leben. Bis zu sechs Bauernhöfe wurden noch vor hundert Jahren bewirtschaftet, bis alle aufgaben. Der hier aufgewachsene Schriftsteller Theodor Fridriksson notierte 1944: “Mir geht es nicht aus dem Sinn, wie meine alten Eltern sich totgearbeitet haben, nur um in der Einöde in einer Hütte zu leben”. Im Winter fiel so viel Schnee, dass Sohn Fridriksson einmal die Hütte seiner Eltern nicht mehr fand. Zufällig stieß er beim Suchen mit seinem Skistock gegen den Dachfirst. Er fand seinen Hof erst, als er auf ihm stand.

 

Wie kam Johann Sebastian Bach vor 100 Jahren in den Hohen Norden Islands? Alle Fotos: Dagur Gunnarsson

 

Der Bauernhof Vargsnes befand sich an einer dieser unzugänglichen Buchten, an einem hohen Hang, der steil zum Meer abfiel. Aus der Wohnstube konnte man in den Zwanziger Jahren plötzlich Johann Sebastian Bach hören. Das kam so: Bauer Sigurbjörn erkannte das Talent seiner zehnjährige Sigridur. Sie träumte von einer Orgel. Der Vater machte sich auf und konnte im weit entfernten Husavik tatsächlich ein gebrauchtes Exemplar auftreiben. Er verpackte das gute Stück sorgfältig in eine Kiste, verschiffte die Orgel mit seinem Boot an den Strand von Vargsnes. Doch dann kam die eigentliche Herausforderung. Selbst mit Hilfe seiner herbeigerufenen Brüder war der steile, steinige Pfad zum Hof kaum zu überwinden.

 

Ásbyrgi. Island kann viel über Schönheit und Gefahren der Natur erzählen.

 

“Jeder hält die Kiste an einer Ecke, und immer wieder müssen sie sie drehen, die Seile etwas lösen, die Kiste auf dem Rücken zurechtsetzen, während sie sich durch einen Felsspalt nach dem nächsten zwängen. Mit einer unmenschlichen Kraftanstrengung von Kristjan kamen sie auch hier herum, dann konnte er unter seinem Orgelkasten aufstehen, und so brachten sie die Orgel heim”. So beschreibt der Schriftsteller Thor Vilhjálmsson den mühsamen Transport. Sigridur wurde Organistin, spielte ihren geliebten Bach bis ins hohe Alter. Für Landeskenner Halldor Gudmundsson (Biograf des isländischen Nobelpreisträgers Halldor Laxness) war dieses Konzert ein magischer Moment, als er die alte Dame im Jahre 2000 noch leibhaftig erleben durfte.

 

Autor Hallldor Gudmundsson mit dem (noch fahrbereiten) Jaguar seines großen Vorbildes Halldor Laxness, isländischer Nobelpreisträger für Literatur.

 

Die Geschichte vom Orgeltransport am Ende der Welt ist nur eine von dreißig Episoden aus der Feder von Islands kenntnisreichstem Geschichtensucher Halldor Gudmundsson. Seine Botschaft: Auch am Außenposten der Welt gedeihen seit vielen Jahrhunderten Kultur und Literatur. Man muss nur genau hinschauen. Dank der eindrucksvollen Fotos von Dagur Gunnarsson lädt der neue Bildband in Pandemiezeiten ein, wenigstens mit dem Kopf bis ans Ende der Welt zu reisen. Übrigens: Die Isländer teilen die Deutschen in zwei Gruppen auf: Diejenigen, die schon einmal auf ihrer Insel waren, und diejenigen, die unbedingt einmal dorthin möchten.

 

 

Island. Insel aus Geschichten. Ab dem 27. April 2021 im Buchhandel. Wirkungsvoller Impfstoff gegen Corona-Frust. Einzige Nebenwirkung: Fernweh.

Hat Sahra Recht?

Der Zeitgeist schlägt links. Wirklich? Sahra Wagenknecht sagt Nein. Mit scharfem Schwert rechnet sie in ihrem neuen Buch mit dem rotgrünen Milieu im Lande ab. Der Titel ist eine Kampfansage: Die Selbstgerechten. Auf 334 Seiten attackiert Wagenknecht eine hochmütige Minderheit. Die sich progressiv wähnt, aber die arbeitende Bevölkerung längst vergessen hat. Entsprechend sind die Reaktionen im Netz: Streiterin Sahra wird gehasst wie gefeiert. Das Lager der attackierten „Selbstgerechten“ schimpft sie eine reaktionäre Kommunistin, eine Frau von vorgestern und narzisstische Außenseiterin. „Ohne solche Leute wäre vieles besser“, so der Sound der Wagenknecht-Kritiker.

 

 

Die Bandbreite ihrer Unterstützer hingegen ist überraschend wie kurios. Tenor: Die hasserfüllten Reaktionen zeigten, dass Wagenknecht ins Wespennest gestochen habe. Verrückt. Die einstige Ikone der Kommunistischen Plattform gilt heute als „Stimme der Vernunft“, als Sprachrohr der schweigenden Mehrheit. Am heftigsten geht der Gaul mit der AfD durch. Sie plakatiert in Sachsen-Anhalt: SARAH HAT RECHT! Ein Super-Gau? Für Wagenknecht-Gegner in der eigenen Partei ist die Aktion der definitive Beweis ihrer „Kontaktschuld“ mit Nationalisten. Sind die Selbstgerechten also überflüssig wie ein Kropf?

Als Anhänger der Aufklärung empfehle ich etwas anderes: Ein eigenes Urteil bilden. Wie wäre es mit argumentieren statt moralisieren? Das ist sinnvoller als jedes Twitter-Gewitter. Wagenknechts Kernthese: Die Linken haben die Seiten gewechselt. Sie sind auf die Seite der (neoliberalen) Sieger übergelaufen. Die Verlierer der Globalisierung bleiben draußen vor der Tür. Wagenknecht macht eine neue gutsituierte, linksliberale Klasse aus, die „Lifestyle-Linke“. Diesem akademischen Milieu bedeute Identität mehr als die soziale Situation ihrer Mitmenschen. Mitgefühl mit Unterprivilegierten? Fehlanzeige.

 

 

Das Buch liefert zahlreiche Beispiele. So feierten linksliberale Meinungsmacher im Sommer 2020, dass nach einem erfolgreichen Shit-Storm das Knorr-Produkt Zigeunersauce nunmehr diskriminierungsfrei als „Paprikasauce Ungarische Art“ angeboten wird. Zeitgleich zum Ende der „rassistischen“ Zigeunersauce drohten 550 Mitarbeitern im Knorr-Stammwerk Heilbronn Kündigung bzw. massiver Stellenabbau. Hier rührte sich kein Protest. Reine Symbolpolitik statt Sozialpolitik, poltert Wagenknecht, ein Markenzeichen des neuen linken Zeitgeists.

Original-Ton Wagenknecht: „Der typische Lifestyle-Linke wohnt in einer Großstadt oder zumindest in einer schicken Unistadt und selten in Orten wie Bitterfeld oder Gelsenkirchen. Er studiert oder hat ein abgeschlossenes Universitätsstudium und gute Fremdsprachenkenntnisse, plädiert für eine Post-Wachstums-Ökonomie und achtet auf biologisch einwandfreie Ernährung. Discounterfleisch-Esser, Dieselauto-Fahrer und Mallorca-Billigflugreisende sind ihm ein Graus.“

 

 

Die promovierte Ökonomin plädiert für den Nationalstaat. „Nationale Identität“ definiert sie „kulturell und historisch, aber nicht genetisch“. Der diffamierte Nationalstaat sei der einzige Garant für einen funktionierenden Sozialstaat. Die EU habe bewiesen eine schöne Vision ohne Bodenhaftung zu sein. Brüssel ignoriert die realen Sorgen und Nöte der Menschen. Und die 51-jährige zerlegt  in einem ganzen Kapitel analytisch fundiert „die wunderbare Erzählung von der Migration als großen Freiheitsgewinn und Vorteil für alle Seiten“. Zum Beifall der AfD, zum Ärger der Linken.

Wagenknechts Fazit: Die richtige Gesinnung – oder Neusprech: Haltung – wiegt schwerer als das Richtige zu tun. „Den Mindestlohn zu erhöhen oder eine Vermögenssteuer für die oberen Zehntausend einzuführen ruft natürlich ungleich mehr Widerstand hervor, als die Behördensprache zu verändern, über Migration als Bereicherung zu reden oder einen weiteren Lehrstuhl für Gendertheorie einzurichten“.

Hat Sahra Recht? Fährt der Zug gerade in die komplett falsche Richtung? Wagenknechts Streitschrift liefert provokativen Stoff zum Überprüfen der eigenen Meinungen und Überzeugungen. Es empfiehlt sich das ganze Buch zu lesen. Und nicht vorschnell als Nazi-Müll zu disliken. Die Lektüre lohnt sich. Gesalzen und gehaltvoll wie eine „Paprikasauce Ungarische Art“. Guten Appetit.

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Der morbide Charme der Vergänglichkeit

Zu den Riesen von Rüdersdorf geht es einen Kanal entlang, dann steil die Uferböschung hoch, durch ein kleines Loch im Zaun. Plötzlich öffnet sich eine andere Welt. Wie Dinos ragen gigantische Hallen, Ruinen, Silos und Schornsteine in den märkischen Himmel. Willkommen im Jurassic-Park einer untergegangenen Epoche. Auf zu einem Abenteuerspielplatz für Entdecker, Filmteams, Graffiti-Sprayer und Sonntagsausflügler. Rüdersdorf ist gerade mal rund vierzig Kilometer östlich vom Alexanderplatz entfernt. Ein Symbol für das Verfallsdatum eines ganzen Industriezeitalters mit Zementwerken, historischen Schachtofenbatterien und einem Volkseigenen Chemiegiganten.

 

Die Reste des Futtermittelwerks. Das VEB Glühphosphatwerk Rüdersdorf exportierte Düngemittel gegen Westdevisen. 1999 stillgelegt.  Alle Fotos von Ende März 2021.

 

Apropos: Augen auf. Versteckt lauern Löcher und Stolperstellen. Rüdersdorf 2021 ist ein Sammelsurium aus rostigen Ruinen, geborstenen Rohren, Scherben, Stahl, Schrott, Schutt, Schienen, Loren, verbogenem Metall, Müll aller Art, Öfen, Rückhalte-Becken mit undefinierbarer Flüssigkeit, Spraydosen, Sackkarren und heruntergefallenen Ziegeln. Alles ist vergänglich, will Rüdersdorf wohl sagen. Am Anfang stand eine Kalkgrube. Aus dem abgebauten Kalkstein wurde der berühmte Rüdersdorfer Zement gebrannt. Von 1876 bis 1967 brannten 18 Öfen für die neue Hauptstadt. Rund um die Uhr. Vier Zementwerke gab es, eines ist noch in Betrieb. Das hatte Folgen. Ende der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts war die Natur in der Umgebung eine weiß-graue, verkalkte Mondlandschaft. Auf Bäumen, Pflanzen und Häusern lag eine zentimeterdicke Staub- und Rußschicht.

 

Kathedralen der Kalkverarbeitung. In 18 Rumfort-Öfen wurde der Zement für den Bauboom in Berlin gebrannt.

 

Graffitis, Tanks und Kriegskulisse. Im Innern der Ruinenlandschaft von Rüdersdorf.

 

Der andere Industrieriese, das gigantische VEB Glühphosphatwerk Rüdersdorf, produzierte ab Anfang der sechziger Jahre Düngemittel. Bevorzugt für den Westen. „Rükana“ war ein Devisenbringer. Ökologie hingegen ein Fremdwort. Pro Jahr  setzte das Chemiewerk 200.000 Tonnen Schwefelsäure frei. Es muss die Hölle auf Erden gewesen sein. Als die DDR 1989/90 kollabierte, übernahm ein Investor das Phosphatwerk, scheiterte und hinterließ gewaltige Altlasten, die bis heute im Erdreich stecken. Seit der Stillegung im Jahre 2000 dient das Gelände als Kulisse für Kriegsfilme. „Monument Men“, „Inglorious Bastards“ oder „Unsere Mütter, unsere Väter“ wurden in den Ruinen gedreht. Rüdersdorf verwandelte sich wahlweise in Stalingrad oder in die Schlacht um Berlin. Hollywood in der Mark Brandenburg.

 

So weit das Auge reicht. Der noch aktive Kalk-Tagebau von Rüdersdorf. 2062 soll Schluß sein.

 

Übrigens: Kalk wird im angrenzenden Tagebau weiter abgebaut. Über riesige Förderbänder wandert der Kalk in ein neueres Zementwerk. So speist Rüdersdorfer Zement auch heute noch das boomende Berlin wie einst in der kaiserlichen Gründerzeit. Bis ins Jahr 2062 reichen die Kalkvorräte. Dann ist endgültig Schluss. Die riesigen Kraterflächen sollen bis 2077 geflutet und rekultiviert werden. Es ist spannend in Rüdersdorf zu erleben, wie sich die Natur in den letzten Jahren augenscheinlich erholt hat. Kaum zu glauben, aber die Wunden der letzten 150 Jahre scheinen zu heilen. Am Ende bleibt eine einfache Wahrheit. Wir brauchen die Natur. Aber die Natur braucht uns nicht.

 

Der morbide Charme der Vergänglichkeit. Die leere Produktionshalle des ehemaligen Futtermittelwerks.

Der Museumspark Rüdersdorf mit geführten Touren ist eine Reise wert. Sehr zu empfehlen.

 

 

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Brot ist Leben

Was muss in ihr vorgegangen sein? In der Todesstunde, gegen Mitternacht in Berlin-Plötzensee. Wir wissen es nicht. Margarete Elchlepp starb „im Namen des Volkes“ einsam unter dem Fallbeil. Ihr Verbrechen: Sie hatte kurz vor Kriegsende mit Hunderten anderen hungernden Menschen in Berlin-Köpenick Brot verlangt. Die Hausfrau starb am 8. April 1945 um 0.45 Uhr. Genau wie ihr Leidensgenosse Tischlermeister Max Hilliges. Die beiden Köpenicker wurden als „Rädelsführer“ wegen „Landfriedensbruchs, Plünderns und Wehrkraftzersetzung“ enthauptet. Auf Befehl von „Reichsverteidigungskommissar“ Joseph Goebbels. Ermöglicht durch einen fanatischen NS-Ortsgruppenleiter, denunziert von Hitler-treuen Frauen aus der Nachbarschaft. Das grausame Ende des Brotaufstands von Rahnsdorf: Drei Todesurteile, zwei vollstreckt. Eine Frau wurde in letzter Minute zu acht Jahren Zuchthaus begnadigt, weil sie Mutter von drei Kindern war. Hingerichtet für ein Stück Brot, vier Wochen vor dem Ende des Dritten Reiches.

 

Magarete Elchlepp (1899-1945) Ihren Wunsch nach Brot musste sie am 8. April 1945 um 0.45 Uhr mit dem Leben bezahlen. Foto: Familiennachlass Elchlepp

 

Freitag, 6. April 1945. Im beschaulichen Berliner Vorort Rahnsdorf am Müggelsee verbreitet sich am Vormittag ein Gerücht. Brot gibt es nur noch für NS-Mitglieder! Hunderte Köpenicker eilen zu den drei Bäckern des Ortes. Frauen, Kinder, Alte. Zwei Bäcker zeigen Herz und verteilen das Brot zu 50,- Pfennig das Stück. Beim zentralen Bäcker an der Fürstenwalder Allee eskaliert die Situation. Das nazitreue Bäckerspaar weigert sich Brot an die Bevölkerung abzugeben. Der alarmierte Ortsgruppenleiter Hans Gathemann droht mit gezogener Waffe zu schießen, kann aber nicht verhindern, dass Brot den Besitzer wechselt. Es gibt Wortgefechte. Der in der Bäckerei mit Reparaturen beschäftigte Tischlermeister Max Hilliges sagt zum 52-jährigen NS-Funktionär: „Gib den Frauen doch Brot“. Und: „Deinen Rock wirst Du bald ausziehen müssen“.

 

Die ehemalige Bäckerei Deter in Berlin-Rahnsdorf vor der Sanierung. Links unter der Hausnummer ist die noch nicht enthüllte Gedenktafel von 1998 zu erkennen. Sie verschwand nach der Renovierung vor ca. fünf Jahren.

 

Margarete Elchlepp soll in der Menge vorne gestanden haben. Was sie genau getan oder gesagt hat, ist unbekannt. Laut Kripoakten soll sie „vermittelt haben“. Sie habe jedoch „unumwunden zugegeben, Brot genommen zu haben“. Schließlich gelingt es NS-Mann Gathemann, die wütende Menge zu vertreiben. Nun nehmen die Nazis Rache. Frauen aus der Umgebung notieren Namen auf einem Stück braunem Papppapier. Gathemann meldet die Beteiligten der Gestapo. Am selben Abend werden 15 Rahnsdorfer verhaftet und zum Polizeipräsidium am Alexanderplatz gebracht. Am folgenden Tag verurteilt ein Standgericht Max Hilliges (56), Margarete Elchlepp (45) und Gertrud Kleindienst (36) als „Rädelsführer“ zum Tode.

 

Max Hilliges. (1891-1945) Auch der Tischlermeister musste sterben, weil er es wagte, dem NS-Ortsgruppenleiter zu widersprechen. Foto: Gedenkstätte Deutscher Widerstand

 

Drei Stunden nach dem Urteil muss Margarete Elchlepp im Gefängnis Plötzensee ihre letzte Habe abgeben. Ein paar Halbschuhe, drei Taschentücher, zwei Halstücher und ein Wintermantel. Sie kann nicht einmal mehr quittieren. Ein rotes Kreuz wird nachträglich markiert. Es bedeutet Hinrichtung. Der Henker muss in der Nacht extra wegen der „Brotaffäre“ kommen. So dringend war Joseph Goebbels das Abschreckungsurteil, dass er den nächsten regulären Hinrichtungstermin am 10. April 1945 nicht abwarten wollte. In seinem Tagebuch notiert er: „So muss man vorgehen, wenn man in einer Millionenstadt Ordnung halten will. Und die Ordnung ist die Voraussetzung der Fortsetzung unseres Widerstandes.“

 

Das sog. Kammerbuch von Plötzensee. Eintrag Margarete Elchlepp vom 8. April 1945, ca. 0.30 Uhr. Kurz vor der Hinrichtung wurde ihr die letzte Habe abgenommen und genauestens protokoliiert.

 

Viele Jahrzehnte wurde das „Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung“ vergessen und verdrängt, so Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Erst 1998 wurde eine (fehlerhafte) Gedenktafel am Haus der Bäckerei angebracht. Diese verschwand nach einem Eigentümerwechsel. Was wir mittlerweile wissen: NS-Ortsgruppenleiter Gathemann wurde laut Moskauer Akten von einem Sowjetischen Militärtribunal zum „Tode durch Erschießen“ verurteilt. Ob das Urteil vollzogen wurde, war bislang nicht zu erfahren. Eine der Frauen aus der Nachbarschaft wurde 1953 in der DDR zu sechs Jahren Zuchthaus „wegen Denunziation“ verurteilt. Sie saß fünf Jahre unter anderem im Frauengefängnis Hoheneck.

Familie Elchlepp sprach nur im engsten Familienkreis über das Schicksal Margaretes. Der heute 83-jährige Dietrich Elchlepp:„Ich erinnere mich als kleiner Bub, wie unsere Familie nur ganz leise über den Tod meiner Tante sprach. Mit Entsetzen in den Augen. Man wollte es einfach nicht glauben.“ Der ehemalige Europarlamentarier aus Denzlingen bei Freiburg schaut mich an: „Mir wird heute noch schlecht. Ich kann mir das richtig vorstellen. Es geht mir unheimlich nahe. Diese Unverhältnismäßigkeit. Für einen Laib Brot, Kopf ab.“ Dietrich Elchlepp ist eine Sache noch wichtig: „Wenn Herr Gauland von der AfD im Bundestag sagt, die NS-Zeit sei in der Geschichte Deutschlands nur ein Vogelschiss gewesen, dann sage ich ganz klar. Das war kein Vogelschiss. Das war die Ermordung der Margarete Elchlepp und vieler Hundertausende anderer.“

 

Margarete Elchlepp 1936. Die gebürtige Brandenburgerin aus Müncheberg war mit dem Steglitzer Textilkaufmann Walter Elchlepp verheiratet. Dieser stellte nach dem Krieg Anträge auf Entschädigung. Sie wurden abgelehnt. Foto: Familiennachlass Elchlepp

 

Margarete Elchlepp aus Berlin-Rahnsdorf wurde 45 Jahre alt. Seit Jahren wird versprochen, eine neue Gedenktafel an der Bäckerei anzubringen.