Der morbide Charme der Vergänglichkeit
Zu den Riesen von Rüdersdorf geht es einen Kanal entlang, dann steil die Uferböschung hoch, durch ein kleines Loch im Zaun. Plötzlich öffnet sich eine andere Welt. Wie Dinos ragen gigantische Hallen, Ruinen, Silos und Schornsteine in den märkischen Himmel. Willkommen im Jurassic-Park einer untergegangenen Epoche. Auf zu einem Abenteuerspielplatz für Entdecker, Filmteams, Graffiti-Sprayer und Sonntagsausflügler. Rüdersdorf ist gerade mal rund vierzig Kilometer östlich vom Alexanderplatz entfernt. Ein Symbol für das Verfallsdatum eines ganzen Industriezeitalters mit Zementwerken, historischen Schachtofenbatterien und einem Volkseigenen Chemiegiganten.
Apropos: Augen auf. Versteckt lauern Löcher und Stolperstellen. Rüdersdorf 2021 ist ein Sammelsurium aus rostigen Ruinen, geborstenen Rohren, Scherben, Stahl, Schrott, Schutt, Schienen, Loren, verbogenem Metall, Müll aller Art, Öfen, Rückhalte-Becken mit undefinierbarer Flüssigkeit, Spraydosen, Sackkarren und heruntergefallenen Ziegeln. Alles ist vergänglich, will Rüdersdorf wohl sagen. Am Anfang stand eine Kalkgrube. Aus dem abgebauten Kalkstein wurde der berühmte Rüdersdorfer Zement gebrannt. Von 1876 bis 1967 brannten 18 Öfen für die neue Hauptstadt. Rund um die Uhr. Vier Zementwerke gab es, eines ist noch in Betrieb. Das hatte Folgen. Ende der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts war die Natur in der Umgebung eine weiß-graue, verkalkte Mondlandschaft. Auf Bäumen, Pflanzen und Häusern lag eine zentimeterdicke Staub- und Rußschicht.
Der andere Industrieriese, das gigantische VEB Glühphosphatwerk Rüdersdorf, produzierte ab Anfang der sechziger Jahre Düngemittel. Bevorzugt für den Westen. „Rükana“ war ein Devisenbringer. Ökologie hingegen ein Fremdwort. Pro Jahr setzte das Chemiewerk 200.000 Tonnen Schwefelsäure frei. Es muss die Hölle auf Erden gewesen sein. Als die DDR 1989/90 kollabierte, übernahm ein Investor das Phosphatwerk, scheiterte und hinterließ gewaltige Altlasten, die bis heute im Erdreich stecken. Seit der Stillegung im Jahre 2000 dient das Gelände als Kulisse für Kriegsfilme. „Monument Men“, „Inglorious Bastards“ oder „Unsere Mütter, unsere Väter“ wurden in den Ruinen gedreht. Rüdersdorf verwandelte sich wahlweise in Stalingrad oder in die Schlacht um Berlin. Hollywood in der Mark Brandenburg.
Übrigens: Kalk wird im angrenzenden Tagebau weiter abgebaut. Über riesige Förderbänder wandert der Kalk in ein neueres Zementwerk. So speist Rüdersdorfer Zement auch heute noch das boomende Berlin wie einst in der kaiserlichen Gründerzeit. Bis ins Jahr 2062 reichen die Kalkvorräte. Dann ist endgültig Schluss. Die riesigen Kraterflächen sollen bis 2077 geflutet und rekultiviert werden. Es ist spannend in Rüdersdorf zu erleben, wie sich die Natur in den letzten Jahren augenscheinlich erholt hat. Kaum zu glauben, aber die Wunden der letzten 150 Jahre scheinen zu heilen. Am Ende bleibt eine einfache Wahrheit. Wir brauchen die Natur. Aber die Natur braucht uns nicht.
Der Museumspark Rüdersdorf mit geführten Touren ist eine Reise wert. Sehr zu empfehlen.