Archive for : Juni, 2021

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Fuggern

„Die wahre Lebenskunst besteht darin, im Alltäglichen das Wunderbare zu sehen.“ Maklerpoesie vom Feinsten. Wer in Großstädten eine bezahlbare Bleibe sucht, wird im Alltäglichen schnell auf den Boden geholt. Im Herzen Kreuzbergs“ ist mittlerweile eine 4-Zimmer-Altbauwohnung mit 165,81 Quadratmeter für4642,68 Euro kalt zu haben. Das ergibt eine Warmmiete von 5062,68,- pro Monat.  Kein Wunder, dass weniger Betuchte wie in Berlin dem Mietendeckel nachtrauern (hat nicht funktioniert) oder dreihunderttausendfach eine Initiative zur Enteignung von großen Wohnungskonzernen unterstützen. (soll im September 2021 per Volksentscheid entschieden werden). Doch es geht auch anders. Ganz anders zum Beispiel in Augsburg.

 

Seit 500 Jahren erfolgreicher sozialer Wohnungsbau. Die Fuggerei in Augsburg. Quelle: Wikipedia

 

In der Fuggerei in Augsburg gibt es die einmalige Chance für einen rheinischen Gulden = 88 Cent im Jahr eine Sozialwohnung zu mieten. Günstiger geht es wirklich nicht. Hinzu kommen noch pro Monat rund 85 Euro Betriebskosten. Das ist der Preis für eine rund 60qm große Wohnung mit kleinem Garten, separatem Eingang und einer mechanischen Türglocke wie zu Opas Zeiten. Dieser traumhafte Niedrigpreis gilt seit genau 500 Jahren. Am 23. August 1521 führte Jakob Fugger der Reiche – „ein langer rainer herr, hips und frölich von andlit“ – den ältesten Mietendeckel der Welt ein, in der älteste Sozialsiedlung der Welt.

Familie Fugger machte ihr Geld mit Tuche, Textilien, Südfrüchten, Juwelen und Gewürzen. Die Fuggers finanzierten Kriege und kassierten beim päpstlichen Ablasshandel bis zu 3% Provision. Eine geschäftstüchtige Familie. So eine Art Amazon des Mittelalters. Allerdings hatte die Familie ein Herz. Die Armut in deren Blüte-Zeit  war groß. Jeder zweite Augsburger zählte im 16. Jahrhundert zu den Habenichtsen. Also ließ Jakob der Reiche ab 1516 eine Siedlung bauen: Für kleine Handwerker, Tagelöhner, kinderreiche Familien und auch einen gewissen Franz Mozart. Der einfache Maurer war übrigens der Urgroßvater des späteren Maestros Wolfgang Amadeus Mozart.

Die Aufnahmebedingungen für eine der 142 Wohnungen in 67 Häusern sind immer noch dieselben wie vor 500 Jahren. Wer in die Fuggerei einziehen will, muss Augsburger und katholisch sein. Und: Er oder sie muss bereit sein, dreimal täglich ein Vaterunser, ein Glaubensbekenntnis für den Stifter Jakob und die Stifterfamilie Fugger zu absolvieren. Ob die tägliche Lobpreisung noch kontrolliert wird, ist unbekannt.

 

Tagsüber (wieder) Touristenmagnet. Abends Stille mit Rad und Brunnen. Das Tor zur Fugger-Siedlung wird um 22 Uhr verschlossen. Quelle: Wikipedia

 

Derzeit wohnen etwa 150 bedürftige Augsburger für eine Jahres(kalt)miete von 88 Cent in der Fuggerei. Subventioniert von den Fugger-Stiftungen, die ihr Vermögen mit Immobilien und Waldbesitz machen. Kein Wunder: Die Bewerberliste hat sich in den letzten Jahren mehr als verdoppelt. Zum diesjährigen Jubiläum planen die Fugger-Stiftungen ein „Next 500“. Ihre Idee von günstigen Sozialwohnungen soll weltweit Schule machen. Wäre das nicht die „wahre Lebenskunst“, die „im Alltäglichen das Wunderbare“ sieht? Wohnen ohne Monatsmieten, die Menschen jede Luft zum Atmen nimmt.

 

 

Fuggern wäre doch ein Plan. Wenn es sein muss, auch mit einem täglichen Dankesseufzer „Vater unser, dein Reich komme, im Himmel wie auf Erden…“

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Einen alten Baum…

… verpflanzt man nicht. Sagt der Volksmund. Ben Wagin ist 91 Jahre alt. Knorrig, nicht mehr ganz knackig. Doch im Denken, Fühlen, Handeln kreativer als die meisten der jüngeren Nachgeborenen. Ben ist eine echte Berliner Pflanze. Baumpate, Bildhauer, Lebenskünstler, Maler und unermüdlicher Kämpfer Er duzt jede(n), egal ob be-porschter Makler, mächtiger Minister oder tatendurstige Feministin. Ben ist sauer. Mächtig sauer. Sein letztes großes Wandbild soll weg. Und zwar flott. Zum 30. Juni 2021. Da ist nicht mehr viel Zeit. Die bittere Pointe: Sein Weckruf für mehr Umweltschutz aus den Achtzigern soll weichen – im Namen des Umweltschutzes. Die schwarzbraune verrußte Ziegelwand erhält einen neuen Dämmputz.

 

 

„Wir trinken was wir pinkeln!“ Wie oft habe ich am S-Bahnhof Savignyplatz auf seinen Weltenbaum II geschaut? Ich kann es nicht mehr zählen. Meistens so lange, bis die nächste Bahn kam und mich nach Berlin-Mitte beförderte. Sein Werk ist 105 Meter lange Kunst. In der Mitte ein Riesenbaum mit Ästen, züngelnder Schlange, verzweifelten Gesichtern, Trauernden, Toten, dazwischen ein Mädchen, das lächelt. „Idealisten sind immer in der Gefahr/An ihrem Idealismus zugrunde zu gehen.“ Schiller grüßt. Wagin schrieb es in den achtziger Jahren an die Wand, als die Züge seltener fuhren, als die Mauer die Stadt noch stabil teilte.

 

Weltenbaum II. Detail. Berlin. S-Bahnhof Savignyplatz.

 

„Die Natur braucht uns nicht, aber wir brauchen die Natur.“ Seinen Satz auf seinem riesigem in die Jahre gekommenen Wandbild hat sich mir eingebrannt. Ob die Smartphone-Generation Wagins Botschaften noch wahrnimmt? Heute heißt auf den Zug warten, aufs Gerät starren und subito zum nächsten Bild wischen. Was man verpasst? DenWeltenbaum II, 2013 komplett saniert. Das Wagin-Gesamtwerk verbindet bekannte Künstler wie Beuys, Grass oder Frida Kahlo, schlägt eine Brücke von den Nazi-Jahren 1933 bis 1945 bis zur Umweltzerstörung unserer Tage. Wagins Werk soll nun „irgendwie“ gerettet werden. Nach Vorstellungen von Investoren und mancher Politiker am besten im Internet. Als Instagram-News. Dann sehen es die Menschen vielleicht wieder.

 

Alt wie ein Baum. Der Putz fällt ab. Im Namen des Umweltschutzes soll der Umweltbaum weg. Frist des Investors bis 30. Juni 2021.

 

Alt wie ein Baum. Ben Wagin hat in seinem langen Leben an die 50.000 Bäume gepflanzt. Als Junge musste er am Ende des II. Weltkrieges aus den ehemaligen Ostgebieten nach West-Berlin flüchten. Der Großvater gab ihm eine Lebensweisheit mit: „Egal, was kommen wird, die Bäume werden zu dir sprechen.“ Wenigstens sein bekanntes Parlament der Bäume am Reichstag genießt Denkmalschutz. Was wird nun aus seinem großen Lebenswerk? Ein Umpflanzen des Weltenbaums ist kaum möglich, dem Künstler fehlt das Geld und mit seinen 91 Jahren vielleicht auch die Kraft. Ob sein Werk auf Dämmschutzplatten gepinselt werden kann? Kaum vorstellbar. Der ewigjunge Ben Wagin zitiert einen anderen alten, sperrigen Idealisten: Ernst Jünger. „Bruder Mensch hat uns schon oft verlassen. Bruder Baum nie.“

 

Weltenbaum II. Detail. S-Bahnhof Savignyplatz.

 

Weltenbaum II ist noch zu sehen am S-Bahnhof Savignyplatz. 24/7. Eintritt frei. Soundtechnisch untermalt von der Berliner S-Bahn.

Alles so schön bunt hier

Als die Computer das Laufen lernten, bauten deren Hersteller für ihre neuen Wunderwerke ganze Paläste. So auch die Stadt Leipzig für ihr VEB-Datenverarbeitungszentrum. Wir schreiben das Jahr 1986. VEB steht für Volkseigener Betrieb. Auf den schwarzen Monitoren der neuen Robotron-Kisten flackern grüne Buchstaben, Zahlen und Männchen. Eine bessere Welt ist das Versprechen. Schneller, effektiver und natürlich sicherer. Das Datenzentrum etablierte sich vis-à-vis vom Sitz der Staatssicherheit. Die Wende bescherte das Ende der volkseigenen Datenerfassung. Längst ist hier die G2 Kunsthalle beheimatet. Dieser spezielle Ort ist wie geschaffen für einen Maler wie Norbert Bisky. Der gebürtige Leipziger will wissen, was aus dem Geist wurde, der einst so vielversprechend aus der Flasche fluppte.

 Bisky nennt diese schöne neue Welt Disinfotainment. Die neue Medienwelt ist für ihn ein Alltag aus Überinformation, Unterhaltung und Desinformation. Trollfarmer (2021) zeigt beispielsweise in bunten Popfarben einen jungen Mann, der völlig versunken vor seinem Gerät nicht einmal den Stinkefinger bemerkt. Bisky reizt das Zeitgeist-Phänomen der Internetsucht, genannt „Doomscrolling“. Gemeint sind Menschen, die unentwegt nach neuen Katastrophen, Clips und Kontakten jagen. Immer auf dem Sprung, stets getrieben von der Angst etwas zu verpassen. Die Apokalypse auf dem Schirm, beschleunigt durch die Einsamkeit in der Quarantäne der Corona-Pandemie. „Ich finde das krass, was da gerade passiert.“

 

 

Das Surfen im Netz als Jagdrevier der einsamen Herzen. Freiwillig folgen sie der Macht der Algorithmen. Sie scrollen durch Kammern der Selbstinszenierung, flanieren abgestumpft in Emotionsblasen aus Hass und Hetze. Bisky zeigt uns Menschen im freien Fall. Es gibt kein Halt mehr. Hurra, die Welt geht unter. Einer von Biskys jungen schönen einsamen Männern heißt Pascal. Kein Zufall. Pascal ist die physikalische Einheit für Druck. Bisky sagt, reale Konflikte werden längst virtuell ausgetragen. So gebe es mittlerweile genügend Menschen, die glaubten, «Probleme wie den Nahostkonflikt auf Instagram zu lösen».

 

 

Mit seinen Ölbildern und Installationen aus Computerschrott der volkseigenen DDR-Achtziger reitet Bisky wie einst Don Quichote gegen die Windmühlen unserer Zeit. Die modernen Räder drehen sich in Echtzeit. Schneller als je zuvor. Das Netz verspricht  Abwechslung, Entertainment und die neuesten News. Bis zum Burnout auf Krankenschein. Bisky stellt die richtigen Fragen. Wie gehen wir mit Überreizung, innerer Unruhe und einer nicht mehr zu stoppenden Bilderflut um? Schnelle Antworten gibt es in Leipzig nicht. Aber viele Denkanstöße.

Norbert Bisky
„Disinfotainment“
G2 Kunsthalle, Leipzig
Bis 26. September 2021

Mein Land, dein Land, unser Land

Nennen wir sie Jana. Jana ist vierzig Jahre alt. Aufgewachsen in einer ostdeutschen Kleinstadt, arbeitet und lebt sie im Südwesten der Republik. Jana verspürt manchmal Heimweh. Sie ist mittlerweile genauso alt wie der kleine Staat mit den drei Buchstaben DDR, in den sie 1981 hineingeboren wurde. Jana lernte den Pioniergruß und das nur die Gemeinschaft zählt. Als sie neun wurde, änderten Eltern, Lehrer und Erwachsene die Tonlage, warfen ihr altes Leben wie Trabis und die Bitterfelder Schrankwand auf die Müllhalde. Das Alte, Morsche, Verkommene ist tot. Es lebe die Neue Zeit.

 

 

Jana bekam nach 1990 neue Schulbücher, machte ein neusprachliches Abitur. Sie verließ ihre kleine Welt, in der alles atemlos stillstand, suchte westwärts das versprochene Paradies. Sie studierte in einer schmucken Universitätsstadt, entdeckte ein verwirrendes System von Möglichkeiten. Ihr offenbarte sich ein Land voller Abfahrten, Umgehungsstraßen, Bau- und Supermärkten, Tankstellen, Reihenhäusern und schicken Villenvororten, versteckt hinter meterhohen Buchenhecken und gesichert durch dezente Videoanlagen. Keine Orte zum Verweilen. Auf ihren gelegentlichen Berlin-Touren erlebte Jana Castorfs Volksbühne, Christos eingepackten Reichstag, Filme von Quentin Tarantino oder David Lynch.

Jana absolvierte ihren Master in Landschaftsplanung, lernte rasch, dass Investoren zu viele Grünflächen nicht mögen, weil sie die Betriebskosten erhöhen. Sie spürte, dass man über Geld nicht spricht sondern einfach hat. Wer arm ist, hat eben Pech gehabt. Der Zeitgeist lehrte: Wer öffentliche Kassen plündert, ist bestens geeignet am Ende Inventur zu machen. CumEx, Wirecard oder Maskenvermittler zeigen bis heute, wie es geht. Sie traf Menschen, denen es an nichts fehlt außer an Bescheidenheit. Dafür pflanzte die neue Zeit ein Netz an Antidiskriminierungsbeauftragten, veränderte die Sprache und erklärte Diversity zum Menschheitsideal und Fortschritt.

 

Unbekannter Osten. Gesehen in Waren an der Müritz. Mecklenburg-Vorpommern. 2020.

 

Jana verschwieg eisern ihre Ost-Biografie, das ersparte unnötige Fragen. Der Lohn folgte in Form einer steilen Karriere.  Dennoch suchte sie etwas anderes. Halt, Geborgenheit und einen lebenswerten Ort, um eine Familie zu gründen. Sie haderte mit einer Gesellschaft, in der nur noch eine Religion herrschte. Die des Eigentums. Ein Land, in dem Meinungen und Gesinnungen wie Waschpulver oder Parfum angedreht werden, fand Jana. Vor kurzem zog sie zurück in die kleine Stadt ihrer Eltern. Dort aßen, tranken, sagten und wählten die Menschen das Falsche. Aber sie stellten auch richtige Fragen, auf die sie keine Antwort bekamen. Wie ist es möglich, dass man sparsam jedes Jahr weniger Strom verbraucht und dennoch am Ende mehr bezahlt? Wie kommt es, dass Familien Vollzeit arbeiten, aber nicht wissen, wie sie mit 1.400,- netto bis zum Monatsende kommen?

Jana gefiel, dass sich Nachbarn gegenseitig helfen, ohne viel Lärm zu machen. Ihr fiel auf, dass zu jeder Wahl Reporter auftauchten, die wissen wollten, warum sie „Demokratie und Freiheit“ nicht schätzten? Warum sie falschen Heilspredigern nachliefen? Sie fragte sich aber auch, warum sie am Ende die immergleichen Geschichten schrieben, mit der angesagten Haltung: Anlächeln, sich moralisch überlegen fühlen, weiterziehen.

 

Berlin. Oberbaumbrücke. Die Stadt, in der Gemeinsamkeit jeden Tag neu gelebt werden kann. Foto: Renate Pinné

 

Jana ist vierzig Jahre alt. Genau so alt wie die untergegangene DDR mit ihrem unerfüllten Versprechen von einem gerechten Land. Wer verstehen will, was es mit dem „unbekannten Osten“ auf sich hat, sollte Jana fragen Es gibt viele Janas. Im Osten wie im Westen. Es lohnt sich, ihnen zuzuhören.