Über den Berg

Neue Ideen nehmen ihren Anfang häufig vom Ende der Welt. Halberstadt ist eine kleine Provinzstadt mitten in Deutschland, in Sachsen-Anhalt. Mittendrin, aber abseits. Eine Region die viele nicht kennen, maximal als nervige Wegstrecke zwischen Hannover und Berlin. Nun wollen die Halberstädter nach ihrer John Cage-Performance eine neue spektakuläre Aktion starten. Sie nennen es „Keine Handbreit Wasser“. Rund 200 Freiwillige wollen im Schweiße ihres Angesichts 100 Paddelboote ohne eine Handbreit Wasser unter dem Kiel über einen Berg schleppen. Geht`s noch? Während gerade der Südwesten Deutschlands in brauntrüben Fluten untergeht, ziehen die Halberstädter gegen den weltweit dramatischen Wassermangel zu Berge.

Überschwemmungen und Dürre, Sintfluten und Trockenheit, Bäche, die zu reißenden Flüssen werden und Wasserknappheit sind Extreme aber zwei Seiten einer Medaille. Mutter Natur rächt sich. Der Mensch zahlt die Rechnung. Hunger nimmt weltweit wieder zu. Folge von Pandemie, Klimawandel, gewaltsamen Konflikten und Ergebnis grotesker Ungleichheit. Wie kommen wir über diesen Berg? Ilka Leukefeld lacht. Die Künstlerin hat sich das Huy-Projekt „Keine Handbreit Wasser“ ausgedacht. „Wir sitzen alle in einem Boot. Wir müssen zusammen in eine Richtung rudern. Nicht im Kreis herum. Dann funktioniert`s.“ Die Kunstaktion am 24. Juli 2021 will zeigen, dass Menschen viel bewegen können, wenn sie es gemeinsam versuchen.

 

„Boote im Wald – Karawane im Huy“ – Kunstaktion in Halberstadt/Sachsen-Anhalt. Foto: „Keine Handbreit Wasser“

 

Leukefeld: „Es ist fünf nach zwölf. Wir wollen eine Aktion starten, die Mut macht.“ Die Grundwasservorräte seien endlich, in vielen Regionen der Welt würden die Wasservorräte sinken. „Wir leben in Halberstadt im Vorharz. Wir sind bereits im dritten Jahr mit großer Trockenheit. Oder wir haben Extremregen. Deshalb tragen wir 100 Boote über den Berg. Das ist eine Versinnbildlichung für den Zustand, wenn kein Wasser mehr da ist.“ Am Zielpunkt in einer Scheune in Huy-Neinstadt werden die Boote hängend installiert. Auftakt für insgesamt vier Podien im Sommer und eine Abschlussveranstaltung am 2. Oktober. „Die Resonanz ist gut. Schüler, Studenten, Rollstuhl-Fahrer, Mitarbeiter von Stadtwerken oder Diakonischem Werk, aber auch Flüchtlinge machen mit“. Jede(r) zählt. Noch werden Freiwillige gesucht.

 

14 Kilometer 100 Boote tragen – Sinnbild, wenn das Wasser fehlt. Foto: „Keine Handbreit Wasser“

 

Die Halberstädter haben einen langen Atem. Ihr international beachtetes Orgelprojekt „As slow as possible“ in einem ehemaligen Kloster ist auf 639 Jahre angelegt. Die Hommage an den Komponisten John Cage zieht seit über zwanzig Jahren Publikum aus der ganzen Welt an. Jeder Tonwechsel ist ein Grund zum Feiern. Nun zieht eine Boot-Karawane über den Berg. Ist das nicht Größenwahn, eine Art Klein-Fitzcarraldo im Harzvorland? Nein, meint Ilka Leukefeld, die nach zwanzig Jahren künstlerischer Arbeit in London in ihre Heimat zurückgekehrt ist. „Wir machen das absolut freiwillig. Für mich wäre es schon ein Erfolg, wenn auch nur ein einziges Boot die 15-Kilometer lange Strecke über den Berg getragen wird.“

 

Freiwillige für die Kunstaktion am 24. Juli 2021 können sich noch melden. Foto: „Keine Handbreit Wasser“

 

Am Morgen des 24. Juli 2021 soll eine Kilometer-lange Karawane in Halberstadt aufbrechen, um zu zeigen, dass Menschen nicht alle Katastrophen klaglos hinnehmen wollen. Die Kunst-Aktion mag verrückt sein. Aber kommen die besten Ideen aus den Zentren der Macht? Sie wachsen woanders. Zum Beispiel in Halberstadt. Auf geht´s. Das Unmögliche wagen. Das Mögliche machen. Über den Berg.

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