Lost in Berlin

„Wer hier wohnt, hat verloren“. Das meint die Berlin-Bashing-Kolumne der Süddeutschen aus München. Das Blatt stellt fest: „Was in Berlin schiefläuft? So ziemlich alles.“ Das Verrückte ist: Trotzdem kommen weiter viele Menschen in die deutsche Hauptstadt. Berlin ist nach wie vor Magnet. Die Stadtregierung lobt sich gerne über den grünen Klee. Berlin sei Melting Pot. Drehscheibe. Zukunftswerkstatt. Place to be. In einem Loft am Landwehrkanal lässt es sich leicht über den Alltag der meisten Bewohner hinweglächeln. Was der Stadt fehlt? Eine funktionierende Verwaltung. Wer seinen Ausweis verlängern oder einen Kitaplatz beantragen will, scheitert bereits beim zuständigen Bürgeramt. Termine sind so rar wie bezahlbare Wohnungen. Wartezeiten bis zu drei, vier Monate sind normal. 250.000 unerledigte Fälle. Willkommen in der postsozialistischen Wartegemeinschaft!

 

 

Das Motto der Behörden: ‚Ein kluger Beamter prüft zuerst seine Zuständigkeit und verneint sie.‘ Die Rechnung zahlt der Bürger: Statt sofort und unverzüglich heißt es, eher vielleicht und irgendwann. Folge eines dramatischen Abbaus. Sparen bis es quietscht, hieß es vor Jahren unter dem damaligen Finanzsenator Thilo Sarrazin. Eine ausgebrannte, überalterte, Mitarbeiterschaft soll den Bedarf einer stetig wachsenden Stadt bewältigen. Die logische Folge. Alles dauert. Eine Einbürgerung kann bis zu 24 Monate dauern. Eine alleinstehende Mutter wartet auf das Überbrückungsgeld für ihr neues Baby bis zu drei Monate. Wer im Park oder Wald seinen Müll entsorgt, muss sich keine Sorgen machen. Der bleibt liegen. Im Wald gibt es keine Förster mehr. Zwei Drittel der Stellen fielen weg. Die Grünflächenämter, für die Sauberkeit zuständig, sind überfordert.

Unglaubliche acht bis neun Jahre dauert beispielsweise der Neubau einer Schule.  Warum? Ein Dschungel an Zuständigkeiten, „Behördenpingpong“ genannt: 1) Bezirk definiert Bedarf, 2) Mittel werden beantragt, 3) Testat wird erstellt, 4) Senat für Finanzen verabschiedet Investplan, 5) Anmeldung durch Bezirk, 6) Senatsbeschluss, 7) Erarbeitung Bedarfsprogramm, 8) Genehmigung Bedarfsprogramm, 9) Vergabeverfahren, 10) Auswahlentscheidung, 11) Vorplanungsunterlagen (VPU) werden erarbeitet, 12)  VPU werden genehmigt, 13) Veranschlagung im Haushalt, 14) Bauplanungsunterlage (BPU) wird erarbeitet, 15) BPU wird genehmigt, 16) Ausführungsplanung, 17) Ausschreibungscheck, 18) Baubeginn, 19) Fertigstellung (unbestimmt). Ein Wunder, dass der Flughafen BER nach fast zwei Jahrzehnten Planung, Pleiten, Pech und Pannen überhaupt fertiggestellt werden konnte.

 

Warten, hoffen, aufstehen, weitermachen. Quelle Margherite Saiko

 

Ein letztes Beispiel: Am 11. September 2019 beschloss das zuständige Bezirksamt in Pankow nach Unfällen, dass eine Straße verkehrsberuhigt werden soll. „Aufgrund der dramatischen Personalsituation in der Straßenverkehrsbehörde“ konnten seitdem nicht einmal mehrere Kleine parlamentarische Anfragen beantwortet werden. Fast zwei Jahre sind seit dem Beschluss vergangen. Geschehen ist nichts. „Aktuell krankheits- und urlaubsbedingt“ verfüge man nicht „über die notwendigen Personalressourcen“.  Vielleicht sollte die Straße ausgebürgert werden.

 

Genug gegruselt. Schwabinger Schickeria und Stuttgarter Stammtischler mögen es sicher gerne hören, dass die Berliner nur eine große Klappe haben „und sonst nichts“. Geübte Kenner der Stadt wissen: „Um Berlin in seiner jetzigen Verfassung zu malen, müsste man den göttlichen Dante Alighieri bemühen, welcher die Hölle und das Fegefeuer zu schildern wusste.“ Diese Feststellung ist aus dem Jahre 1896. Nachzulesen bei Alfred Kerr in: „Was ist der Mensch in Berlin – Briefe eines europäischen Flaneurs“.

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