Die Kunst des Verhüllens
Paris genießt in diesen Tagen Christos letztes Werk: die Verhüllung des Arc de Triomphe. Seit 1962 wollte der Künstler das Nationalheiligtum im Herzen der Stadt verpacken. Erst kurz vor Christos Tod im Mai 2020 gab Präsident Macron grünes Licht. Im zweiten und letzten Teil einer Annäherung an den bulgarischen Aktions- und Performancekünstler, der mit seiner französischen Frau Jeanne-Claude die Kunstwelt umkrempelte, soll an den Sommer 1995 erinnert werden. Als die Deutschen einmal beschlossen, für genau vierzehn Tage ein glückliches Volk zu werden. Als sich der mächtige, damals leerstehende Berliner Reichstag in ein leichtes, schwebendes Gebäude verwandelte. Als dieser geschichtsträchtige Klotz an der einstigen Mauer verhüllt wurde, um Neues zu enthüllen. Als Berlin einmal anders war.
Am Anfang war eine Postkarte. Im Sommer 1971 schickte der Historiker Michael S. Cullen eine bunte Ansichtskarte des Reichstages nach New York. Wäre der leere Kasten nicht ein ideales Kunstobjekt, fragte Cullen, ein Amerikaner im damaligen West-Berlin. Dann passierte erst einmal nichts. Anfang November 1971 antwortete überraschend das Ehepaar Christo und Jeanne Claude in einem förmlichen Schreiben. Jeanne-Claude teilte mit, sie seien interessiert, hätten aber frühestens 1972 Zeit. Daraus wurden am Ende 24 Jahre zähen Ringens. Die Widerstände waren groß, wie bei allen Christo-Projekten. Cullen traf das Ehepaar Christo im Hotel Savoy in Zürich. Das Trio verstand sich prächtig. Der US-Amerikaner in Berlin, der bulgarische Künstler und seine französische Frau mit Wohnsitz in New York.
Das war die Grundidee: Kunst für jedermann! Kostenlos. Ohne Werbung. Ohne staatliche Förderung, Christo kam 1976 zum ersten Mal in das geteilte Berlin. Im Mai 1977 lehnte der damalige Bundestagspräsident Karl Carstens die Verhüllung strikt ab. Unvorstellbar! Der Reichstag sei ein Sakrileg. Mit insgesamt sechs Bundestagspräsidenten verhandelte das Christo-Team in den folgenden Jahren. Daraus entstanden sechzig Aktenordner Briefverkehr, die im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg archiviert sind. Erst der Mauerfall öffnete eine reelle Chance. Die damals amtierende Bundestagschefin Rita Süßmuth wurde zur großen Unterstützerin, während Helmut Kohl zeitlebens ein Gegner blieb. Er hielt die ganze Aktion für blanken Unsinn. Der heutige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble war gleichfalls dagegen. Erst im Angesicht des verhüllten Reichstages Ende Juni 1995 um vier Uhr früh im Morgenlicht wurde er zum Fan.
Der Reichstag wurde 1995 ein weltweit beachtetes Kunstwerk. Es verzauberte die Welt und veränderte den Reichstag. Wie bei Christo und Jeanne-Claude üblich, wurde das Projekt nach zwei Wochen beendet und alle verwendeten Materialien recycelt. Am Reichstagsgebäude sollten keinerlei Spuren der Verhüllung bleiben. Den „Wrapped Reichstag“ erlebten rund fünf Millionen Besucher. Die Aktion kostete etwa 7,5 Millionen Euro. Die Finanzierung erfolgte ausschließlich über den Verkauf von Zeichnungen, Skizzen und die Vergabe von Filmrechten. Handsignierte Motive brachten bei Versteigerungen in späteren Jahren bis zu 300.000 $. Der Stoff, der in diesen Tagen den Pariser Triumphbogen verhüllt, stammt von einer deutschen Firma und ist aus dem gleichen recycelbaren Material wie einst in Berlin. In solchen Fragen blieb sich Christo treu. Der Mann, der mit Kunst die Welt ein wenig verändern konnte. Wenn auch nur für zwei Wochen.