Archive for : Juni, 2022

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Jenseits der Documenta

Ein Freund von mir ist verzweifelt. In seiner Heimat Äthiopien tobt seit Jahren ein grausamer Krieg. Niemand schaut hin. Er schreibt, allein letzte Woche seien mittlerweile „1.200 Angehörige seines Amhara-Volkes ermordet“ worden. Abgeschlachtet, „erschossen wie Hühner“, schreibt die US-Agentur Associated Press. Ich wusste davon nichts. Immerhin haben zwei österreichische Blätter den Massenmord an Amharas gemeldet. Es soll sich um Mordkommandos der OROMO-Milizen handeln, die offenbar unter Billigung von Premier Abyi Ahmed im bitterarmen Vielvölkerstaat vorgehen. Premier Abyi ist Friedensnobelpreisträger von 2019.

Er galt bisher als Hoffnungsträger, als „der Gorbatschow“ des geschundenen Landes am Horn von Afrika. In Deutschland hat keine einzige große Zeitung diese Meldung abgedruckt. Hierzulande dominierte die Documenta die Schlagzeilen. Der Rest unserer Aufmerksamkeitsökonomie verteilte sich auf Ukraine-Krieg, explodierende Gaspreise, Pandemie, Hitze und Waldbrände. Mein Freund schreibt: „Es ist einfach furchtbar. Zum Heulen. Wir sind … machtlos!“

 

Protest der kleinen Amhara-Community vor dem Berliner Kanzleramt. Er blieb bislang ungehört.

 

Gleichgültigkeit kann auch töten. Völlig klar ist, dass kein Mensch die vielen Krisen der Welt auch nur annähernd wahrnehmen kann. Daher sind immer wieder Mutige erforderlich, die an ihre Aufgabe und an eine sinnvolle Sache im Leben glauben. Es gibt die wunderbare Geschichte von Johann Franck aus der Armeleuteregion Lausitz. Der Gubener liebte seine Heimat und dichtete als Jurist nebenbei Lieder. Die Zeiten, in denen er lebte, waren niederschmetternd. Mitten im Dreißigjährigen Krieg griff er zur Feder. Mitteleuropa war verwüstet. Mehr als Hälfte seiner Zeitgenossen fiel dem Religionskrieg (1618 bis 1648) zum Opfer. Sie wurden abgeschlachtet, vergewaltigt, gerädert oder fielen der Pest anheim. Hobbydichter Franck wollte gegen die Volksverhetzer ein Zeichen setzen. Also dichtete er aus vollem Herzen:

„Trotz dem alten Drachen, trotz des Todes Rachen, trotz der Furcht dazu! Tobe, Welt, und springe; ich steh hier und singe in gar sichrer Ruh“.

Franck gehörte zu den unbeugsamen Menschen, deren Gewissen nicht schwieg. Er handelte in der Überzeugung, dass zu Lebzeiten der Feind des Menschen eben nicht der Tod, sondern das irdische Unrecht ist. Der Choral Jesu meine Freude, das Protest- und Anti-Unrechtlied des längst vergessenen brandenburgischen Dichters Jonathan Franck wurde hundert Jahre später vertont. Kein geringerer als Johann Sebastian Bach nahm sich seinem Aufschrei an. Eine Motette, die seitdem millionenfach erklungen ist.

 

 

Mein Freund aus Äthiopien ist gläubiger Christ. Für ihn mag diese kleine Anekdote aus unserem 30-jährigen Krieg ein schwacher Trost sein. Aber vielleicht findet sich jemand, der seine Klage weiterträgt. Die Klage der Amharas. „Wir sind … machtlos!“ Mein Freund wird mit ein paar mutigen Getreuen in Garmisch-Patenkirchen am Rande der Sperrzone des G7-Gipfeltreffens gegen Krieg und Massenmorde in seiner Heimat Äthiopien demonstrieren.

 

Wer mehr über die Lage der Amharas in Äthiopien erfahren will, kann hier erste Informationen erhalten.

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Ein Ritt über den Bodensee

Großschriftsteller Martin Walser und sein fliehendes Pferd. Ob er den Ritt über den Bodensee noch wagen würde? Wohl kaum! Die Bodensee-Pilger wählen heutzutage das Rad, nicht das Pferd. Sie gehören zur Großgruppe der hochmobilen Ü-60-Generation. Er oder sie ist ausgestattet mit Rentenbescheid, E-Bike, Helm, bunter Funktionskleidung und Rossmann-Sonnenbrille. Vorne radelt in der Regel der männliche Vertreter, Typ rüstiger Rentner mit Hoppla-jetzt-komm-ich-Haltung. Im Windschatten gefolgt von der Gattin. Die verspiegelte Sonnenbrille lässt nur wenig Rückschlüsse zu auf ihr Wohlbefinden. Das größte Glücksgefühl ereilt diese Radlerrudel mit Hilfsmotor an langen Aufstiegen, wenn sie mit einem überlegenen Lächeln an unmotorisierter Konkurrenz vorbeiziehen.

 

Martin Walser auf dem fliehenden Pferd. Wie der Bildhauer Peter Lenk den Schrifsteller vom Bodensee sieht. Denkmal in Überlingen. Juni 2022

 

Das ist im angehenden Sommer 2022 der ultimative Kick für die Babyboomer-Generation! Maskenlos und mit vollem Akku rund 250 Kilometer rund um den Bodensee düsen, solange der Saft aus der Steckdose reicht. Radeln durch eine herrliche Landschaft mit See und Alpen bis zum nächsten Gartenlokal. Prost! Dort schmeckt das alkoholfreie Weizenbier doppelt so gut wie zuhause.

Tatsächlich macht der Bodensee seinem Namen alle Ehre. Der See ist bis auf den Boden glasklar. Das Panorama der Alpen ist überwältigend und die Uferpromenaden sind ausstaffiert als stünde die nächste Bundesgartenschau vor der Tür. Es macht dabei keinen Unterschied, ob die radelnde Massen durch Baden-Württemberg, Bayern, Österreich oder die Schweiz touren. Einzig kleiner, aber feiner Unterschied. Bei den Eidgenossen ist alles deutlich teurer.

 

„Zum Kotzen schön“ fand Maler Otto Dix die Landschaft am Bodensee. Das gilt auch heute noch. Abendstimmung in Überlingen. Juni 2022

 

Die Bodenseeregion wirkt komplett durchorchestriert. Bis auf wenige Nischen am Hochrhein, auf der Höri oder dem österreichischen Rhein-„Ländle“ ist alles durchsaniert und bebaut. Der Ufersaum ist ein langer, verdichteter Freizeitpark. Hotels, Apartments, Minigolfplätze, Einkaufsmärkte sowie Hinweis- und Verbotsschilder aller Art säumen den Weg. Typisch bei der Bodensee-Runde sind unzählige Neubauten mit Seeblick, Villen aller Art und Geschmacksrichtungen. Mal mehr, mal weniger elegant versteckt hinter mannshohen Buchenhecken, aufgeschichteten Steinwällen oder hölzernen Sichtschutzblenden. Auf alle Fälle gilt: „Zutritt verboten“. Das Ufer scheint fest in Privathand zu sein. Die übriggebliebenen Freiräume teilen sich Naturschutz, Badebetrieb, Tagestouristen, Airbnb-Ausflügler und die vielen Menschen auf der Durchreise wie die Bodenseeradler.

 

Kreative Formen der Abschottung der Ufergrundstücke. Gesehen zwischen Romanshorn und Kreuzlingen/CH. Juni 2022

 

Der Maler Otto Dix fühlte sich einst am Bodensee „in die Landschaft verbannt“. Dix suchte in den dreißiger Jahren kurz vor der Schweizer Grenze einen sicheren Rückzugsraum, sein inneres Exil vor den Nazis. Die Natur sei „zum Kotzen schön“, meinte er. Das trifft auch heute noch zu. Allerdings muss der Genuss mit den Segnungen des modernen Massentourismus kombiniert werden. So wäre ein Ritt über den Bodensee heute kaum noch möglich, weil zuerst eine zugängliche Stelle gefunden werden müsste. Dabei meint das geflügelte Wort vom Ritt über den Bodensee, dass man etwas sehr Gefährliches unternommen hat und das wahre Risiko erst im Nachhinein erkennt.

Diese Ballade des Heimatdichters Gustav Schwab aus dem Jahre 1826 beruht auf einer wahren Begebenheit. Sie handelt von einem Mann, der an einem kalten Wintertag rasch ans andere Ufer gelangen will. Er möchte ein Schiff nehmen, kann aufgrund des schlechten Wetters den Weg jedoch nur schwer erkennen. So reitet er, ohne es zu merken, über den zugefrorenen Bodensee. Am anderen Ufer trifft er eine Frau und fragt, ob noch ein Schiff komme. Sie antwortet, dass er längst am anderen Ufer angekommen sei. Als der Reiter begreift, in welch gefährliche Lage er sich gebracht hatte, fällt er vor Schreck tot vom Pferd.

 

 

Keine Bange. Solch ein Ritt über den Bodensee ist heutzutage mehr als unwahrscheinlich. Zum letzten Mal war Europas drittgrößter Binnensee im Februar 1963 komplett zugefroren. Damals wanderten Deutsche, Schweizer und Österreicher ans jeweils andere Ufer. Es war ein Volksfest. Heutzutage – von fehlenden kalten Wintern infolge des Klimawandels abgesehen – wäre die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass man am anderen Ufer zuerst auf ein Schild treffen würden, auf dem steht: Zutritt verboten!

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Kim. Das Napalm-Mädchen

8. Juni 1972. Trang Bong. Ein kleines Dorf in Südvietnam. Kim Phúc Phan Thi spielt im Hof des Restaurants ihrer Eltern. Die Neunjährige kann das Flugzeug noch hören, das die tödlichen Napalm-Bomben über ihrem Dorf abwirft. Kim rennt mit Brüdern und Cousinen um ihr Leben. Als sie vor den US-Bomben auf die Landstraße flüchten, drückt der südvietnamesische AP-Fotograf Nick Ut auf den Auslöser. Er dokumentiert das nackte, schreiende Mädchen mit weit ausgebreiteten Armen und Todesangst in den Augen. Das Bild vom „Napalm Girl“ wird rasch zum „Inbegriff des Schreckens des Vietnamkrieges“, so US-Autorin Susan Sontag. Der Fotograf erhält den Pulitzer-Preis. Kim Phúc Phan Thi überlebt und muss fortan ein Leben lang mit dreißig Prozent verbrannter Haut, heftigen Schmerzen und seelischen Qualen klarkommen.

 

Kim Phúc Phan Thi heute in Kanada. Foto: May Truong

 

„Ich habe kaum noch eine Erinnerung an den Bombenabwurf“, schreibt Kim Phúc Phan Thi zum fünfzigsten Jahrestag des Bildes, das um die Welt ging. Kim schreit „Nóng quá, nóng quá. So heiß, so heiß“. Das Furchtbare: Vor Napalm kann niemand wegrennen. Napalm haftet am Körper, egal wie schnell man rennt. Nach der Aufnahme legt Fotograf Nick die Kamera weg, hüllt Kim in eine Decke und bringt sie zum nächsten Sanitäter. Nick habe ihr Leben gerettet, sagt Kim, obwohl sie ihn lange für dieses Foto verabscheute. „Ich war nackt. Ein schreiendes Mädchen. Warum hast Du dieses Foto gemacht? Warum hast Du dieses Bild veröffentlicht, während meine Brüder und Cousinen wenigstens bekleidet waren? Ich fühlte mich hässlich und schämte mich“.

Der Napalm-Angriff veränderte Kims Leben. Sie wanderte nach Ontario in Kanada aus. Viele Jahre litt sie an Angstzuständen und Depressionen. Das weltberühmte Foto brachte ihr in den achtziger Jahren die Aufmerksamkeit von Fernsehsendern. Sie wurde als Gast in Regierungs- und Königshäuser eingeladen. „Ich wurde zu einem Symbol für den Horror des Krieges“. Schließlich gründete Kim eine Hilfsorganisation für traumatisierte Kriegskinder. Die heute 59-jährige schreibt jetzt in der New York Times: „Ich weiß, was es bedeutet, wenn dein Dorf bombardiert wird. Leider hat sich nichts geändert. Wieder gibt es tote Kinder in der Ukraine oder in Uvalde/Texas. Unschuldige Kinder, die niedergeschossen wurden, aus Hass und Willkür“.

 

 

„Ich trage die Spuren des Krieges an meinem Körper. Bis heute. Die seelischen Narben sieht man nicht“. Dennoch will Kim auch fünfzig Jahre nach dem Napalm-Terror in Vietnam nicht nachlassen, gegen den Wahnsinn des Krieges weltweit anzukämpfen. „Ich bin trotz aller Schwierigkeiten froh, dass Nick (Anm. der Fotograf) das Bild gemacht und veröffentlicht hat. Mein Horror wurde dadurch universal. Ich bin davon überzeugt, dass Friede, Liebe, Hoffnung und Vergebung stärker sind als jede Art von Waffen“.