Joni Mitchell. Foto: Jette von Roth

Der Überraschungsgast

Sie sitzt auf einem goldenen Stuhl. Eine weiße alte Frau mit Hut und Sonnenbrille. Die Hände konzentriert auf den Armlehnen. Das Klavier setzt ein, die 78-jährige Joni Mitchell wartet auf ihren Einsatz. Dann beginnt sie behutsam das Lied ihres Lebens zu singen. „Rows and flows of angel hair/And ice cream castles in the air/And feather canyons everywhere/Looked at clouds that way… Ein Gänsehaut-Moment. So schön, so klar, so würdevoll. Auch wenn nicht mehr jeder Ton sitzt, die große Dame des Folk ist wieder da. Völlig überraschend, nach langer, lebensgefährlicher Erkrankung an einem Aneurysma. Joni Mitchell zelebriert ihren Song live auf dem legendären Newport Folk Festival. „Both sides now“, ihre melancholisch-optimistische Hymne an das Leben.

 

 

Das Publikum ist ergriffen. Was für ein Moment, die lebende Woodstock-Legende wieder sehen und hören zu können. Unterstützt von der Sängerin Brandi Carlile legt Joni Mitchell einen Auftritt hin, der ähnlich wie bei den Rolling Stones zeigt: Rockstars dürfen eigentlich nicht altern, aber manche können es mit Würde, Leidenschaft und Lebensklugheit. „Ich bin eine Malerin, die Lieder schreibt. Meine Songs sind sehr visuell. Die Wörter erschaffen Szenen – in Cafés und Bars – in düsteren kleinen Zimmern – an vom Mond beschienenen Ufern – in Küchen – in Krankenhäusern und auf Rummelplätzen. Sie ereignen sich in Fahrzeugen – Flugzeugen und Zügen und Autos“, sagte sie 2015. In den letzten Jahrzehnten hatte sich Joni Mitchell nach 22 Alben zurückgezogen. Sie malte, ihre neue Passion.

 

 

Sie sei die beste Songschreiberin von allen gewesen, sagte Graham Nash über die Kanadierin mit dem bürgerlichen Namen Roberta Joan Anderson. Mit neun Jahren fing Joni das Rauchen an, mit zehn erkrankte sie an Kinderlähmung. Ihre linke Hand ist bis heute eingeschränkt. Als Teenagerin brachte sie sich das Gitarrenspiel mit Hilfe eines Pete-Seeger-Songbook bei. Mit 26 Jahren veröffentlicht sie das Album Clouds. Das war ihr Durchbruch. Woodstock verpasst sie im Sommer 1969, weil ihr Manager sie zeitgleich bei Dick Cavett in seiner TV-Talkshow platziert hatte. Als Reaktion komponiert sie ihre eigene Woodstock-Hymne.

 

 

In den Siebziger und Achtzigern experimentiert Joni Mitchell mit Jazz-Musikern der allerersten Garde – von Herbie Hancock über Jaco Pastorius bis Paul Metheney. Legendär ist ihr 1980er Live-Auftritt mit Shadows and Light. Joni übersteht eine Kokain-Sucht. Sie sucht nach neuen Formen, zieht sich aus dem Musikgeschäft zurück, widmet sich zunehmend der Malerei. Ihr bekanntester Song Both Sides Now wurde mittlerweile von über 1.500 Interpreten unterschiedlichster Art gecovert, von Frank Sinatra bis zu den MonaLisa Twins.

In diesem Sommer 2022 sang Joni Mitchell wieder ihr Both Sides Now-Lied, auf dem Newport Folk Festival. Was für ein Lichtstrahl in dunklen Zeiten.

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