Archive for : Dezember, 2022

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Alle Jahre wieder

Für viele war dieses abgelaufene 2022 ein anstrengendes, beschwerliches und beängstigendes Jahr. Pandemie, Klimakrise, Krieg, Energieteuerung und Inflation haben uns Grenzen vorgeführt. Was mich am meisten beschäftigt: Unsere Eliten wirken erschöpft, sie sind offenbar nur noch mit Machterhalt und dem eigenen Wohlergehen beschäftigt, ob beim kleinen RBB oder der großen FIFA. Dazu eine UNO, die wie ein gelähmter, kranker Riese hilflos durch eine Welt in Flammen, Hunger und Not stolpert. Da muss sich was ändern.

Alternativen gibt es immer. Im privaten wie im gesellschaftlichen Leben. Ich wünsche angenehme Weihnachtstage zum Durchatmen, tolle Erlebnisse mit Familie, Freunden, Nachbarn oder Überraschungsgästen. Viel Zuversicht, Kraft und Energie für 2023.

Vielen Dank für Eure/Ihre Treue.

Christhard Läpple

 

Wer mag, ein junges Trio, das mich 2022 überrascht hat.

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Oh, Sister

Es ist ihr Abend. Hanna Kopylova läuft nervös durch den Saal, der sich gleich füllt. Ihr Film „Oh, Sister“ hat Deutschland-Premiere. Wer wäre da nicht aufgeregt? Doch die Frau aus Kiew, die in der Berliner Staatsoper eine Nobelpreisträgerin, eine Kulturstaatsministerin und ein neugieriges Publikum erwarten kann, ist aus einem anderen Grund „total gestresst“. Ihre beiden Kinder (12 + 9 Jahre alt) verbringen in Kiew den Tag nicht in der Schule, sondern im Bunker. Luftalarm! Zum x-ten Mal. Putin schickt seine Raketen und Drohnen zur „Befreiung vom Nazismus“. Die ukrainische Luftabwehr hat alle Hände zu tun. Sie kann viele der 72 Geschosse abfangen, aber eben nicht alle. Wieder sterben Menschen. Wieder gibt es in weiten Teilen kein Strom, keine Wärme, kein Wasser. „Ich wäre jetzt viel ruhiger, wenn ich bei meinen Kids in Kiew wäre“, sagt die 34-jährige. „Hier in Berlin ist Weihnachtsmarkt. Es riecht nach Glühwein. Die Menschen sind sorglos. Das stresst mich.“ Das Licht geht aus. Ihr Film „Oh, Sister“ beginnt.

 

 

Hanna Kopylova hat im Juni 2022 die drei Nobelpreisträgerinnen Leymah Gbowee aus Liberia, Tawakkol Karmen aus dem Jemen und Jody Williams aus den USA auf einer Reise durch ihr geschundenes Heimatland begleitet. Alle drei Frauen setzen sich vehement für Friedenslösungen ein, kämpfen zum Beispiel für das Verbot von Landminen. Die Ukraine ist mittlerweile ein Land voller Minen und noch mehr Leid, aber auch ein Land mit mutigen, unbeugsamen Frauen. Deren Geschichte erzählt der nur zwanzigminütige Streifen mit eindrucksvollen Beispielen. In diesem berührenden Film berichten eine 24-jährige Sanitäterin, eine Apothekerin, eine Juristin, zwei Schaffnerinnen und die Leiterin einer Kindeshilfsorganisation ohne Pathos von ihrem täglichen Kampf ums Überleben. An der Front, dahinter, mittendrin. Putins Raketen fliegen ihnen um die Ohren. Die Frauen nähen Tarnnetze, verbinden Wunden, evakuieren Kinder aus größter Not. Sie riskieren ihr Leben und halten stand: Sie sind wie ein „Fels in der Brandung“.

Irgendwann stellt die US-Amerikanerin Jody Williams die Frage, die unausweichlich zu stellen ist. Warum müssen Frauen den Schlamassel wegräumen, den Männer anrichten? „Wir Frauen müssen klar Schiff machen. Männer müssen endlich zur Seite treten“.  Die jemenitische Menschenrechtlerin Tawakkol Karmen stimmt zu: „Wer macht den ganzen Müll, das ganze Chaos? – Männer. Und wer räumt den Schlamassel weg? – Wir Frauen!“ Das Wichtigste, was jetzt zu tun sei, formuliert Oleksandra Matviychuk, die Friedensnobelpreisträgerin von 2022: „Wir brauchen einen Internationalen Gerichtshof, der die Kriegsverbrechen anklagt. Ja, wir brauchen ein zweites Nürnberg, wie nach dem II. Weltkrieg. Putin und alle Verantwortlichen, auch die Generäle, müssen zur Rechenschaft gezogen werden.“

Die ukrainische Anwältin Oleksandra Matviychuk sagt noch: „Bisher haben wir 27.000 Kriegsverbrechen in der Ukraine dokumentiert.“ Mehr Infos unter #TribunalForPutin.

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Amour fou – Teil 3

Frühjahr 1958. Da bin ich im Mai geboren. Meine Mutter meinte, ich sei ein Spätstarter gewesen. Meine Mutter war Musikerin. Sie liebte, nein, sie verehrte in jenen Tagen Ingeborg Bachmann.  Die Lyrikerin und Preisträgerin der Gruppe 47 hat in diesem Frühling 1958 ihr Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“ veröffentlicht. Max Frisch arbeitet zeitgleich an den Inszenierungen von Biedermann und die Brandstifter. Frisch schreibt der »jungen Dichterin«, wie begeistert er von ihrem Hörspiel ist. Mit Bachmanns Antwort im Juni 1958 beginnt der Briefwechsel, der, so der Suhrkamp-Verlag, „vom Kennenlernen bis lange nach der Trennung in rund 300 überlieferten Schriftstücken Zeugnis ablegt vom Leben, Lieben und Leiden eines der bekanntesten Paare der deutschsprachigen Literatur“.

Beim dritten Teil vom Amour fou befinden wir uns im Jahre 1959. Der Rausch der ersten Liebe ist verflogen. Der Ton wird abwägender, distanzierter und misstrauischer. Die Briefe sind verletzender und verletzbarer. Es geht um das Verhältnis von „Herr und Magd“. Beide schenken sich nichts. „Wir haben es nicht gut gemacht.“

 

Die Liebe. Ein Versprechen, ein Versuch, ein Glück… ein Fluch?

 

4. Juli 1959 – Rom Ingeborg Bachmann

„eben kam Dein Expressbrief, diesmal ein geschwinder, es scheint, als wolle die Post die Briefe rascher bringen, die einen verzweifelt machen. Und vor zwei Tagen habe ich Dir noch geschrieben, dass ich nicht zornig bin. Jetzt bin ich doch voll von einem hilflosen Zorn, zumindest voll Auflehnung, und die wird noch öfter kommen, denn man lässt sich doch nicht einfach ein Gefühl vernichten, das für einen das Wichtigste ist, ein abgewiesenes, verurteiltes Gefühl, aber für mich ist es da und es will sich nicht umbringen lassen. Glaubst Du, ich würde sonst seit Ende April herumgehen wie eine Wahnsinnige und jetzt noch jede Nacht herumgehen bis 4 Uhr und 5 Uhr und 6 Uhr früh, – es ist nur, weil ich davon nicht loskomme. …

O Max, aber das ist so schwer, diesen Gedanken zu ertragen, es ist furchtbar zu glauben, dass man dem Mann, den man liebt, nicht genügt hat und keine wirkliche Freude war. Es ist so schlimm wie verstoßen zu werden und es gehört, ganz tief unten, vielleicht zusammen. Wenn ich an alles das denke, meine ich unterzugehen, so viele Steine haben sich an mich gehängt, so wenig Selbstvertrauen ist zurückgeblieben; ich werde nie mehr glauben können, dass jemand imstande ist, mich zu lieben, werde immer denken müssen an diese Aussätzigkeit. …

bist so grausam gegen mich, dass ich manchmal einfach mitten auf der Straße zu schreien anfangen möchte, so fürchterlich schreien, dass alles zusammenfällt oder hier in dieser finsteren angeräumten Wohnung, bis sie nicht mehr da ist und ich selbst nicht mehr und überhaupt nichts. … Rom ist öde, nebenbei natürlich schön wie immer, aber man müsste Augen dafür haben. Es war eine der größten Dummheiten, jetzt hierher zu gehen, einen Grund sage ich Dir erst später, aber nun ist nichts mehr zu machen und ich werde es schon durchstehen.

Deine Ingeborg“

10. Juli 1959 Freitag nachts – Rom Ingeborg Bachmann

„Du hast dieses Wort aufgebracht von „Herr und Magd“, das mich zuerst verwundert hat, aber es ist etwas Richtiges dran, und seit ich alles hundertmal durchsuche in der vergangenen Zeit nach Fehlerquellen, glaube ich, diese eine gefunden zu haben. Freilich kann man sie kaum aus der Welt schaffen, denn sie hängt für mich mit dem Altersunterschied zusammen, mit dem sonst ja nichts zusammenhängt. …

Max, es ist so schwer zu erklären, aber ich habe nur ganz selten das Gefühl der Gleichberechtigung, der gleichen Stufen zwischen uns. Ich stehe von Anfang an etwas unter Dir oder hinter Dir, Du hast es bestimmt nicht gewollt und ich auch nicht, aber es bringt Dich dazu, mit mir zu reden manchmal wie zu einer Schülerin, bald liebevoll, bald tadelnd. Ich bin aber, wenn ich nicht bei Dir bin, auch erwachsen, einem Mann gewachsen und lasse mir, wie die Brechtmädchen sagen würden, nichts gefallen. …

Deine Ingeborg.

Ich hoffe, dieser langweilige Nachtbrief ohne Inhalt langweilt Dich nicht zu sehr! Verzeih.“

 

Max Frisch und Ingeborg Bachmann. 1962 in Rom. Foto: Mario Dondero. Max-Frisch-Archiv/SV

 

16./17. Juli 1959 – Uetikon/Schweiz Max Frisch

„Es ist entsetzlich, Ingeborg, was du mir berichtest, dass du überhaupt nicht arbeiten kannst. Ich verstehe es, indem ich die äußeren Umstände erfahre. Rom wird für mich der Name einer Schuld. Im Winter dachte ich, Rom sei der Name unseres Sommers. Ich sah dich, als ich im Krankenbett lag und Rom sagte, unter fröhlichen Freunden in einer Stadt, wo Du am ehesten, so meinte ich immer, heimisch bist, ich war schon eifersüchtig auf deine Heiterkeit ohne mich. …

Wo habe ich dich, was das Geld betrifft so gekränkt? Du bist zutiefst gekränkt überhaupt, voll Hader gegen mich und wie ein Opfer. Inge, es ist seltsam, wenn ich deine Briefe wieder lese deine Briefe jetzt; zuerst freue ich mich über jedes Zeichen von Dir, bin bestürzt, wenn ich dich in so widrigen Umständen sehe, und froh um jeden Satz, der uns eine Zukunft lässt. Beim Wiederlesen dann suche ich nach Spuren der Zärtlichkeit, erschreckt, es ist, als habe ich sie mir nur eingebildet; hervortritt aus jeder Zeile, scheint mir dann der unausgesprochene Vorwurf, der zunehmende Groll, die Anklage mehr und mehr. …

Wir sollten einander nicht verklagen, wenn wir nicht arbeiten können; mir jedenfalls ist die Unfruchtbarkeit in allen Lebenslagen vertraut. Wir sollten nicht zusammenwohnen, sagte ich, und es war ein Schock für Dich, Du schriebst, dass ich Dich nicht liebe, dass ich keine Liebe habe zu deinem Körper; Du fühlst dich verstoßen, und in jedem Brief, fast in jedem, lese ich deine Bitterkeit darüber, indem Du dich unterwirfst wie eine Erniedrigte, dem Gedanken an getrennte Wohnungen unterwirfst, der Dir im Grunde unannehmbar ist, sagst Du, und ich bin es, der das Unannehmbare fordert. Wäre es doch so. …

Betroffen hat mich, Inge, was Du über „Herr und Magd“, sagst. Nicht wegen Altersunterschied, womit Du es begründest. Betroffen, weil Trudy mir öfters dasselbe gesagt hat. Ich weiß es nicht, dass ich unterdrücke; ich muss es glauben es kommt mir kurios vor, dass jemand mich fürchtet. Ich muss es glauben, da man es mir in meinem Leben mehr als einmal sagt.  …

Bin ich eine Mimose ein Tyrann aus Mimosenhaftigkeit? ein Grobian aus verlorener Spontaneität, mag sein. Erinnerst Du dich, wie ich mich, wie es mich nervös machte, als du immer einen Schritt hinter mir gingst? Ich wünsche es mir von keiner Frau, Dir glaube ich es auch gar nicht. Woher fragst du soll die Gleichberechtigung bei uns kommen? Einiges ließe sich im Vordergrund erklären. Du bist nicht nur ungewöhnlich gescheit, Du bist eine Dichterin, dazu bist du auch noch eine Frau; Du bist gewöhnt, dass Du auf Händen getragen wirst, wobei die Hände es leicht haben; es musste dich vorerst irritieren. Inge, dass ich dich nicht auf Händen trage. Hat sich Gleichberechtigung nicht oft für dich so ausgenommen, dass Du, ohne dich in Szene zu setzen, der Mittelpunkt bis? Du brauchst das, und das ist kein Übel; aber, dass ich mich zu Hause zum Herrn mache dir gegenüber, das ist ein Übel. … So grüßt Dich, Geliebte, dein Herr.“

 

Leonard Cohen übernimmt mit Suzanne Anfang/Mitte der sechziger Jahre einen Song über eine unerfüllte Liebe.

Amour fou – Fortsetzung folgt

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Amour fou – Teil 2

Zürich. 2011. Der Schweizer Literaturwissenschaftler Thomas Strässle öffnet mit zwei Schlüsseln ein Schließfach in einer Großbank. Im untersten Fach findet er Schachteln. In einer entdeckt er den Briefwechsel von Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Eine literarische Bombe. Das Dokument „einer Jahrhundertliebe“, titelt die ZEIT in ihrem Aufmacher. Es braucht weitere zehn Jahre, bis alle vorhandenen Briefe editiert und von den Angehörigen freigegeben werden. Der Briefwechsel ist im Verhältnis 2:1 zugunsten Bachmanns erhalten. Ingeborg Bachmann hatte in den sechziger Jahren viele Briefe von Max Frisch vernichtet. Nun ist bei Suhrkamp die Geschichte einer verrückten Liebe veröffentlicht worden. Titel: „Wir haben es nicht gut gemacht“.

Die beteiligten Herausgeber/innen legen Wert darauf, dass mit Hilfe dieser Briefe viele Gerüchte und Legenden widerlegt werden können. So habe Macho-Max Frisch die hypersensible Bachmann mit seinem „Blutbuch“ Gantenbein nicht in den Tod getrieben. Die Bachmann arbeitete von Beginn am Skript mit. Alle ihre Korrekturwünsche wurden eingearbeitet. Auch ihre Tabletten- und Alkoholsucht habe lange vor der Trennung eingesetzt. Die Briefe über ihre knapp vierjährige Beziehung erzählen von der Unmöglichkeit einer Offenen Beziehung mit Seitensprüngen, Intrigen, Versöhnungen und Zerwürfnissen. „Du machtest mich zum Arschloch!“ schreibt er, oder sie: „Ich will alle meine Briefe zurückhaben. Damit die Tortur ein Ende hat.“

Die Briefe sind von literarischem Rang, voller Gefühlsaufwallungen und poetischer Kraft. Es wird geliebt, gestritten und gelitten. Die Bachmann/Frisch-Affäre war eine Amour Fou, eine tragische Liebe. Mit ihrer Leidenschaft, ihrer Liebe, ihrer Eifersucht. Wer will am Ende Richter sein?

 

Max Frisch (1911 Zürich – 1991 ebenda) Porträt von Otto Dix.

 

3. Januar 1959 – Zürich Max Frisch

„Lieben wir einander? Die Gewissheit, dass du heute nicht nach Hause kommst, nicht früher und nicht später, ist abendfüllend verheerend. Sag mir, Weise, was ist Sehnsucht, was ist Macht der Gewöhnung? Was ist Liebe. Ich bin froh, eine Brille von dir zu finden, einen Morgenrock, Bücher, die du gelesen hast, froh um Indizien, die ich jetzt so gerne einem Polizisten zeigen würde: Ja gewiss, hier wohnt eine Frau! … und vielleicht wäre es gescheiter, ich ginge jetzt schlafen. Ich werde mir dafür, dass ich ohne Genie bin, voraussichtlich nicht mehr das Leben nehmen, dafür habe ich es zu lange ausgehalten: ist es das, was human macht, dieses Ausgehaltenhaben, das man doch nicht aushält, wenn es genannt wird vom anderen? Jetzt geh ich schlafen…“

 6. Januar 1959 – Klagenfurt Ingeborg Bachmann

„Ich frage mich, ob du fühlst, wie sehr Du nach einer Verlust-Einstellung zu mir suchst; ich meine nicht in der scherzhaft-ernsten Stelle über Abreisen, Verlieren etc, sondern wo du vom „Humanen“ sprichst, oder von Celan, also in dem, was scheinbar nicht dazugehört. Wenn ich damals gewusst hätte, dass das ein Giftwort für dich ist … aber es ist vielleicht trotzdem besser, wenn man es nicht zurücknimmt, obwohl es so nicht gemeint war und ein Unsinn unter vielem, hingesagt. …

Mein Lieber, warum kommst du mir trotzdem wie ein Geliebter vor – und doch wie ein Feind heute? Ich will aber nicht kalt mit dir reden und mit dir rechten, um mich erhalten zu können. Ich will das wirklich nicht und komme gleich, nachsehen, wie du da liegst und weiter haderst mit mir – oder vielleicht liebst du mich und es kommt Tauwetter. Deine Ingeborg.“

 

Ingeborg Bachmann (1926 Klagenfurt – 1973 Rom) Grafitti von Jef Aerosol am Musilhaus in Klagenfurt

 

1. Juli 1959 – Rom Ingeborg Bachmann

Lieber Max! Nein, ich bin nicht zornig, nur glaube, ich endlich begriffen zu haben, spät genug und es ist zu viel Schmerzvolles darunter, als dass ich Freude über Weltflüge und Universitäten heucheln könnte. Dein Zorn hingegen, Zorn gegen mich? … ich weiß nicht, womit ich ihn herausgefordert haben sollte, ich war dir vollkommen ergeben, habe kein anderes Leben mehr gehabt und gewollt als eines mit Dir. Du kannst mir nur vorwerfen, dass ich nicht rechtzeitig gegangen bin, aber ich habe es bis zuletzt nicht glauben können, dass du mich forthaben willst und mich nicht mehr liebst.

Aber man kann über solche Dinge gar nicht zornig sein, nur traurig, und ich kann auch heute, in diesem Rom und mit all diesen Plänen, Arbeiten rundherum, nicht verhindern, dass die Traurigkeit mich immer wieder überschwemm, sie kommt von allen Seiten und aus vielen Gründen, und jetzt, weil Dir andere näherstehen und ich überflüssig geworden bin. Trotzdem muss ich natürlich froh sein für Dich, dass Du bei Madeleine bist, dass sie sich um Dich kümmert, und du bei Friedi wohnen kannst. Wenn Du nur gesund wirst, wenn es nur besser geht. Dein Brief ist auch schon viel klarer und lebendiger als die Vorherigen. … Deine Ingeborg

 

 

1.– 3 Juli 1959. – Thalwil Max Frisch

Geliebte Ingeborg! Unser Ferngespräch (vorgestern) hat Dich in einer Enttäuschung zurückgelassen. Du hattest eine bestimmte oder unbestimmte Erwartung, die ich nicht erfüllt habe; ich fühlte es erst nachher. Deine Stimme nach so langer Zeit! Ich liebe Dich, Ingeborg, und ich sehne mich nach Dir oft, aber ich bin verzweifelt; ich kann dich nicht rufen, nur weil ich verzweifelt bin.

Inge! Ich bin nicht dein Herr, der dir erlaubt oder nicht erlaubt, und du bist nicht die Magd; Du bist eine Junggesellin, die zuweilen Lust hätte einfach zu gehorchen, einfach hinzunehmen. Wie lange? Bis die Lust aufhört, bist du als Ingeborg Bachmann erwachst und tust, was dir als Ingeborg Bachmann passt. Lass uns also nicht Herr und Magd spielen! Es hätte den Vorteil, dass die Magd keine Ahnung haben muss, warum der Herr so launisch ist und dass der Herr, sich der sich mit einer Magd begnügt, keine Ahnung erwartet, aber diese Rollen sind uns nicht bestimmt. …

Ich kann nicht allein sein. Das ist der Fluch. Oft denke ich auch, dass darin ein Missbrauch der Liebe liegt: ich will von der Liebe, dass sie das Alleinsein aufhebe und daher die Katastrophen. Es genügt mir nicht, dass ich geliebt werde; ich glaube es nicht, wenn ich dabei allein bleibe. Und während die Liebende denkt, ich sollte tanzen vor Glück, dass sie mich liebt, und ich sollte mich auserkoren fühlen durch ihre Liebe, scheint mir, sie irrt sich: sie liebt nicht mich, so wenig wie einen anderen, sondern sie liebt die Liebe und sich selbst als Liebende. …

Erinnerst du dich an unser Gespräch auf der grünen Dachterrasse über Portovenere damals? Ich hocke vor dir auf den Boden, ich sehe dich und das Geländer, das Meer durchs Geländer; war es nicht sehr schön? Ich sprach von deinem Bewusstsein, auserlesen zu sein. …

Heute vor einem Jahr haben wir uns getroffen. Ob du den kleinen Rosengruß, den ich zum heutigen Tage schickte, bekommen wirst? Die Metzger aus den Hallen, erinnerst Du dich, die mit den blutigen Schürzen, unsere Küsse auf der Straße zwischen Kisten und voll Gemüse, das Morgengrauen mit deinem Schrecken. …  Vielleicht sollte man nur am Meer sitzen und schweigen, ohne am Schweigen zu verderben, ohne ein Du zu erwarten, Hand in Hand allein, zärtlich-beziehungslos, ohne Hoffnung. Ob ich´s je so weit bringe? Ich küsse Dich.“

Fortsetzung folgt.