Wladyslaw Roguski. Tanz in Berlin 1920. Der polnische Maler wurde 1940 ermordet.

Die Wahl

Bald darf Berlin wieder wählen. Weil die letzte Wahl in die Hose ging. Sie muss wiederholt werden, wegen „eklatanter Mängel“. So ist das in der Hauptstadt. Alle wollen hin, nichts funktioniert richtig. Nicht einmal Wahlen. – Ausweis verloren? – Wohnung ummelden? – Katastrophe. Wartezeit bis zu drei Monate. Nachwuchs stellt sich ein. Was für ein Glück! Doch das Berliner Murkelchen muss warten, bis es seine amtliche Geburtsurkunde bekommt. Sterben muss jeder. Doch in Berlin dauert das behördliche Ableben besonders lange. Für die Sterbeurkunde brauchen Angehörige viel Geduld. Es gibt noch Fälle aus dem letzten Sommer. Ein Bestatter klagt. „Eine Person, die Weihnachten 2021 gestorben ist, konnte noch nicht beerdigt werden.“ Wer im Januar 2023 heiraten will oder einen Wohnberechtigungsschein benötigt, sollte Nerven wie Stahlseile haben… es wird langweilig. Es reicht.

Das Kernproblem der wachsenden Metropole an der Spree hat einen Namen: Verantwortung. Präziser: das Fehlen derselbigen. Dieser Begriff scheint ein unaussprechliches Fremdwort aus vergangenen Zeiten geworden zu sein. Der für die Wahlpleite zuständige Innensenator ist weiter im Amt, wenn auch in einem anderen. Momentan versucht er das Mega-Wohnungsproblem zu lösen. Durchwursteln ist der Berliner Markenkern. Behördenpingpong heißt das. Eine (Verkehrs-) Ampel kann bis zu 25 Jahre dauern. Merkwürdigerweise wird die organisierte Unzuständigkeit beklagt und erduldet wie das nasskalte Schmuddelwetter im grauen Berliner Winter. Fehlt der Stadt eine funktionierende Stadtgesellschaft oder ist diese Leidensfähigkeit typisch für Millionenstädte, nicht anders als etwa in Kairo oder Mexiko-City?

 

Berlin. Friedrichstraße. Foto: Bianca Girlich

 

Berlin hat die Wahl. Wie es nach Umfragen aussieht, wird sich nicht viel ändern. So können weiter bunte Luftschlösser versprochen, ein paar Straßen gesperrt und ein paar neue rot-grüne Symbolmaßnahmen diskursiv, nachhaltig und geschlechtergerecht verkündet werden. Berlin bleibt die Stadt der Projekte. Identität ist alles. Früher hieß es dazu: „Jeder nach seiner Façon“. Heute geben sich die tonangebenden Milieus „woke“, „queer“ oder „divers“. So gibt es in der Hauptstadt immer weniger Erwerbsarbeit. Dafür dominiert die Arbeit an Geist, Körper und Seele. Am besten nach einem Hafermilchdrink auf der Yoga-Matte.

Hallo Berlin! Du erfindest dich immer wieder neu. Das ist deine Stärke. Die Stadt bietet Außenseitern und Minderheiten Schutz. Zehntausende Kreative suchen den Sound, hoffen auf den richtigen Kick, werkeln am passenden Chic. Sie träumen vom großen Wurf, von Glanz, Licht, Ruhm und Anerkennung. Was gibt es Ehrlicheres als nach einer durchzechten Berliner Nacht frühmorgens mit Brummschädel nach Hause zu wanken, dabei die Götter anzuflehen, endlich das Glück auf einen hernieder prasseln zu lassen. Bis schließlich der Kater zuschlägt.

 

In einem sechs Jahre alten Werbefilm über Berlin heißt es: „Wenn man es sich schön macht, auch wenn es hässlich ist“. Und: Hoffen auf den nächsten Sommer.

 

Zu Berlin noch ein paar Anmerkungen:

„Es fehlt das Pathos, das falsche, aber auch das echte, und damit fehlt die Fähigkeit, sich schön dazustellen. Die neue Stadtbevölkerung, die die statistischen Ziffern ruckhaft in die Höhe schnellen machte, war jung, rücksichtslos und unternehmend. Dieser Mittelstand hat sich ohne Einschränkung zum Anwalt des Kapitalismus gemacht, zum Anwalt aller kapitalistischen Tugenden und Laster. Er betet den Amerikanismus an, weil er sich selbst darin wiederfindet, und gibt sich der Gottheit der Quantität uneingeschränkt hin.“

„Die Annahme, die Provinz hasse und verabscheue Berlin, ist nur zum Teil richtig. Man hat in der Provinz wohl den Instinkt für die Unproduktivität des hauptstädtischen Geistes, und man höhnt über jede sichtbare Unzulänglichkeit; aber daneben herrscht allgemein auch Neid auf die Genüsse, die die Großstadt zu bieten hat.“

Die letzten Zitate stammen aus der Feder eines zugezogenen Berlin-Kritiker. Karl Scheffler hieß der gebürtige Hamburger, der 1910 der Stadt in der märkischen Streusandbüchse diesen Satz schenkte: „Berlin ist dazu verdammt: Immerfort zu werden und niemals zu sein.“

 

Tanzende. 1920. Der in Berlin lebende polnische Maler Wladyslaw Roguski wurde 1940 von den Nazis ermordet.

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