Herbert, der Träumer
Auf zu Grönemeyer! Einladung zur Premiere: „Das ist los“! Der Hauseingang in der Berliner Kantstraße ist unscheinbar. Nichts Besonderes. Nach der Einlasskontrolle erreicht man eine Art Gefängnishof. Hier begrüßt Herberts Hofstaat Besucher mit einem Covid-Testpäckchen. Stäbchen in die Nase, dreimal rühren, tröpfeln, warten. Hurra. Negativ! Auf zum Listening. Der Star des Abends kommt, wird an eine Mauer gestellt. Kameraleute und Fotografen machen ihre Bilder. Der blondtoupierte Herbert ganz in Schwarz posiert. 18 Millionen verkaufte Platten. 40 Jahre Bühnenpräsenz. No Business like Show-Business. Was aber war vor Herbert G. in diesem seltsamen Hinterhof? – Ein Frauengefängnis, raunt jemand. Heute ein vornehmes Hotel. Google meldet: Einst 77 Zellen, sechs Quadratmeter groß, jeweils mit drei Frauen belegt. Bis 1985 als Jugendarrest in Betrieb. Danach Leerstand. Heute 44 Hotelzimmer. Gediegen umgewidmet vom Ort der Verdammnis zum Hort für „Komfort und Ruhe inmitten der pulsierenden Stadt“. Das ist los.
Das Premierenpublikum sammelt sich an festlich gedeckten Tafeln. Medienleute, Menschen aus der Musikbranche, man kennt sich. Küsschen links, Küsschen rechts. Rasch ein Selfie und den besten Platz sichern mit gepflegtem Wein und 5-Gänge-Menu. Als Top Act: Grönemeyers neues, mittlerweile sechzehntes Album. Es geht los. „Hoffnung ist gerade so schwer zu finden/Ich suche sie. Ich schaue nach links und fühle mich blind/für Perspektiven, die uns weiterbringen.“ Knapp fünfzig Minuten Grönemeyer vom Band, alle dreizehn Songs. Ich schaue nach links und nach rechts. Einige hören aufmerksam zu. Viele fingern nervös an ihren Handys. Angst etwas zu verpassen? Offensichtlich! Selbst hier, wo die Happy Few der Premierengäste unter sich sind. Verrückt. Onkel Herbert singt: „Cis, binär und transqueerphob, Gucci, Prada, Taliban / Schufa, Tesla, Taiwanwahn / Was ist, Kid, kriegst du noch was mit.“ Der Titelsong. Das ist los. Ah. Aha. Ach so. Schenk mir deine knappe Aufmerksamkeit. Halte inne. Bitte. – Herbert surft im Zeitgeist der heutigen Zwanziger Jahre. Ich erkenne im dunklen Gefängnishof ein erleuchtetes Fenster und frage mich, wer in den Zellen saß.
Es folgt „Angstfrei“. „Fesch sein, frech sein, keiner kriegt uns jetzt klein/Tanz` drüber nach, tanz` drüber nach“, röhrt Deutschlands populärster Verseschmied. Knödelbarde Herbert. Poet der Babyboomer. Seelenklempner des Landes. Lieferservice für Mut, Trost und Orientierung. Heimlicher Bundespräsident. Das beherrscht er wie kein anderer. Der Mann, der uns seit Jahrzehnten begleitet. Als Herzensbrecher, politisches Auskunftsbüro, seelischer Kummerkasten. Ein Sinnsuchender wie du und ich. Nur, dass er Stadien füllt. Wir nicht. „Ohne Druck keine Diamanten/Ohne Flugangst würde keiner mehr landen“, knattert Herbert im letzten Song „Turmhoch“. Beifall. Der Meister betritt den Saal. Er sagt, was er wohl bei solchen Anlässen sagen muss. Er möchte „Mut machen in krisenbehafteten Zeiten“, er suche wie ein wildgewordenes Känguru nach den passenden Worten, werfe viele Texte wieder weg. „Dinge sind nicht rosarot“. Er will alle mitnehmen. Schön, wenn ein Mensch mit 66 Jahren noch Träume hat.
Waren die Frauen in diesem Gefängnis angstfrei? Wohl kaum. Aber auch sie träumten. Auf dem Heimweg beschließe ich mich schlau zu machen. Ich erfahre eine Menge über das versteckte Frauengefängnis in der Kantstraße 79. Frauen aus dem NS-Widerstand waren hier bis 1945 zusammengepfercht. Darunter die einunddreißigjährige Libertas Schulze-Boysen. Tochter einer preußischen Adelsfamilie. Verheiratet mit Harro Schulze-Boysen. Beide Mitglieder der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“. Libertas sammelte Film- und Bildmaterial über die Verbrechen der Nazis. Ab September 1942 war sie nach ihrer Verhaftung im Frauengefängnis. Bis zu ihrem gewaltsamen Tod am 22. Dezember 1942. Libertas Schulze-Boysen (20.11.1913-22.12.1942) wurde in Plötzensee enthauptet.
Sie hinterließ diese Zeilen:
„Sie nahmen den Namen mir an der Tür,
Das Wünschen an der Schwelle.
Die Träume einzig blieben mir,
in meiner kahlen Zelle.“
Libertas war eine Mutige. Eine Hoffende und eine Träumerin, bis zum Schluss. Ich bin so berührt, dass ich diese Entdeckung machen konnte. Danke, Herbert. Für die Einladung an diesen besonderen Ort.