Carl Fredrik Reuterswärd. Non Violence. 1988

Was Nationen vereint

Was treibt uns an? Glaube, Liebe, Hoffnung! In New York steht ein Haus, in dem Menschheitsträume wahr werden sollen. Eine Welt ohne Kriege, ohne Hunger, Armut, Ausbeutung und allmächtige Despoten. Ohne unvorstellbaren Reichtum und himmelschreiende Not. Dieses Haus hat viele Etagen, steht trotzig-mächtig am East River von New York. Hier gelten eigene Gesetze und Regeln, die der Vereinten Nationen.  Was für eine großartige Idee. 193 Staaten treffen sich hier – von Afghanistan bis Zambia (englische Schreibweise), um Lösungen zu suchen, um Umweltzerstörung, Genozide und immer wieder neue Kriege zu verhindern, wie gerade in der Ukraine, im Sudan oder Jemen. Das große Haus, entworfen vom Brasilianer Oscar Niemeyer, entstand nach 1945 auf den Trümmern des II. Weltkrieges mit der atomaren Eskalation von Hiroshima und Nagasaki.

 

Das Haus am East River. Seit 1945 gibt es die Vereinten Nationen.

 

Wer die UNO besucht, wird von einer Pistole mit verknotetem Lauf begrüßt. „Non Violence“ heißt die Skulptur des schwedischen Künstlers Carl Fredrik Reuterswärd. Sie ist John Lennon gewidmet. Errichtet 1988, ein Jahr vor dem Fall des Eisernen Vorhangs in Europa, als Luxemburg „The knotted gun“ der UN schenkte. Im Innern des Weltparlaments sind Friedensbotschaften in Form und Ausstellungen und Gemälden anzutreffen. Im Untergeschoß heißt es zur ambitionierten „UNO-Agenda 2030“: „One child, one teacher, one book and one pen can change the world”. Auf jedem Schritt grüßen Mahnzeichen. Holocaust, Genozide in Ruanda, Kambodscha, Bosnien-Herzegowina oder die fatalen Langzeitfolgen von Landminen in Vietnam, in der Ukraine und anderswo. Das ganze Haus atmet ein Stück Weltgewissen. Doch stets klingt die Botschaft mit, eine bessere Welt ist machbar. Wirklich?

 

Schwerter zu Pflugscharen. Skulptur im Garten der UN. (nicht öffentlich zugänglich)

 

„Willkommen im Haus der Vereinten Nationen. Hier werden alle wichtigen Fragen der Menschheit behandelt“, begrüßt der Guide die Besuchergruppe. Der junge Mann führt uns bei seiner einstündigen Tour sogleich in das Heiligtum: Der Saal des Ständigen Sicherheitsrates. Gedämpfte, geradezu weihevolle Atmosphäre. Mit blauen (für die UNO), roten (Krieg/Konflikte) und grünen (Hoffnung) Stühlen. Über 9.300-mal hat der Sicherheitsrat getagt. 15 Mitgliedsstaaten verhandeln hier, fünf mit Vetorecht in sechs Verhandlungssprachen. Hier wird gestritten, gefordert und blockiert. Eine bessere Welt? Weniger Kriege? Eine Reform des Sicherheitsrates? Klingt unmöglich. Ist die UNO also ein Papiertiger? Der kompetente Guide spürt unsere Skepsis. Die Gruppe ist so vielfältig wie die Besatzung der Arche Noah. Menschen aus allen Kontinenten sind zusammengekommen.

 

Sitz des Sicherheitsrates. Herzstück der UNO. Zahnloser Tiger oder wichtiges Instrument der Krisenlösung?

 

„Die UNO hat viel erreicht“, betont der UN-Mann, als wir den Sicherheitssaal verlassen haben. 1945 seien mehr als die Hälfte der Länder dieser Erde Kolonien gewesen. Die UNO habe das Ziel der Dekolonisation erreicht, das letzte Land – die Inselgruppe Palau – habe 1994 ihre Unabhängigkeit von den USA erreicht. „Ist das nichts?“ Wir streifen über teppichgedämpfte Flure zum Großen Plenarsaal. Sitz der UN-Vollversammlung. Vor einem Bildschirm mit den 17 Zielen der UN bis 2030 – Abschaffung des Hungers bis sauberes Wasser für alle – sagt der Guide: „Heute haben wir weltweit das Wahlrecht für Frauen. Wer hat das Stimmrecht als erstes eingeführt?“ – Eine Französin ruft Neuseeland. „Richtig, 1893. Und wer als Letztes?“ – „Das waren wir, erst 1971“, bemerkt ein Ehepaar aus der Schweiz, verlegen lächelnd. Der Guide grinst: „Sehen Sie. Die Welt ändert sich. Das Beste: alle können sich auf die UN-Charta berufen. Ist doch eine Menge!“

 

Die Statue Saint Agnes hat im August 1945 wie durch ein Wunder den Atomschlag von Nagasaki überstanden. Nur die Rückseite ist verkohlt.

 

Im großen Saal erzählt der UN-Guide von Fidel Castro, der statt fünfzehn Minuten vier Stunden geredet hat. Danach folgt die berühmte Anekdote von Sowjetführer Nikita Chruschtschow. Als der philippinische Delegierte dazwischenrief, zog Chruschtschow den Schuh aus und polterte mit ihm auf das Rednerpult. „Mehr Gewalt gab es in diesem Saal nicht“, lacht der Guide. Die Stunde ist um, die Tour zu Ende. Es geht zum Ausgang, vorbei an der Statue von Saint Agnes aus Nagasaki, die wie durch ein Wunder die Atombombe am 9. August 1945 heil überstand. Nur ihre Rückseite ist rußgeschwärzt. „Noch Fragen?“ –  Nein. Beifall brandet auf. Auf Wiedersehen in dem Haus, das so viele Hoffnungen schürt und mindestens so viele Enttäuschungen produziert hat. Eine große Menschheitsidee, langsam wie eine Schnecke. Aber eine UN, die dennoch unverzichtbar ist. Ein Besuch, der sich lohnt.

 

The Arc of Return. 2015 weihte die UN das Mahnmal für die Opfer der Versklavung ein. (nur mit Besucherausweis zugänglich)

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