Noch einen Doppelten!
„Er hat sechzehn doppelte Whiskey getrunken – an einem Abend“, erzählt der junge Kellner im Trubel der vollen, altenglischen Kneipe. An den Tresen lärmt eine Gruppe junger Studenten. „Er hat hier in der Nähe gewohnt, war jeden Abend hier.“ Auf riesigen Flachbildschirmen links und rechts der historischen, hölzernen Eicheneinrichtung aus dem 19. Jahrhunderte flimmert Basketball. NBA-Playoffs. New York Knicks vs. Miami Heat. „Er war ein großer Dichter. Ja, das war er!“, ruft der Kellner noch. Seine Augen leuchten, dann verschwindet er, um seinem Job nachzugehen. Ich entdecke den standhaften Whiskeytrinker seitlich von den Tresen in der linken Ecke. Dort hängt Dylan Thomas im stabilen, goldenen Rahmen. Der Mann wurde 39 Jahre alt. Ein genialer Dichter und begnadeter Trinker. Das White Horse Tavern, seine Lieblingskneipe in Greenwich Village, überlebte er nicht. Der Kellner zwinkert mir noch mal zu. Dylan Thomas lebt weiter.
Wer war Dylan Thomas? Der Waliser gilt als Ausnahme-Lyriker des 20. Jahrhunderts, ein gefallener Engel, Trunkenbold und Schürzenjäger. War er der Village Drunk, der Dorfsäufer? Es gibt viele Klischees, die Dylan Thomas (1914 – 1953) angehängt wurden. Er bleibt ein weltberühmter Unbekannter. Bereits zu Lebzeiten war Dylan Thomas ein Multimedia-Star, und er hat mit seinen Versen viele Künstler beeinflusst: Bob Dylan, Igor Strawinsky, die Rolling Stones und die Beatles. Die Schauspielerin Catherine Zeta Jones, selbst Waliserin, nennt ihre eigene Produktionsfirma „Milchwald“. Van Morrison und John Cale haben Songs nach Thomas-Versen komponiert. Van Morrison widmete ihm sein Lied „For Mr. Thomas“. John Cale „Velvet Underground“ vertonte seine Gedichte.
Seine berühmteste Geschichte heißt „Unter dem Milchwald“, übersetzt von Erich Fried. Zwanzig Jahre hat er an jedem Wort gefeilt. Die Kleinstadtgeschichte spielt in Llarregub. Rückwärts gelesen bedeutet Bugger all = Rein gar nichts. Die Nichtsnutze. An der Kneipe steht: „Drink till late“, was sollte man auch sonst tun? Ein Frühlingstag. In einer mondlosen Nacht beginnt alles. Stunden, in denen die Toten sprechen, die Ertrunkenen. Bald melden sich die Einsamen und Liebenden in ihren Betten zu Wort. Es ist nur ein Tag von vielen, dem andere vorausgegangen sind und andere folgen werden. Kneipenwirt Sindbad verzehrt sich nach der spröden Schullehrerin Gossemer Beynon, die auch will, aber sich nicht traut. Briefträger Willy Nilly kann den Empfängern immer erzählen, was drinsteht, weil seine Frau alle Briefe aufdampft. Beim aufbrausenden Metzger Beynon gibt´s auch Katze. Den blinden Käptn Cat besuchen seine ertrunkenen Seeleute. Kritikerpapst Friedrich Luft war nach der Premiere 1955 aus dem Häuschen. „Seine quellende Sprache senkt sich wie ein warmer Regen über eine Landschaft des Alltags. Und siehe, nun blühen die Kleinstadtfiguren, werden spektakulär, werden in all ihrer Spießigkeit interessant, rund, tragisch oder komisch.“
So klingt der Dylan-Sound: „Anfangen, wo es anfängt: Es ist Frühling, mondlose Nacht in der kleinen Stadt. Sternenlos und bibelschwarz, die Kopfsteinpflasterstraßen still und der geduckte Liebespärchen- und Kaninchenwald humpelt unsichtbar hinab zur schlehen-schwarzen, zähen, schwarzen krähenschwarzen fischerbootschaukelnden See.“ Das großartige Stück wird wegen der siebzig Sprechrollen nur selten gespielt. Zu aufwändig. Aber das kleine Theaterdorf Netzeband, knapp hundert Kilometer nördlich von Berlin, zelebriert seit über 25 Jahren das Kultstück des bei uns nahezu unbekannten Dichters. Diesen Sommer wird wieder Ende Juni/Anfang Juli 2023 gespielt. Ein Erlebnis mit überlebensgroßen Puppen, 55 Stimmen vom Band und zum Abschluss die Dylan Thomas gewidmete Hymne: „Stairways to heaven“. Hingehen. Jede Minute lohnt sich.
Die Legende erzählt, Dylan Thomas habe den Riesenerfolg seiner ersten szenischen Lesung in New York im November 1953 drei Tage und Nächte lang im White Horse Tavern gefeiert. Danach sei er tot umgefallen. Die Bühnenpremiere hat Dichter Thomas jedenfalls nie erlebt. Ich trinke mein 9-Dollar-Bier aus und gehe mit meinem Freund hinaus in die laue Nacht von New York. Die Stadt grüßt mit dem nervigen Sirenensound vorbeirasender Rettungswagen.