„Wegen Feindbegünstigung“

Deutschland 1943. Hitlers Reich zwischen Stalingrad-Desaster und Endsiegversprechen. Goebbels trommelt im Berliner Sportpalast für den „totalen Krieg“. Ein heimlicher Flüsterwitz geht so: „Wer zehn neue Leute für die Partei wirbt, darf aus der Partei austreten; wer ihr zwanzig zuführt, erhält eine Bescheinigung, dass er ihr nie angehört hat.“ Witze, Kritik oder auch nur leise Zweifel am Endsieg sind äußerst gefährlich. Das muss der junge, talentierte Karlrobert Kreiten aus Düsseldorf erfahren. Der 26-jährige Starpianist („Der Paganini des Klaviers“) bereitet sich im März 1943 in der Berliner Wohnung einer Bekannten auf sein Konzert in der Philharmonie vor. Er ist dort zu Gast, darf am Blüthner-Flügel üben, schaut dabei unentwegt auf Hitler. In jedem Raum der großzügigen Altbauwohnung am Lützowufer 1 hängt ein Bild des „Führers“. Die 55-jährige Hausherrin Ellen Ott-Monecke ist überzeugte Nazi-Anhängerin. Das ahnt Kreiten, dennoch bleibt er sorglos. Sie ist doch eine alte Freundin seiner Mutter.

 

Der Pianist Karlrobert Kreiten (26. Juni 1916- 7. September 1943) mit Schwester Rosemarie. Quelle aller Fotos: http://karlrobertkreiten.de/

 

17. März 1943. Ein lockeres Frühstücksgeplauder nimmt einen verhängnisvollen Verlauf. Die beiden reden über den letzten alliierten Luftangriff. Der junge Kreiten kann den Mund nicht halten: Deutschland habe London zuerst angegriffen und trage damit die Schuld am Luftkrieg, antwortet er der klagenden Gastgeberin. Der Völkische Beobachter, das NS-Parteizeitung sei ein „Mistblatt. Alles Lug und Trug.“ Ellen Ott-Mohnecke ist entsetzt, sie hält dagegen. Kreiten antwortet: „Ich kann Ihnen nur raten, nehmen Sie die Führerbilder von den Wänden, denn sonst haben Sie große Unannehmlichkeiten.“ Die Frau kontert, der Führer sei ein Genie, der Krieg bald gewonnen: „Ja, wissen Sie denn alles das noch nicht. Kommen Sie vom Mond?“ Er steigert sich, Hitler sei krank, und einem solchen Wahnsinnigen sei nun das deutsche Volk ausgeliefert! … In zwei bis drei Monaten werde Revolution sein, und dann würden Hitler, Göring, Goebbels und Frick einen Kopf kürzer gemacht. Der Krieg sei längst verloren, was zum Untergang Deutschlands und seiner Kultur führen werde.

Der Tag ist gelaufen. Die beiden trennen sich unversöhnt. Kreiten absolviert in der Philharmonie ein umjubeltes Konzert mit Sonaten von Scarlatti und Mozart, Etüden von Chopin und dem Hauptwerk Franz Liszts Spanische Rhapsodie. „Das Publikum im Beethovensaal hält den Atem an – ein sensationeller Erfolg“, ist zu lesen. Was Kreiten nicht weiß. Seine Berliner Gastgeberin Ellen Ott bespricht sich mit ihren Hausnachbarinnen Frau Ministerialrat Annemarie Windmöller und Tiny von Passavant, eine ehemalige eher erfolglose Sängerin aus Düsseldorf. Alle drei Frauen sind absolut Hitlertreu und in der NS-Frauenschaft. Sie verfassen ein Wortprotokoll und melden den „vorlauten“ Pianisten bei der Reichsmusikkammer. Als nichts passiert und sie von einer Konzertreise Kreitens nach Florenz erfahren, legen sie nach – direkt bei Goebbels Propagandaministerium. Sie denunzieren den umjubelten Pianisten ein zweites Mal.

 

 

Jetzt schlägt das System zu. Kreiten wird am 3. Mai 1943 am Tag seines Konzertes in Heidelberg verhaftet. Er wird nach Berlin ins Prinz-Albrecht-Palais verbracht. Im Gestapo-Hauptquartier wird er wochenlang verhört, schließlich nach Moabit in U-Haft verlegt. Er hungert, kämpft mit Wanzen, übt auf dem Tisch mit den Händen seine Klaviersonaten, hofft inständig, dass alles nur ein Irrtum sei. Familie Kreiten bittet Prominente wie den Dirigenten Wilhelm Furtwängler um Unterstützung, bemüht sich auf allen Wegen um Freilassung. Keine Reaktion. Aus dem Nichts, ohne die Anwälte der Familie zu informieren, wird Karlrobert Kreiten am 3. September 1943 im Schnellverfahren von Volksgerichtshof-Präsident Roland Freisler zum Tode verurteilt – wegen „Feindbegünstigung und Wehrkraftzersetzung“. Freisler brüllt, Kreiten habe sich „für immer ehrlos“ gemacht; er sei „in unserem jetzigen Ringen – trotz aller beruflichen Leistungen als Künstler – eine Gefahr für unseren Sieg“.

 

Karlrobert mit seiner geliebten Mutter Emmy. 1940. Der Pianist steht vor einer glänzenden Zukunft.

 

Am 7. September 1943 um 8 Uhr früh wird Karlrobert in Plötzensee eingeliefert. Haus III, das sogenannte Todeshaus, der Hinrichtungsraum und selbst die Guillotine sind wenige Tage zuvor durch einen Bombenangriff schwer beschädigt worden. Drei französische Gefangene konnten sogar fliehen.  Doch die NS-Justiz kennt kein Erbarmen. Am Abend des 7. September lässt sie alle Todeskandidaten im Hof antreten. In Gruppen zu jeweils acht Personen werden die Unglückseligen – darunter Karlrobert Kreiten – an einem Stahlträger wie im Schlachthof aufgehängt, immer jeweils acht, insgesamt 186 Menschen. Der „Massenmord“, so Anstaltspfarrer Harald Poelchau später, bei Kerzenlicht, Strom gibt es nach dem Bombenangriff nicht, dauert viele Stunden. Kreitens letzte Worte sind: „Macht euch keinen Kummer um mich“. Sein Sterben dauert mehrere Minuten. Amtlicher Todeszeitpunkt ist der 7. September 1943, 22.50 Uhr. Der junge Chopin-Interpret, das gefeierte „pianistische Phänomen der Zukunft“ wird 27 Jahre alt.

 

„Einlieferungsschein“ in Berlin-Plötzensee vom 7. September 1943.

 

Eine Woche nach seiner Hinrichtung ist im 12-Uhr-Blatt ein Kommentar über den „ehrvergessenen Künstler“ zu lesen: „Es dürfte heute niemand Verständnis dafür haben, wenn einem Künstler, der fehlte, eher verziehen würde als dem letzten gestrauchelten Volksgenossen. Das Volk fordert vielmehr, dass gerade der Künstler mit seiner verfeinerten Sensibilität und seiner weithin wirkenden Autorität so ehrlich und tapfer seine Pflicht tut, wie jeder seiner unbekannten Kameraden aus anderen Gebieten der Arbeit. Denn gerade Prominenz verpflichtet!“ Der Durchhaltetext im Sound einer Hinrichtungshymne stammt aus der Feder von Werner Höfer, nach dem Krieg jahrzehntelang Leiter des populären WDR-Internationalen Frühschoppen. Als der erfolgreiche Moderator 1987 enttarnt wird, behauptet er, die „entscheidende Stellen seien hineinredigiert worden“.

 

Er wurde nur 27 Jahre alt. Karlrobert Kreiten liebte die Leichtigkeit des Seins, sein Klavier, das offene Wort und die Wahrheit.

 

Die Kosten des Justizmordes muss Familie Kreiten übernehmen. Für Haft, Urteil und Hinrichtung stellen die NS-Bürokraten nach seinem Tod 639,20 Mark in Rechnung. Die drei Denunziantinnen bleiben nach dem Krieg unbehelligt. Kurz vor Weihnachten 1948 stellt die Kölner Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen ein. Zu viele Widersprüche und Ungereimtheiten, heißt es, dazu fehlende konkrete Beweise, wer die Anzeige tatsächlich initiiert habe. Der Justizmord an Karlrobert Kreiten wird nie gesühnt. Was bleibt, ist eine leicht verkratzte Chopin-Aufnahme aus dem Jahre 1934 und der Auftrag an uns, solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht zu vergessen. Es darf sich nicht wiederholen. Gefunden habe ich die unglaubliche Geschichte des Pianisten Kreiten bei:

Oliver Hilmes. Schattenzeit. Deutschland 1943: Alltag und Abgründe. Empfehlenswert!

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