Archive for : Juli, 2023

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The Voice

Als sie auf der Bühne im Rampenlicht Heal the World anstimmt, schaut eine Milliarde Menschen zu. Judith Hill hat ihren ganz großen Moment. Sie singt am 7. Juli 2009 auf der bewegenden Trauerfeier für Michael Jackson den Solopart. Der Superstar wird verabschiedet, Judith das Background-Girl hat den großen Auftritt. Endlich kann das Multitalent zeigen, was sie kann. Sie ist 25 Jahre jung, voller Lust und Leidenschaft, Menschen mit ihrer Stimme zu verzaubern. Eigentlich sollte sie gemeinsam mit Michael Jackson am 13. Juli 2009 auf Tour gehen, um mit ihm  „I will be missing you“ im Duett zu präsentieren. Doch dazu kommt es nicht. Der Sensenmann war schneller. Michael Jackson stirbt viel zu früh. Ein paar Jahre später veröffentlicht Judith Hill mit Prince ihr Debüt-Album Back in Time. Mehr noch: Sie lebt mit ihm zusammen. Niemand weiß davon. Ihr Geheimnis lüftet das „herausragende Powerpaket aus Los Angeles“, so der Rolling Stone, erst nach dem gleichfalls frühen Tod von Prince im April 2016. Judith Hill ist diskret und umworben, richtig berühmt wird sie nicht. Sie bleibt das Background-Girl.

 

 

2015 setzt sich Judith in der Talentshow „The Voice“ durch. Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Die Tochter der japanischen Pianistin Michiko und des schwarzen Funk-Bassisten Robert „Pee Wee“ Hill veröffentlicht ihr erstes eigenes Album. Musik war ihr in die Wiege gelegt. Judith komponierte bereits mit vier Jahren ihre ersten kleinen Stücke. In der hochmusikalischen Familie gingen Stars  ein und aus. Judiths Eltern standen mit Bob Dylan, Chaka Khan, Wayne Shorter oder Bill Preston auf der Bühne. So nutzen Tochter Judith Talent und Kontakte. Sie startet als Back-Vocal bei Stevie Wonder oder George Benson. In dem Doku-Film „20 Feet from Stardom“ ist sie eine der unbekannten Heldinnen. Frauen, die im Background den Sound der Stars veredeln, aber musikalisch ein Schattendasein führen. Millionen kennen ihre Stimmen, einen Namen haben sie nicht. Die im Dunkeln sieht man nicht…

 

 

2021 heißt es: „Baby, I`m Hollywood“. Ihr neues Solo-Album. Jetzt zeigt Judith Hill ihre Bandbreite. Sie singt nicht nur, sie spielt selbstbewusst und gekonnt Gitarre und Piano. Ihre Soul-getränkte Stimme verleiht den Songs Flügel, während Schlagzeug und Bass mit bretthartem Funk die Stücke vorantreiben. Das Besondere: Die mittlerweile 39-jährige US-Amerikanerin performt mit ihren Eltern. Mutter Michiko brilliert am Piano, Vater „Pee Wee“ treibt den Bass voran.

Familie Hill kommt im Herbst nach Europa. Dreimal tritt Judith mit ihren Eltern in Deutschland auf. Leider fehlen die großen Bühnen, die Judith verdient hätte. Hier die Daten: 16. Oktober 2023 Zülpich (NRW), 22. Oktober Bremen, 25. Oktober Aschaffenburg. Es wird Zeit, dass die großartige Musikerin aus Los Angeles endlich auch in Europa ein größeres Publikum findet. Sie ist längst mehr als das Background-Girl, das wunderbar singen kann, aber niemand kennt.

 

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Sommerträume

Irgendwie ist alles Mist. Das typische 2023er-Lebensgefühl in Zeiten von Hitze, Krieg, Klimawandel und Ungleichheit verharrt in starrer Gleichgültigkeit. So viel Müdigkeit und Erschöpfung. „Ich bin zu matt für eine gute Wut.“ Im Netz halten die meisten ihre Identität für etwas besonders Kostbares, gleichzeitig will niemand auf etwas festgelegt werden. Sortenrein soll es im Leben zugehen. Bei den Rechten und Völkischen sowieso. Bei den Linken besonders in den eigenen Reihen. Wer anders denkt, ist AfD, Nazi oder Rassist. Die Mitte schüttelt ratlos den Kopf. Doch die allermeisten gehen auf Tauchstation. Auf TikTok, Twitter und Insta hat der Rausch der Eigenliebe und Fremdbeobachtung die allerletzten Reste Privatheit erobert. Das Anprangern feiert im Sekundentakt Triumphe. Sei der/die Coolste. 24/7.

 

Banksy. Mädchen mit Ballon.

 

Im Juli leuchtet der Klatschmohn am Feldrand, hell und schamrot-schüchtern wie ein junges Pärchen, nach einem beglückenden Date. Ich radele durch die glühende Mark Brandenburg und träume von einem Verlag, der meinen neuen Text drucken will. Da sagt meine Heldin Lisa: „Alle drei Sekunden verhungert in dieser Welt ein Kind. Und wir regen uns über geänderte Wagenreihung auf. Was für eine kaputte Welt!“ Lisa fährt fort: „Jeder von uns ist allein zu schwach, um etwas zu verändern, daher ändern wir nichts. Wir überlassen die Veränderungen den Mächtigen, den Reichen, den Gierigen. Sie halten zusammen. Wenn es um ihre Beute geht. Danach streiten sie sich um den Anteil ihrer Beute, zerfleischen sich gegenseitig. Aber das gemeinsame Ziel eint sie.“

 

UNICEF-Foto des Jahres 2023. Federico Rios, Kolumbien.

 

Lisa träumt von Wüstenblumen und neuen Ideen im Land. Einige hat sie verraten:

+ „Gebt die Dächer frei! Ideal in Berlin, da einheitliche Traufhöhe in vielen Straßen: Baut Begegnungsstätten auf den Dächern von Haus zu Haus! Gern auch mit Brücken über die Straßen in luftiger Höhe.“

+ „Wie wäre es mit einem Zeitkaufhaus, wo private Spenden gegen ehrenamtlich geleistete Zeit eingetauscht werden können?“

+ „Müllabgabe-Stationen einrichten – wer ein Kilo Müll in Parks gesammelt hat, bekommt einen Euro. Die Parks werden sauber, und die lästige Bettelei in den U-Bahnen nimmt ab!“

+ „Wer in eine kleinere Wohnung zieht, muss keine höhere Miete zahlen, damit Familien wieder Wohnungen finden.“

+ „Kronkorken werden von den Brauereien zurückgenommen, zu mindestens zwei Cent – das schont die Grünflächen.“

+ „Wie wäre es mit einem Lächeln? Kinder lachen 400mal am Tag. Erwachsene im Schnitt fünfzehn Mal.

+ Für Dich soll es frischen Erdbeeren regnen.“

 

Gewidmet den mutigen Lisas. Überall auf dieser Welt.

Istanbul. Türkei 2013. Foto: reuters4

Baton Rouge. USA 2016. Foto: Jonathan Bachman

Minsk. Belarus 2020.

Die ukrainische Autorin Wiktorija Amelina. Schwer verletzt bei einem russischen Raketenangriff. Gestorben am 1. Juli 2023, Mechnikov Hospital, Dnipro, Ukraine. Quelle: Wikipedia (Foto von 2015)

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Chausseestraße 131

Das vierstöckige Eckhaus beherrscht die laute, vielbefahrene Kreuzung an der Berliner Friedrichstraße, die sich hier zur Chausseestraße verwandelt. An der Fassade grauer DDR-Putz, verziert mit notdürftig verputzten Stellen, die wie ausgedrückte Pickel aussehen. Das dominante Gebäude wirkt wie ein vergessener Restposten in der Boomtown von Berlin-Mitte. An den Fenstern blättert Farbe ab, Hauseingang und Treppenaufgänge sind mit Graffitis beschmiert, der Hinterhof ist ein verwahrloster Gerümpel-Haufen. Zille lässt grüßen. Das Haus Chausseestraße 131 zeigt ungeschminkt die Spuren seiner bewegten Geschichte. Hier residierte einst der jüdische Mosse-Verlag. Ein halbes Jahrhundert später wohnte und lebte hier der Dichter Wolf Biermann. In seiner Wohnung entstand 1968 das legendäre Album „Chausseestraße 131“. Acht Jahre später flog er 1976 nach Schikanen, Auftrittsverbot und Rundum-Observation endgültig aus der DDR .

 

Chausseestraße 131. Ein Haus wie Berlin. Mit viel Licht und viel Schatten.

 

Heute lebt in der 190 Quadratmeter großen ehemaligen Biermann-Wohnung die Familie eines ehemaligen prominenten Linken-Vertreters. Das Haus selbst bietet einen bizarren Mix. Unter einem Dach versammeln sich eine typische Berlin-Mitte-Bar (Spezialität: „Wassermelonen-Japalénos-Margarita mit Taju, getrocknete Chili aus Mexiko“), ein neues Tapas-Restaurant – Motto: „Spanische Eleganz“ -, die Geschäftsstelle von Greenpeace, eine Immobilienfirma, die offenbar Eigentümerin des Hauses ist, eine Pizzeria und der Vintage-Kult-Laden OFT. Das Kürzel steht für „Ohne Frage toll“. Die Besitzerin sagt, ihr keineswegs preiswerter Laden für „handverlesene Einzelteile aus vergangenen Zeiten“ sei nicht nur „top aktuell“, sondern der „beste Laden in der ganzen BRD“. Selbstbewusstsein hat in der Chausseestraße 131 Tradition. Bescheidenheit wohnt woanders.

 

Hauseingang Chausseestraße 131. Ein Model von OFT präsentiert den neuen 2023er Sommer-Chic. Quelle: oft_vintage

 

Der berühmte Liedermacher Biermann wurde hier 1976 vertrieben, sein Mietvertrag sei angeblich nie gekündigt worden. Darüber gibt es unterschiedliche Versionen, wie so oft im Leben. Sicher ist: die Stasi übernahm die Biermann-Wohnung als getarntes Objekt zur Observation der gegenüberliegenden Ständigen Vertretung der BRD. Am 3. Dezember 1989, kurz nach Öffnung der Mauer, klopften die Biermanns aus Hamburg an die Tür. Ein Mann öffnete, wies sie ab. „Ich kenne sie nicht.“ Heute gehört das Haus einer AGROMEX Invest GmbH. Franz Rembold leitet deren Verwaltung, die sich auf jüdische Erben spezialisiert hat. So viel ist bekannt: Eigentümer der 1890 erbaute Chausseestraße 131 waren bis zum Zwangsverkauf 1938 die Schwestern Elise und Therese Brasch. Sie mussten das Haus für 270.000 RM unter Wert an einen Autoteilehändler verkaufen. Elise konnte sich nach England retten. Therese nahm sich im März 1942 in Berlin das Leben, nachdem sie den Deportationsbeschluss erhalten hatte.

 

 

Nach dem Krieg wurde das Haus enteignet. Die Kommunale Wohnungsverwaltung übernahm das mächtige Eckhaus. Helene Weigel vom Berliner Ensemble konnte dort für den jungen Regieassistenten Biermann eine Bleibe ergattern. Nach deutscher Einheit und Rückübertragung recherchierte die Firma AGROMEX weltweit über 100 Erben aus den Brasch-Familien – von Australien bis Uruquay. Laut Berliner Zeitung kündigten die AGROMEX-Vertreter 2019 eine umfassende Renovierung des Hauses an, „keine Pinselsanierung“. Passiert ist nichts. Der gegenwärtige Zustand ist unklar.

 

Die DDR war anders. Biermann`scher Freundeskreis in der Chausseestraße 131. Ein offenes Haus, trotz aller Verbote und Stasi-Überwachung.

 

Für den einst ausgebürgerten Liedermacher Wolf Biermann bleibt die Chausseestraße 131 eine offene Wunde. Der mittlerweile 86-jährige Sohn eines in Auschwitz ermordeten Hamburger Kommunisten wünscht sich einen Ort für verfolgte Künstler. Stipendien sollen für jeweils ein Jahr vergeben werden, seine alte Wohnung böte dadurch Menschen aus aller Welt neue Chancen. Wäre das nicht großartig, allemal sinnvoller als nach einer Sanierung ein weiteres Renditeobjekt für Immobilienjäger auf den Markt zu werfen? Ein neuer Kreativ-Ort für Kunst, Dichtung und Widerspruch wäre OFT, ohne Frage toll.

 

Neue kreative Ideen aus der Chausseestraße 131. Auf dem Stromkasten, im Hintergrund die frühere Ständige Vertretung der BRD. Quelle: oft-vintage, Juli 2023.

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Wagners Götterdämmerung

Die Wagner-Gruppe ist in aller Munde. Putins Privatkrieger. Putins Söldner, Sträflinge und Pseudo-Putschisten. Warum eigentlich Wagner? Richtig. Gemeint ist Richard Wagner, der deutscheste aller Komponisten. „So sei des Reiches Kraft bewährt!“, heißt es im dritten Akt von Lohengrin. Solche Sätze gefielen Hitler – und auch Dmitri Utkin, Oberstleutnant der russischen 2. Spezialaufklärungsbrigade. 2014 gründete der Berufssoldat seine Privatarmee mit dem „Kampfnamen Wagner“. Utkin, Sohn eines Georgiers, wuchs bei seiner Mutter in der Ukraine auf. Zielstrebig baute er seine anfangs zehn Mann-Truppe zur Tausende Söldner zählenden starken Privatarmee aus. Sie kämpft im Ukraine-Krieg seit 2014 auf Seiten der Separatisten. 2017 wechselte Utkin zur Oligarchengruppe von Jewgeni Grigoschin, dem heutigen Wagner-Boss.

 

So sieht sich die Wagner-Gruppe selbst. Propaganda-Foto aus dem Ukraine-Krieg, August 2022. Quelle: telegram

 

Wagner-Gründer Utkin ist Anhänger der Ästhetik und Ideologie des Dritten Reiches. Der Russe trägt eine Tätowierung der Waffen-SS  und einen Reichsadler mit Hakenkreuz als Tätowierung auf der Brust. Während seiner Einsätze in Luhansk (Donbass) im Rahmen seines Einsatzes im Russisch-Ukrainischen Krieg legte er Wert darauf, dass seine Söldner Helme tragen, die denen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg ähneln. Folgerichtig wählte er den Kampfnamen „Wagner“, Richard Wagner stand Pate.

Richard Wagners berühmt-berüchtigter Walkürenritt aus dem „Ring des Nibelungen“ dient häufig zur Untermalung für musikalische Kriegsverherrlichung. Hitlers Lieblingskomponist beschreibt im „Ring“ den Machtkampf zweier verfeindeter Systeme. Beide gehen am Ende unter. So liegen Parallelen zwischen Wotans Reich und Putins Welt auf der Hand. Wotan, der oberste Gott zürnt. Er beschließt die Welt untergehen zu lassen, weil er von den Menschen enttäuscht ist.  Alles geht schief, alles wird zerstört. Es folgt der Untergang der Götter im Weltenbrand, aus dem am Ende eine bessere Welt hervorgehen soll.

 

 

Wagners Walkürenritt mit seinen nach oben jubelnden Fanfaren liefert auch in Francis Ford Coppolas Vietnam-Kriegsfilm Apocalypse Now den passenden Sound für Tod, Zerstörung und Untergang. Gewiss ist: Der Komponist kann sich nicht wehren. Wie sieht die Wirklichkeit heute aus? Bis Ende Juni 2023 sind mindestens neuntausend tote Zivilisten in der Ukraine zu beklagen. Die Zahl der getöteten Soldaten bleibt auf beiden Seiten Staatsgeheimnis, liegt aber sicher mindestens um das Zehnfache höher. Im Ukraine-Krieg gibt es keine Sieger, nur Verlierer.

 

 

Putin hat sein Land in ein lupenreines Militärregime verwandelt, gespickt mit hochbewaffneten Privat-Armeen. Eine davon ist die Wagner-Truppe. Nationalismus und Imperialismus liefern das moralische Gerüst, beim zeitgleichen Vordringen einer Gefängniskultur in jede Pore des Alltags. Im heutigen Russland, so Autor Dmitri Gluhkovsky, existiere kein Schutz des Bürgers mehr durch Regeln oder Gesetze. Expansion sei die einzige gemeinsame Idee, die Russland noch zusammenhalte. Willkommen in Putins Wotan-Wagner-Reich. Eine Söldnerarmee mit dem Tarnnamen „Wagner“ marodiert mit dem Kampfnamen von Hitlers Lieblingskomponisten gegen die „Ultrafaschisten in Kiew“. Wie krank ist die Welt, die diesen Unsinn glaubt? Bis zur Götterdämmerung.