Chausseestraße 131

Das vierstöckige Eckhaus beherrscht die laute, vielbefahrene Kreuzung an der Berliner Friedrichstraße, die sich hier zur Chausseestraße verwandelt. An der Fassade grauer DDR-Putz, verziert mit notdürftig verputzten Stellen, die wie ausgedrückte Pickel aussehen. Das dominante Gebäude wirkt wie ein vergessener Restposten in der Boomtown von Berlin-Mitte. An den Fenstern blättert Farbe ab, Hauseingang und Treppenaufgänge sind mit Graffitis beschmiert, der Hinterhof ist ein verwahrloster Gerümpel-Haufen. Zille lässt grüßen. Das Haus Chausseestraße 131 zeigt ungeschminkt die Spuren seiner bewegten Geschichte. Hier residierte einst der jüdische Mosse-Verlag. Ein halbes Jahrhundert später wohnte und lebte hier der Dichter Wolf Biermann. In seiner Wohnung entstand 1968 das legendäre Album „Chausseestraße 131“. Acht Jahre später flog er 1976 nach Schikanen, Auftrittsverbot und Rundum-Observation endgültig aus der DDR .

 

Chausseestraße 131. Ein Haus wie Berlin. Mit viel Licht und viel Schatten.

 

Heute lebt in der 190 Quadratmeter großen ehemaligen Biermann-Wohnung die Familie eines ehemaligen prominenten Linken-Vertreters. Das Haus selbst bietet einen bizarren Mix. Unter einem Dach versammeln sich eine typische Berlin-Mitte-Bar (Spezialität: „Wassermelonen-Japalénos-Margarita mit Taju, getrocknete Chili aus Mexiko“), ein neues Tapas-Restaurant – Motto: „Spanische Eleganz“ -, die Geschäftsstelle von Greenpeace, eine Immobilienfirma, die offenbar Eigentümerin des Hauses ist, eine Pizzeria und der Vintage-Kult-Laden OFT. Das Kürzel steht für „Ohne Frage toll“. Die Besitzerin sagt, ihr keineswegs preiswerter Laden für „handverlesene Einzelteile aus vergangenen Zeiten“ sei nicht nur „top aktuell“, sondern der „beste Laden in der ganzen BRD“. Selbstbewusstsein hat in der Chausseestraße 131 Tradition. Bescheidenheit wohnt woanders.

 

Hauseingang Chausseestraße 131. Ein Model von OFT präsentiert den neuen 2023er Sommer-Chic. Quelle: oft_vintage

 

Der berühmte Liedermacher Biermann wurde hier 1976 vertrieben, sein Mietvertrag sei angeblich nie gekündigt worden. Darüber gibt es unterschiedliche Versionen, wie so oft im Leben. Sicher ist: die Stasi übernahm die Biermann-Wohnung als getarntes Objekt zur Observation der gegenüberliegenden Ständigen Vertretung der BRD. Am 3. Dezember 1989, kurz nach Öffnung der Mauer, klopften die Biermanns aus Hamburg an die Tür. Ein Mann öffnete, wies sie ab. „Ich kenne sie nicht.“ Heute gehört das Haus einer AGROMEX Invest GmbH. Franz Rembold leitet deren Verwaltung, die sich auf jüdische Erben spezialisiert hat. So viel ist bekannt: Eigentümer der 1890 erbaute Chausseestraße 131 waren bis zum Zwangsverkauf 1938 die Schwestern Elise und Therese Brasch. Sie mussten das Haus für 270.000 RM unter Wert an einen Autoteilehändler verkaufen. Elise konnte sich nach England retten. Therese nahm sich im März 1942 in Berlin das Leben, nachdem sie den Deportationsbeschluss erhalten hatte.

 

 

Nach dem Krieg wurde das Haus enteignet. Die Kommunale Wohnungsverwaltung übernahm das mächtige Eckhaus. Helene Weigel vom Berliner Ensemble konnte dort für den jungen Regieassistenten Biermann eine Bleibe ergattern. Nach deutscher Einheit und Rückübertragung recherchierte die Firma AGROMEX weltweit über 100 Erben aus den Brasch-Familien – von Australien bis Uruquay. Laut Berliner Zeitung kündigten die AGROMEX-Vertreter 2019 eine umfassende Renovierung des Hauses an, „keine Pinselsanierung“. Passiert ist nichts. Der gegenwärtige Zustand ist unklar.

 

Die DDR war anders. Biermann`scher Freundeskreis in der Chausseestraße 131. Ein offenes Haus, trotz aller Verbote und Stasi-Überwachung.

 

Für den einst ausgebürgerten Liedermacher Wolf Biermann bleibt die Chausseestraße 131 eine offene Wunde. Der mittlerweile 86-jährige Sohn eines in Auschwitz ermordeten Hamburger Kommunisten wünscht sich einen Ort für verfolgte Künstler. Stipendien sollen für jeweils ein Jahr vergeben werden, seine alte Wohnung böte dadurch Menschen aus aller Welt neue Chancen. Wäre das nicht großartig, allemal sinnvoller als nach einer Sanierung ein weiteres Renditeobjekt für Immobilienjäger auf den Markt zu werfen? Ein neuer Kreativ-Ort für Kunst, Dichtung und Widerspruch wäre OFT, ohne Frage toll.

 

Neue kreative Ideen aus der Chausseestraße 131. Auf dem Stromkasten, im Hintergrund die frühere Ständige Vertretung der BRD. Quelle: oft-vintage, Juli 2023.

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