Neue Wege

Es war ein 14. Mai. Mein Geburtstag. Doch als Rotterdam 1940 in Schutt und Asche gelegt wurde, war ich noch lange nicht auf der Welt. Erst achtzehn Jahre später sollte es so weit sein. Da waren die Trümmer von Rotterdam längst beiseite geräumt. Viele Städte in Europa erlitten das gleiche Schicksal. Dresden zum Beispiel im Februar 1945, oder Berlin. Der Krieg kehrte dorthin zurück, wo er angezettelt wurde. 1945 bauten die Holländer ihre zerstörte Stadt an der Maas wieder auf. Im Zentrum Rotterdams blieb nur die Ruine der Laurenzkirche (Laurenskirk) stehen. Verloren zeugte sie von einer gigantischen Zerstörungsorgie. Die Deutschen hatten Rotterdam in Grund und Boden bombardiert, um die Kapitulation zu erzwingen. 57 Bomber der I. Gruppe des Bombergeschwaders von Oberst Walter Lackner machten 2.6 qkm der Innenstadt dem Erdboden gleich. Mehr als 800 Zivilisten kamen ums Leben. Die Laurenskirk aus dem 16. Jahrhundert blieb. Sie wurde wieder aufgebaut.

 

Die Laurenskirk in Rotterdam, nach dem deutschen Bombenangriff vom 14. Mai 1940. Quelle: Wikipedia

 

Rotterdam ist die niederländische Stadt, die im II. Weltkrieg am heftigsten zerstört wurde. Damit hatten die Rotterdamer – ungewollt – die Chance, eine neue, moderne Stadt aufzubauen. Die Laurenskirk steht heute mutterseelenallein in einer Umgebung aus zugigen Plätzen, Fußgängerzonen, Hochhausburgen aus Beton und Glas. Wer enge Grachten und hübsche Patrizierhäuser sucht, ist in Rotterdam fehl am Platze. Trotz aller Modernisierungsschübe sind die Wunden des Krieges bis heute zu spüren. Es fehlt der Stadt etwas entscheidendes: die Seele. Tradition, Heimeligkeit, gemütliche Cafés und Plätze zum Verweilen wie zum Beispiel in Amsterdam sind Fehlanzeige.

 

Ein gelber Kubus-Riegel grüßt im neuen, modernen Zentrum von Rotterdam. Quelle: Wikipedia

 

Dennoch: Ein Häuserkomplex auf Stelzen unweit der Laurenskirk überrascht. Über einer riesigen, äußerst ungemütlichen Verkehrskreuzung schieben sich 51 gelbe Kubushäuser. Die Überbauung fällt sofort auf. Häuser würfelartig aufeinandergestapelt, auf bizarre Weise in sich verdreht und verschachtelt.  Dazu schräge, stürzende Außenwände. Sicher: Ein wenig ist die Anlage in die Jahre gekommen. Fast vierzig Jahre sind seit ihrer Fertigstellung 1984 vergangen. Doch die gelben UFO-Kisten mitten im geschundenen Zentrum zeugen von Mut und städtebaulicher Risikobereitschaft. Die laute Kreuzung wird gedeckelt. Im öffentlich zugänglichen Raum der ersten Etage finden sich erstaunlich lärmgedämpft Läden, Restaurants und ein Hostel, ein Kinderspielplatz und insgesamt 38 Wohneinheiten.

 

Neues Leben, mitten in der Stadt. Piet Bloms Kubushäuser in Rotterdam.

 

Küche mit stürzenden Wänden und Fenstern.

 

Eine Musterwohnung kann besichtigt werden. Der holländische Architekt Piet Blom orientierte sich am Vorbild eines Baumhauses. Auf drei Etagen sind 100 qm Wohnfläche aufgetürmt. Es geht wie in alten Grachtenhäusern über schmale, steile Treppen nach oben. Fit sollte man sein. Bilder aufhängen ist kaum möglich. Doch die Perspektiven auf die Stadt sind faszinierend. Ganz oben auf der Dachetage lohnt ein Panorama-360-Grad-Rundblick über Rotterdam, Hafen und die restaurierte Laurenskirk. Rotterdam ist längst aus Ruinen auferstanden. Die Kubushäuser stehen für eine Vision. Sie versprechen eine menschengerechte Stadt zum Leben und Wohnen. Es wäre schön, wenn nicht wieder vierzig Jahre vergehen, bis neue, zukunftsweisende Projekte auf den Weg gebracht werden. Rotterdam, oft als hässlich und seelenlos geschmäht, zeigt, dass es geht. Man muss nur neue Wege gehen.

 

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