Typisch Berlin
Rotz an der Backe? Na, und! Was soll´s? – Wirklich große Städte haben ihre eigenen Gesetze. Die Melodie lautet: Anonymität, Massen, Tempo, Vielvölkergemisch. Es ist bunt, laut, schmutzig. Was geht? Große Klappe, schräge Typen, merkwürdige Gestalten. Ein Käfig voller Narren: Außenseiter, Glückssucher, Selbstdarsteller. Der Bühnenvorhang öffnet sich jeden Tag. Die hektische Metropole mitten in der märkischen Streusandbüchse pflegt seit einem Jahrhundert, seit den schmutzig-goldenen Zwanzigern den Mythos von Babylon Berlin. Die Stadt an der Spree spült die besten und die schlimmsten Seiten der Menschheit nach oben. Freiheit und Toleranz vs. Respektlosigkeit und Gleichgültigkeit. Wer regiert die Stadt? Die politische Elite? Lobbyisten? Springers Bild? Oder die Woken, der rot-grüne Latte Macchiato-Mittelstand? Oder vielleicht etwa Nationalisten, Clans und Strippenzieher im Hintergrund? Jeder nach seiner Façon, ist das Einzige, worauf sich Berlin einigen sollte, einst wie heute.
Im Alltag prallen alle menschlichen Gefühlslagen aufeinander. Viele Emotionen haben sich längst in die Jagdgründe des Internets verlagert. Doch in Altbauten oder Plattenburgen, in engster Nachbarschaft gibt es umso mehr Gelegenheiten, worüber jede/r sich freuen, ärgern, anbandeln oder ausrasten kann. Überraschung: Die gute alte Zettelwirtschaft hält sich selbst im Chatbot-Zeitalter. Der gebürtige Münchner Joab Nist fotografiert und sammelt seit über einem Jahrzehnt solche Nachrichten an Türen, Hauswänden und Treppenhäusern. Es ist eine wunderbare Fundgrube. Der Neuköllner Nist schreibt: „Die Notizen sind wie die Menschen, die hier leben: direkt, laut, kreativ, tolerant, freiheitsliebend, skurril, einsam, romantisch und definitiv nicht auf den Mund gefallen. Und die Themen, die kommuniziert werden: Pure Alltagskultur in ihrer reinsten Form.“
Es geht um alles, was Menschen in nächster Nachbarschaft gemeinsam aushalten, erdulden und ertragen müssen. Laute Partys, falsche Klaviertöne, stinkende Katzenklos, geklaute Utensilien aller Art, heftige Liebesgeräusche bei offenen Fenstern, verschwundene Pakete, Müll. Kurzum: Die angeklebten Haus-Nachrichten künden von großen Kleinkriegen direkt vor der Haustür, von den täglichen Zumutungen, wenn Menschen (zu) dicht aufeinander leben und irgendwie miteinander klarkommen müssen. Eine Entdeckung: Notes of Berlin. Eine Seite, die jede Menge über das heutige Berlin und sein Personal erzählt. Im Guten wie im Schlechten. „Spiel endlich leiser, es nervt…!“