Archive for : April, 2024

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„Menschen glücklich machen“

„Scheiße, wir steigen auf“, hieß es 2019 auf einem Fan-Banner im Stadion an der Alten Försterei. Fünf Bundesligajahre später nach einem unfassbaren Fußball-Märchen bis ganz nach oben muss der Köpenicker Traditionsverein gerade aufpassen, nicht wieder abzusteigen. Aber bei Union zählt sowieso etwas anderes: Mit dabei sein, dazu gehören. Von der vierten Liga mit Auswärtsspielen gegen Torgelow oder Falkensee-Finkenkrug ging es über Bayern München bis in die Königsklasse gegen Real Madrid in der Champions-League. Die Allerwenigsten hätten Union, dem Underdog aus der Berliner Wuhlheide, diesen Aufstieg zugetraut. Was ist das Erfolgsrezept? Wer sind die Menschen hinter den Kulissen der Ost-Legende? Wer kümmert sich im Maschinenraum um die paar Dutzend Profis und die 64.466 Mitglieder, die den Traditionsverein aus der Wuhlheide zum größten Berliner Sportverein haben werden lassen?

 

 

Annekatrin Hendels Dokumentarfilm „UNION – die Besten aller Tage“ erzählt in gut zwei Kinostunden unaufgeregt eine Erfolgsgeschichte des Ostens. Von der vierten Liga bis in die Königsklasse. Zwei Jahre lang hat die Regisseurin den Club begleitet, von der Wäschefrau bis zum Präsidenten. Ein klassischer Fußballfilm ist es nicht geworden. Vielmehr eine Geschichte über die Balance zwischen Profigeschäft und Bodenhaftung. Über die vielen namenlosen Menschen hinter den Kulissen, die erzählen wie es der Arbeiter- und Traditionsverein immer wieder schafft, „Menschen glücklich zu machen, wenigstens eine Woche lang“, so Präsident Dirk Zingler. Bald wird klar: Das Geheimnis des Erfolges lautet: Teamleistung. Union-Urgestein Christian Arbeit, Stadionsprecher und Stimme des Vereins, verrät das Erfolgsrezept: Zusammenstehen und gemeinsam Dinge anpacken.

 

Nina Hagen singt die Union-Vereins-Hymne. Quelle: Wikipedia

 

Ohne Übertreibung: Union ist eine der wenigen Antworten auf das Auseinanderdriften der Gesellschaft. Zudem ein Club mit legendärer Berliner Schnauze, wo gibt es das im Fußballkommerz noch? Der legendäre „12. Mann“ sind die Fans. Vom Werkzeugschlosser bis zur Ärztin, vom Müllfahrer bis zur Professorin. Sie stehen für Leidenschaft, Gesänge und Choreos. Die legendären Fans („Eisern! – Union!“) haben das Stadion selbst ausgebaut, das Weihnachtssingen aus der Taufe gehoben, für ihren Verein Blut gespendet, sich um Benachteiligte gekümmert. Vor dem Spiel ertönt Nina Hagens Hymne, in Halbzeitpausen werden Namen verstorbener Mitglieder verlesen. Selbst nach schlimmen Niederlagen singen die Fans in der Alten Försterei, als gebe es kein Morgen. Der Fußball-Gott muss seinen treuesten Anhang auf den 18.395 von den Mitgliedern selbst gebauten Stehplätzen haben. Nur viertausend Menschen können im kleinen Stadion bequem sitzen. Gerade hier kann Sport Brücken bauen. Union kann die Mauern zwischen gesellschaftlichen „Blasen“ überspringen. Noch. Und wenn es nur für ein Spiel ist, aber immerhin.

 

Union Berlin. Die Jungs müssen den Ball ins Tor schießen. Aber wer sorgt dafür, dass der Laden läuft? Die Dokumentarfilmerin Annekatrin Hendel hat hinter die Kulissen geschaut und gibt überraschende Antworten. Quelle: Media Office.

 

Annekatrin Hendel: „Ich wollte die Leute im Verein nicht erklären, sondern erleben. Da kann jeder neue Tag der schönste aller Tage sein. Oder auch der Schlimmste.“ Was ist ihr Eindruck vom typischen Innenleben der Unioner: „Woche für Woche Ergebnisdruck, Siege, Niederlagen, Spielglück, Verletzungen. Immer sind alle am Limit – wie fangen die Leute das ab? Die Antwort ist: Zusammenhalt.“

 

Union Berlin lebt den Mythos von Kameradschaft und Zusammenstehen. Diese Tugenden sind wieder gefragt nach dem rasanten Aufstieg bis in die Königsklasse und dem – derzeit noch – drohenden Absturz in die Zweitklassigkeit,

 

In der Männerdomäne Fußball ragen bei Union einige Frauen heraus. Zum Beispiel Susanne Kopplin, von allen nur Susi genannt. Sie ist offiziell Mannschaftsleiterin. Eine Allrounderin, die „gute Fee“, die einzige Frau im zwölfköpfigen Profi-Trainer- und Funktionsteam. Die mittlerweile 61-jährige ist die Mutter der Kompanie, das „berühmte Mädchen für alles“. Gelernt hat sie Elektromontiererin für Fernsehelektronik, nach der Wende sattelte sie auf Bau- und Möbeltischlerin um. Seit 2016 ist die Ur-Berlinerin Zeugwärtin und Teammanagerin bei Union. Sie liest den Profis jeden Wunsch von den Lippen, schleppt Kisten, platziert die passenden Trikots in der Kabine, dirigiert den Busfahrer, kümmert sich um verlorene Seelen, tröstet in den bitteren Minuten der Niederlage. Bis in den Schlaf verfolgt Susi die Sorge, es könne etwas schief gehen. Susanne Kopplin gehört wie Präsident Zingler oder Stadionsprecher Christian Arbeit zu den Säulen von Union. Alle drei können keine Tore schießen, das müssen die Profis schon selbst leisten. Aber was wären die Kicker ohne die stillen Helden im Hintergrund? „Ohne Susi keine Bundesliga!“

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Zauber der Kunst

Die Karten gehen weg wie warme Semmeln. Die verwöhnte Kunstszene der Hauptstadt hat dieses Jahr einen echten Hingucker. Caspar David Friedrich. Seit Mitte April stürmt eine riesige Besucherschar „Unendliche Landschaften„, die Ausstellung über den pommerschen Kauz zu seinem 250. Geburtstag. Achtung Romantik! So viel Aufmerksamkeit für einen  Einzelgänger überrascht. Für einen, der am liebsten Kanarienvögel und Neurosen züchtete. Ein Frömmler, fernab vom etablierten Kunstbetrieb seiner Zeit. Zu Lebzeiten reichte das Einkommen gerade für Farbe und Leinwand. An der Dresdner Akademie wurde seine Bewerbung als Dozent 1820 abgelehnt. Begründung: er sei zu altmodisch. Jetzt pilgern Kunstfans aus aller Welt zu dem rothaarigen Mann, der zu Lebzeiten verarmt und vergessen und jetzt geehrt und gefeiert wird. In der Berliner Alten Nationalgalerie ist im Rahmen der großen Geburtstagsfeiern eines seiner kühnsten Bilder zu sehen. Der Mönch am Meer.

 

Der Mönch am Meer. 1810. Goethe war entsetzt.

Für Autor Florian Illies ist der Mönch der „Urknall der Romantik“, weil das Werk tiefe Gefühle auslöse. „Hier wird etwas ausgedrückt, was auch unserer Sinnsuche, was unserer Sehnsucht nach Geborgenheit, was unserer tiefen Sehnsucht nach Trost entspricht.“ Keine Frage: Romantik tut der Seele gut. In Zeiten, in denen die höchsten Ausgaben für Militär getätigt werden, der Hunger als Massenphänomen zurückgekehrt ist – und die Hoffnung schwindet, dass die Regierenden der Welt außer der Logik des Krieges noch kreative Kraft aufbieten könnten, die Dinge wieder ins Lot zu bringen.

Der einsame Mönch von 1810. Caspar David Friedrich quälte sich damit, übermalte es vielfach. Das Bild wurde immer dunkler. In dieser Zeit hatte der gebürtige Greifswalder seine Schwester und den Vater verloren. Goethe war entsetzt, als er Friedrich in seinem Dresdner Atelier besuchte.  Der Mönch sei viel zu schwermütig, mache den Betrachter depressiv. Florian Illies nennt den sturen Sonderling in seinem Buch Zauber der Stille einen Superstar der Romantik. Friedrich sei jedoch weder Nationalheiliger noch Heile-Welt-Maler, vielmehr ein Pionier des Naturschutzes.

 

Der Kreidefelsen auf Rügen. 1818. Das Bild malte er lange nach seiner Hochzeitsreise mit Caroline später in Dresden.

 

Weltberühmte Motive wie Der Kreidefelsen auf Rügen oder Auf dem Segler malte Friedrich 1818 nach seiner Hochzeitsreise mit Caroline Bommer. Die erste Frau, die der menschenscheue Kauz im Alter von vierundvierzig Jahren küsste. Vierzig Jahre malte der Landschaftsmaler in Dresden. Erfolglos. Von Ruhm keine Spur. „Meine Bilder sind leider in Verschiss“, notierte er in sein Tagebuch. Nach einem Schlaganfall malte er ein letztes, düsteres Bild: Meeresufer bei Mondschein. Nach seinem Tod 1840 wurde er rasch vergessen.

 

Wanderer über dem Nebelmeer. Die berühmte Rückenansicht. Die Hamburger Schau – Auftakt zum Caspar-David-Friedrich-Jahr – machte dieses Bild zu ihrem Motiv.

 

Erst im 20. Jahrhundert wird er wiederentdeckt. Der Maler, der Natur ein- und Kunst ausgeatmet hat, so Illies. Wir können ihn jetzt in der Berliner Alten Nationalgalerie auf der Museumsinsel erleben, später in Dresden und Greifwald. 2025 in New York. Kümmern Sie sich um Tickets. Sie werden im Museum sehr viele Rücken sehen, bis sie zum Meister der Rückenansicht vorstoßen. Friedrich malte die Menschen von hinten, weil Gesichter nicht seine Sache waren. Caspar David Friedrich hatte Probleme mit der Physiognomie. Geschickt verwandelte er seine handwerkliche Schwäche in ein Konzept und in eine überraschende Einladung: Jeder und Jede kann in seine Bilder eintreten und mit den Augen der Porträtierten ungestört in die Ferne schweifen. Mehr Sehnsucht geht nicht.

 

So sah er sich selbst. Caspar David Friedrich. Geboren am 5. September 1774 in Greifswald, stirbt am 7. Mai 1840 Dresden.

 

Caspar David Friedrich. Unendliche Landschaften. Alte Nationalgalerie. Bis 4. August 2024

Caspar David Friedrich. Wo alles begann. Albertinum Dresden, 24. August 2024 bis 5. Januar 2025

Caspar David Friedrich. The Soul of Nature. Metropolitan Museums in New York. Ab 8. Februar 2025 bis 11. Mai 2025

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Hunger auf Leben

Neunzig … und kein bisschen leise. Das ist Jean Ziegler. Sein Motto: „Empört Euch, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.“ Der große alte Mann aus Thun ist ein wahres Schweizer Gesamtkunstwerk. Bürgerschreck. Kämpfer gegen den Hunger. Soziologe und Publizist, dreißigfacher Buchautor, millionenfach verkauft und gelesen. Streitbar wie umstritten. Unermüdlich im Kampf gegen Hunger und Armut. Er sagt: Die Weltlandwirtschaft könnte problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren. Momentan leben rund acht Milliarden auf unserem Planeten. „Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet.“

Seine Schweizer Botschaft:  Hunger ist unerträglich. Ein lebenslanger Aufreger: Alle fünf Sekunden verhungere ein Kind unter zehn Jahren, wettert er, während fast alle anderen Menschen wegsehen. „Der Massenmord auf einem Planeten, der von Reichtum überquillt, ist der absolute Skandal unserer Zeit.“ Ziegler, langjähriger UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung attackiert, provoziert und nervt bis heute. Als Wanderprediger gegen Kapitalismus, Globalisierung und Rendite-Gier, gegen die Gleichgültigkeit der EU, gegen Machtinteressen von USA und gegen das System-Putin („Ein Massenmörder“). Dieses eidgenössische „Enfant Teribble“ hat weltweit viele Freunde und genauso treue Feinde. Ziegler unverdrossen: „Was wir jetzt brauchen, ist ein Aufstand des Gewissens, der Staaten zwingt, die nötigen Reformen durchzusetzen.“

 

Hans alias Jean Ziegler. *19.04.1934 in Thun. Schweizer Sohn eines Gerichtspräsidenten. Groß geworden in der Schweiz, der „Schatzkammer der Reichen“, „einem Land gewordenen Tresor“ (Süddeutsche Zeitung) Unermüdlicher Streiter gegen Armut, Hunger und Ungerechtigkeit.  Foto: Wikipedia

 

Wer ist dieser Mann, der mit seiner Frau – „Meine absolute Leidenschaft, eine beinharte Trotzkistin und Professorin für mittelalterliche Kunstgeschichte“ –im kleinen Winzerdorf Russin lebt und dort den weiten Blick hat: Auf den Mont Blanc und die noch höheren Problemberge dieser Welt. 1934 als Sohn eines calvinistischen Gerichtspräsidenten geboren, war sein Leben vorgezeichnet. „Mein Leben erschien mir wie ein Betongefängnis: studieren, Notar in Thun werden, heiraten, sterben. Eine Horrorvorstellung.“ Als Gymnasiast erlebte er eine «dramatische Pubertät», eine «Revolte mit unglaublicher Heftigkeit». Ein Schlüsselerlebnis prägte ihn. Er sah, wie Verdingkinder, Kinder armer Bauern auf dem heimischen Thuner Marktplatz an Wohlhabende „verscherbelt“ wurden. Wie Sklaven. Manche Kinder wurden als Zugochsen auf dem Feld eingesetzt. Ziegler: «Wenn mir Armut begegnete, war ich fassungslos.»

 

„Verdingkinder“ in der Schweiz.

 

Der junge Ziegler wollte nur noch von zu Hause weg, um am besten gleich die ganze Welt zu retten. Er ging nach Paris. Dort lernte er Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre kennen. Sie redigierte seine ersten Artikel und änderte im Pariser Café de Flore seinen braven Vornamen Hans („Wie langweilig!“) in Jean. In den 60ern chauffierte  Soziologe und Publizist Ziegler den berühmten Revolutionär Che Guevara zwölf Tage durch Genf. Abends schauten sie von der Terrasse auf die glitzernde Genfer Bucht. Der argentinisch-kubanische Freiheitskämpfer Che: „Siehst Du diese Stadt? Hier ist das Gehirn des Monsters. Hier bist Du geboren – hier musst du kämpfen.“ Ziegler folgte ihm nicht, sonst wäre er sicher längst tot. Er entschied sich für „den Weg der subversiven Integration“, wie er es ausdrückt,  „in die Institution eintreten und deren Kraft benutzen, um die eigenen Überzeugungen durchzusetzen.“

 

 

Sein subversiver Integrationsmarsch führte Ziegler bis in höchste UNO-Ämter. Er schaffte es zum obersten Armutsbekämpfer der Vereinten Nationen. Er musste erleben, wie zugleich mächtig-ohnmächtig eine solche Aufgabe Menschen werden lässt. Die Amerikaner wollten ihn absetzen, weil er Landbauern in Guatemala zu sehr aufgewiegelt habe. „Der ist Kommunist, der muss weg.“ UN-Generalsekretär Kofi Annan hielt zu ihm. Im Laufe der Jahre legte sich der unbequeme Schweizer in Reden, Handeln und in seinen Büchern mit Banken, Konzernen und Lobbyisten an. Ziegler wurde mehrfach wegen Ehrverletzung, Beleidigung, Ruf- und Kreditschädigung verklagt. Viele Prozesse kosteten ihn Millionen für Anwälte, Gerichte und Personenschutz. Nichts konnte ihn aufhalten.

 

Jean Ziegler liebt Mercedes Sosa. Sólo le pido a Dios. „Nur das Eine erbitte ich von Gott, dass das Leiden mich nicht gleichgültig lasse.“

 

Kaum zu glauben: Am 19. April 2024 feiert Jean Ziegler seinen neunzigsten Geburtstag. Hat sich sein lebenslanger Kampf gelohnt? Ist die Welt eine bessere geworden? Hungert niemand mehr? Die aktuellen Zahlen sind deprimierend, aber statt großer Reden legt Ziegler lieber auf drei Dinge Wert: Schuldenerlass für arme Staaten. Ende der Spekulation mit Nahrungsmitteln. Reform der UN und Abschaffung des Vetorechts. Das wären erste, wichtige Schritte. Ziegler: „Müssen wir verzweifeln? Nein, Was uns von den Opfern trennt, ist der Zufall des Ortes unserer Geburt. Hunger ist menschengemacht. Er kann morgen beseitigt werden.“ Letzte Frage: Wie lange will er eigentlich noch gegen Armut und Not streiten? Da bemüht er lächelnd seinen Haus- und Hofphilosophen, den Schriftsteller Victor Hugo: «Ich will lebend sterben.“

Wer mehr über Jean Ziegler erfahren will: Wie kommt der Hunger in die Welt? (2024)

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Soljanka für alle

Man nehme: Jagdwurst geschnitten. Ketchup. Gewürzgurken mit Brühe. Paprikaschoten Farbe egal. Zwiebel oder Schalotten. Passierte Tomaten. Wasser nach Bedarf. Salz und Pfeffer. Paprikapulver. Ausreichend Würfel Gemüsebrühe. Etwas Zucker. Saure Sahne. Zubereitungszeit eine gute Stunde. Für rund 250 Portionen bedarf es vieler helfenden Hände. So gelingt der ostdeutsche Klassiker, deutlich feiner als vor der Wende. Keineswegs jedermanns Sache. In heutigen fleischarmen Zeiten eher verschmäht. Aber: Es ist ein nahrhaftes Hauptgericht. Preiswert, schnell und lecker. Soljanka – das Festmahl zum 33. Geburtstag der Suppenküche Pankow, der größten Armenküche der Hauptstadt. Der Wunsch von Ehrengast Wolfgang Thierse, einst Bundestagspräsident. Die Soljanka wird in einem Kloster in Pankow serviert, kurz vor der früheren Mauer. Sitz der Franziskaner. Die Wollankstraße: Eine gute Adresse.

 

„Arm zu überleben ist eine Kunst. Wir helfen den Künstlern.“ Motto der Suppenküche Pankow. Quelle: Franziskaner

 

„Hast Du nicht etwas zu essen für uns?“ Das wurde Schwester Monika Anfang der neunziger Jahre gefragt. Sie war gerade aus dem Thüringer Eichsfeld in das frisch vereinte Berlin gezogen. Sie wollte helfen. So fing sie bei den Franziskanern im kleinen Kloster an der Wollankstraße an, für Menschen in Not eine warme Mahlzeit zu kochen. Guten Appetit! Die neue kostenlose Anlaufstelle sprach sich in Windeseile herum. Bis zu fünfhundert Menschen verharrten zur Mittagszeit im Hof der Franziskaner in langen Schlangen: Bei Wind, Wetter und Kälte. Der Sozialismus hatte seine Kinder in die neue Freiheit des Kapitalismus entlassen. Viele, zu viele kamen mit dem ruckartigen Wandel nicht klar. Der Andrang zur Armenspeisung nahm von Woche zu Woche zu. Das Motto der Suppenküche: „Arm überleben ist eine Kunst. Wir helfen den Künstlern.“

 

Täglich, außer Montags Suppe für alle. Quelle: Franziskaner

 

Dieses Willkommen gilt bis heute. Jeden Tag. Punkt 12.45 Uhr. Wenn die Glocke läutet, startet die Essensausgabe. Seit nunmehr dreiunddreißig Jahren. Eine warme Suppe für die Ärmsten der Armen. Bis zu 150.000 Portionen pro Jahr. Umsonst. Niemand wird nach einem Sozialausweis gefragt. Ein Segenswunsch gehört zur Tradition. In der Schlange wartet beispielsweise Alex: „1990 wurde mir die Arbeit genommen, weil eben diese Scheiß-Einheit kam. Die Suppenküche ist meine zweite Heimat.“ Sein Nachbar mit Schiebermütze pflichtet bei: „Pech gehabt. Arbeit verloren. Krank geworden. Frau gestorben. Nun bin ich allein. Zuhause kochen lohnt sich nicht für mich. Ja. Das Essen hier ist wunderbar.“ Zurzeit kommen täglich über zweihundert Menschen. Ihre Gründe: Wohnungskündigung, Firmenpleite und Obdachlosigkeit. Scheidung, Schulden oder karge Altersrente. Alkohol, Krankheit und Depression. In der Suppenküche wird niemand nach dem Warum gefragt.

 

Suppenküche Pankow. Seit 2004 mit neuem Anbau. Quelle: Franziskaner

 

Die Suppenküche erhält keinen einzigen Cent Steuer-oder Kirchengelder. Die Franziskaner wollen unabhängig bleiben. Das kleine Wunder ist gelungen. Rein auf Spendenbasis finanzieren sie Essensausgabe, Kleiderkammer und sozial-medizinische Versorgung. Franziskaner-Bruder Rudolf: „Ich habe selbst zehn Jahre in einer Obdachlosen-Siedlung gewohnt, im Ruhrgebiet. ich habe 25 Jahre bei psychisch Kranken in Psychiatrien gearbeitet. Das heißt: Wir Franziskaner sind gerne bei den Menschen am Rand.“ Die Suppenküche wird zu hundert Prozent aus Spenden finanziert. Das große Glück der Franziskaner: Ihnen wird weiter geholfen. Trotz Krieg, Krise und Inflation. Freiwillig, mit Geldspenden oder Kleidung. Über 150 Ehrenamtliche gehören zum Team. Ukrainische Frauen helfen in der Küche. Nicht wenige Ehren- und einige der Hauptamtlichen sind selbst ehemalige Notleidende.

 

Ein Beitrag im heute journal vom 22.12.2022

Was kann ich tun? Bernd Backhaus, Leiter der Suppenküche antwortet: „Wer kann, möge spenden. Jeder Euro zählt“. Und die anderen? „Ach“, ergänzt der baumlange Chef, „es reicht schon, die vielen Obdachlosen wahrzunehmen, anzuschauen. Nicht wegsehen. Wie wäre es mit einem Lächeln?“ Das sei ein erster Schritt. Wer mehr unternehmen möchte, könne  jederzeit ehrenamtlich mitmachen. Suppenküchen-Gründerin Monika gehört nicht mehr zum Team. Doch die Pionierin bleibt aktiv: „Ist doch klar. Ich kümmere mich jetzt um Frauen in Not. Schwangere, Alleinerziehende, Wohnungslose. Da habe ich mehr als genug zu tun. Ich komme kaum hinterher.“ Letzte Frage: Kann die Armenspeisung in Pankow eines Tages überflüssig werden? Zwei ältere Stammgäste mit Einkaufsporsche schütteln den Kopf: „Das werden wir nicht mehr erleben. Höchstens da oben im Himmel. Dort, wo das Paradies sein soll.“

Suppenküche Pankow. Wollankstraße 18. 13187 Berlin. Tel. 030/488 396 60. Geöffnet von Dienstag bis Sonntag, jeweils von 9:00 bis 11:30 und von 12:45 bis 14:30 Uhr.
Die Suppenküche hat auch an Feiertagen geöffnet, außer Ostermontag und Pfingstmontag.