Willkommen in Thüringen

Thüringen. Land der Chancen. Land der Extreme. Hier kann man mit 5%-Stimmenanteil für drei Tage Ministerpräsident werden. Danach musste FDP-Mann Kemmerich zwar zurücktreten, kann aber im September bei der nächsten Wahl wieder als Spitzenkandidat antreten. „Einmalig in Deutschland“, findet das Stern-Autor Martin Debes in seinem Buch: „Deutschland der Extreme“. Thüringen ist für ihn ein Land zwischen Weimar und Buchenwald. Ein Land, in dem vor genau hundert Jahren die erste bürgerliche Regierung durch eine völkische Partei toleriert wurde. Mit 2.1 Millionen Einwohnern ist Thüringen im Herzen Deutschlands eher unbedeutend, aber ein kleines Land mit großer Geschichte.

 

Ein Paar in Berka. Foto: Ludwig Schirmer. Vater von Ute Mahler, ein Müller. Er dokumentierte das Alltagsleben in seinem Dorf ab 1950.

 

Alles vereint sich im wunderschönen, bergigen Thüringer Wald. Weimarer Republik. Hitlers Muster-Gau. Erster Sturm auf eine Stasi-Zentrale, der erste linke Ministerpräsident der Bundesrepublik. Bodo Ramelow, seit zehn Jahren Chef der einzigen Minderheitsregierung Deutschlands, betont unverdrossen: Thüringen sei das Land der Chancen. 92 Weltmarktführer, darunter der größte Pizzaofen der Welt. Thüringen sei ein Land mit Geschichte. Hier wurde Martin Luther zum Mönch, übersetzte die Bibel. Johann Sebastian Bach komponierte seine ersten Fugen. Goethe und Schiller dichteten sich in den Literatenhimmel. Jena eroberte als rebellischer Ort Freiheit und deutsche Frühromantik. Deutschland vom Feinsten. Hier agiert nun mit Björn Höcke ein hessischer Geschichtslehrer, der erster AfD-Premier werden will.

 

Berka. 1977/78. Foto: Werner Mahler

 

Wer Thüringen besser verstehen will, sei eine beeindruckende Arbeit des Fotografen-Paars Ute und Werner Mahler empfohlen. Sie beobachteten gemeinsam mit Ute Mahlers Vater Ludwig Schirmer über sieben Jahrzehnte ihr Heimatdorf, das kleine thüringische Berka. „Ein Dorf 1950-2022“, heißen Buch und Ausstellung. Eine Entdeckung, die sich lohnt. Einblicke auf Schwarz-Weiß, die erklären, wie sich das Land verändert hat. Bilder zum Staunen, Lachen und Wundern. Nicht umsonst wurde der Kulturpreis der Deutschen Gesellschaft für Photographie an die Mitbegründer der legendären Berliner Ostkreuz-Schule Ute und Werner Mahler vergeben: „Für die Vermittlung von ostdeutschen und heute gesamtdeutschen Perspektiven, stilprägenden, einzeln und gemeinsam realisierten fotografischen Arbeiten“.

 

„Himmel und Hölle“. Ein Mädchen hopst die Straßen in Berka entlang und stopert. 1978. Foto: Ute und Werner Mahler.

 

In klaren, überraschenden Momentaufnahmen beschreiben sie aus nächster Nähe Wende und Wandel, dokumentieren Rückzug und Resignation. Werner Mahler in einem ZEIT-Interview: „Plötzlich hatten alle diese geschlossenen Tore vor den Häusern. Alles passierte dahinter, in den Familien.“ Ute Mahler: „Ja, es ist diese große Scham, es nicht geschafft zu haben. Und diese Scham sollte auf keinen Fall bemerkt werden. Nach außen versucht man, den Schein zu wahren. Man hörte ja nur von den Wende-Gewinnern. Die waren laut und ließen es jeden mitbekommen. Die anderen zogen sich zurück.“ Die Mahlers halten fest, wie sich Thüringen allmählich in AfD-Land verwandelt. Werner Mahler: „Und dann kommt heute ein Höcke und sagt, ihr habt verloren, weil die etwas falsch gemacht haben, und da er das auch ziemlich gut verpackt, sind einige der Meinung, okay, das ist mein Mann. Der spricht mir aus der Seele.“

 

Das Fotografen-Paar Ute und Werner Mahler. 2023. Foto: Tobias Kruse

 

Die Ausstellung „Ein Dorf“ in der Kunsthalle Erfurt zeigt eindrucksvoll, wie eine geschlossene Welt die Stürme der neuen Zeit erlebt. Mit der Freiheit zur absoluten Entfaltung und der ungebremsten Freiheit zum Scheitern. Die Berkaer selbst sind stolz auf Ausstellung und Bilder aus ihrem Dorf. Ute Mahler erklärt, warum: „Sie fühlen sich wahrgenommen, auch mit Respekt. Sie fühlen, dass sie jetzt Teil eines großen Projekts sind“.

Ausstellung Kunsthalle Erfurt. Bis 26. Mai 2024. „Ute Mahler, Werner Mahler & Ludwig Schirmer. An seltsamen Tagen über Flüsse in die Städte und Dörfer bis ans Ende der Welt“.

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