Lesen macht reich
S-Bahnhof Savignyplatz. Die junge Frau sitzt am Ende der langen Treppe vor dem Ausgang. Meist im Schneidersitz. In der Regel ist sie nachmittags anzutreffen. Große Brille, Hoodie, die Nase stets in ein Buch vertieft. Sie hat sich eingerichtet. Eine Decke auf dem Boden. Zwei, drei Kissen im Rücken, ein paar Kuscheltiere. Im Beutel ein Stück Fladenbrot. Die Frau hat hier ihren Stammplatz. Sie liest in aller Ruhe, als wäre es das Normalste der Welt. Passanten eilen hektisch vorbei, an der Leserin mit ihrer kleinen Spendenschale. Die junge Frau spricht keine Menschen an, schnorrt nicht, verkauft keinen „Straßenfeger“, wirft niemanden einen flehenden Blick zu. Kein „Haste mal nen Euro oder was zu essen für mich!“ Kaum jemand nimmt Notiz. Viele starren auf ihr Handy. Typisch Berlin. Die junge Frau liest.
Ich kenne sie seit einiger Zeit. Ich versorge sie mit Büchern. Auch mein eigenes habe ich ihr schon in die Hand gedrückt. Ab und zu etwas stecke ich etwas in die Spendenbüchse. Manchmal reden wir über das, was sie liest. Meistens ist ein Mix aus großer Weltliteratur oder einfachen Herz-Schmerz-Geschichten. Sie liest beinahe alles, was sie in die Finger bekommt. Vor kurzem kauerte sie über einem Öko-Thriller. Und? – „Ich lese das Buch zum vierten Mal.“ Warum? Ist das Buch so gut? – „Nein.“ So kompliziert? – „Nein.“ Sie schüttelt den Kopf. „Ich habe nichts anderes. Deshalb das vierte Mal.“ Wir lachen beide.
Bei meinem nächsten Heimweg bringe ich zwei Bücher mit. Das trifft sich gut, weil ich in diesen Tagen sowieso meinen großen ZDF-Bestand auflösen muss, was mir extrem schwerfällt. An vielen Büchern hänge ich. Zu viele Erinnerungen. Ich entscheide mich für die Pulitzer-Preisträgerin Elizabeth Strout. Am Meer. Den „zartesten Lockdown-Roman“, verspricht eine Rezension. Die US-Bestsellerautorin erzählt von einer Frau, die mit ihrem Ex-Mann während der Pandemie aus New York in die einsame Zweisamkeit eines alten Landhauses flieht. Man ahnt es. Die Idylle wird zur Hölle.
Das zweite, ein älteres Buch ist von einer hochtalentierten Autorin aus dem Kaukasus. Olga Grjasnova. Der Russe ist einer, der Birken liebt. Der Titel ist genial. Er macht neugierig. Die Geschichte: Mascha ist jung und eigenwillig. Aserbaidschanerin, Jüdin oder auch Türkin und Französin. Als Immigrantin macht sie in Deutschland rasch die Erfahrung der Sprachlosigkeit. Mittlerweile „spricht sie fünf Sprachen fließend und ein paar weitere so „wie die Ballermann-Touristen Deutsch“, heißt es im Verlagstext.
Die junge Leserin freut sich über die Bücher, die sie nicht kennt. Endlich traue ich mich, die Frau vom Savignyplatz nach ihrem Namen zu fragen. „Ich heiße Angela. Wie Eure Kanzlerin. Aber ich werde Antschela ausgesprochen. Bitte: Mit Tsch, tsch. Antschela aus Kasachstan.“ Sie lächelt. Ihre Augen strahlen hinter ihrer dicken Brille aus einem hübschen, aber erschöpften Gesicht. In der Hand hält sie ein dickes, abgegriffenes Buch: Jeder stirbt für sich allein. Hans Fallada, sage ich zustimmend. Und? – „Ich komme nicht klar damit. Das fällt mir schwer. Aber ich versuchs mal.“ Ich ermuntere sie dranzubleiben. Fallada könne wie kein anderer über die Sorgen der kleinen Leute schreiben. Antschela schaut mich eher skeptisch an. „Gut, ich will nicht aufgeben.“
Wir verabschieden uns. Mir wird klar: Bücher sollen auf keinen Fall im Regal verschimmeln. Bücher müssen wandern. Von Hand zu Hand. Lesen macht klug. Lässt neue Welten entdecken. Schenkt innere Freiheit und geistigen Reichtum.
Bis zum nächsten Mal, Angela. Pass auf dich auf.