Warten auf den Zug
Es ist heiß und schwül. Am Horizont türmen sich schwarze Wolken. Warten auf einem Bahnhof in der Provinz. Der Bahnsteig füllt sich. Auf einer Bank telefonieren zwei dralle Girlies in voller Lautstärke und in viel zu kurzen Hotpants. Auf Arabisch. Eine dritte Person quäkt aus dem aufgedrehten Handy. Die Mädels gackern, als wären sie allein auf der Welt. Der Zug kommt nicht. Verspätung. Alle sind genervt. Yalla, yalla schallt es über den Bahnhof. Die meisten Wartenden starren unbeteiligt auf ihre Smartphones. Plötzlich schreit ein Bärtiger vom gegenüberliegenden Bahnsteig: „Ruhe. Verdammt noch mal.“ – Die Ladys kontern sofort: Gut, gut. Das ist zu verstehen, ein Wortschwall folgt auf Arabisch. Sollte man diese Sprache nicht doch lernen? Freundlich klingen die Worte nicht. Eher frech und spitz.
Der Bärtige auf dem Bahnsteig gegenüber springt auf. Auf der Bank hat er seinen Rucksack platziert. Der ältere Mann im Holzfällerhemd macht nicht den Eindruck, als gehöre er zum Bildungsbürgertum. „Verpisst euch. Geht nach Hause! Keiner will euch“, brüllt er aus Leibeskräften. Der Einheimische schwingt die Fäuste. Die Hotpants-Ladys rufen in ihrer Sprache wenig Freundliches zurück. Die Hitze lässt die Gleise flimmern. Der verdammte Zug kommt nicht. Verspätung. Der Holzfällermann kocht vor Wut. Für sein Alter erstaunlich geschickt springt er ins Gleisbett, geht ein paar Schritte, wirft seine Fäuste in die Luft, droht: „Euch kriege ich. Haut ab. Ihr habt bei uns nichts zu suchen.“ Alle auf Gleis Drei halten die Luft an. Niemand sagt etwas. Warum kommt dieser verfluchte Zug nicht?
Die Mädels rennen weg, direkt zu mir auf die Bank auf der anderen Seite des Bahnsteigs. Sie schnattern aufgeregt. Der Alte im Gleisbett krabbelt zurück auf Bahnsteig 5, setzt sich auf seine Bank. Der Mann gibt Ruhe. Er starrt auf sein Handy, das er auf seinem Rucksack platziert hat. Durchatmen! Die beiden Teenies sitzen nun direkt neben mir. Nach einer kurzen Pause geht es in voller Lautstärke weiter. Ich sage zu ihnen: „Muss das sein? Ich will Eure Telefoniererei nicht in Techno-Lautstärke hören müssen. Ihr seid nicht allein. Nehmt doch etwas Rücksicht“. Sie schauen mich groß an. Nach einer kurzen Pause plappern sie weiter, etwas gedämpfter. Sie kichern. So ist das an einem heißen Sommertag auf Bahnsteig 3, wenn der Zug nicht kommt und man sich in einem ziemlich schlechten Film fühlt.
Es geht gut aus. Keine Eskalation, keine Prügelei. Die Hitze macht allen zu schaffen. Der alte Bärtige kaut auf Gleis 5 ein Stück Brot, konzentriert sich auf sein Video. Ich stehe auf, verlasse die Mädels, es ist einfach zu nervig. Sie gackern weiter als wäre nichts passiert. Plötzlich ein Wunder. Der Zug fährt mit einer Viertelstunde Verspätung ein, meinen Anschluss Richtung Berlin werde ich wohl verpassen.
Die kleine Bahnhofszene spielte sich genauso auf dem Bahnhof von Gotha ab. Die einstige thüringischen Residenzstadt besuchte ich, weil die Rückkehr einer Original-Rubens-Ölskizze im Schloss Friedenstein zu feiern war Ein millionenschwerer Heimkehrer, knapp achtzig Jahre nach Kriegsende. Das unschätzbar wertvolle Rubens-Bild war 1945 illegal in den Westen gebracht worden und schließlich gewinnbringend in die USA verkauft worden.
Ich hatte den ganzen Tag in Gotha glückliche Menschen getroffen. Thüringen vom Feinsten. Eine Happyend-Geschichte. Nach Kriegsende war die renommierte Gotha-Kunstsammlung zweimal geplündert worden. Erst in der US-Besatzungszeit, dann durch die im Juni 45 einrückende Rote Armee. Kriegsverlust 70% der Kunstwerke. Noch heute sind vierzig Prozent des Gotha-Schatzes weltweit verstreut bzw. verloren. Die Cranach-Sammlung in Moskau, Rubens-Werke in New York und Zürich. Die Liste ist lang, sehr lang.
Als ich am Abend endlich in der Regionalbahn nach Erfurt sitze, wird mir klar, wie kurz die Zündschnur der Menschen ist. Ein kleiner Funke genügt. In Erfurt erreiche ich am Abend völlig unerwartet einen Anschluss nach Berlin. Ein ICE nach Gesundbrunnen fährt plötzlich ein. Dessen einstündige Verspätung gerät zu meinem Vorteil. Was schert es den Bahngestählten Reisenden noch, dass auf der Weiterfahrt gelangweilte Honks gleich zweimal die Notbremse ziehen und den ICE zum Stillstand zwingen. So wächst die Verspätung weiter gewaltig an, aber ich komme spät wieder in Berlin an. Und da steht eine S-Bahn bereit, die mich nach Hause bringt. Das Glück ist ein flüchtiges Gut.