Archive for : Juni, 2025

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Zwischen allen Stühlen

„In der Heimat bin ich deutsch, hier ist Vater Staat enttäuscht“, beschreibt Zavet ihr Leben. Die deutsch-russische Rapperin sitzt buchstäblich zwischen den Stühlen. Wie so viele Migrantenkinder der zweiten Generation. Da hilft kein deutscher Pass, keine solide Ausbildung, keine regelmäßigen Zahlungen an die Rentenkasse. Die Wiege der Musikerin stand 1995 in Alexandroweskoje, im Oblast Tomsk im tiefsten Sibirien. Genau dort, wo deutsch-russische Mythen zu Hause sind. Kälte, Gulag, Weite und Wodka. Als sie zwei war, zogen ihre Eltern gen Westen. Aus der kleinen Eisprinzessin Elizaveta wurde in der fränkischen Kleinstadt Ansbach das deutsche Schulmädchen Elisabeth.

 

 

Ihre sibirische Heimat am anderen Ende des Putin-Landes kennt sie nur aus Erzählungen. Zavet sagt in einem Interview: „Leider waren wir seither nicht mehr dort, eher besuchen uns meine Verwandten hier in Deutschland. Meine ganze Verwandtschaft väterlicherseits lebt nämlich noch dort. Sogar unser altes Haus steht noch da. In meinem Musikvideo zu „Husky Augen“ haben wir sogar Originalaufnahmen davon mit reingeschnitten.“ Aus diesen zwei Welten baut die Sängerin ihre Songs. „Huskeys Augen“ erschien auf ihrem ersten Album 2023. Rap mit russischer Seele. Im Text heißt es: „Gestartet mit nichts, geboren in der Kälte. Mom und Dad wollten weg, weil die Zukunft nicht safe ist“.

 

 

Zuvor war sie aus dem kleinen Ansbach nach Mannheim gezogen. Ihre Hoffnung dort von und für die Musik leben zu können. An der Pop-Akademie wird sie abgelehnt, doch das Schicksal meint es gut. Warner Music erkennt ihr Talent und gibt dem Mädchen aus der Provinz eine Chance. Die Musikerin ist dank ihrer Eltern mit einer frühkindlichen Musik-Förderung seit dem vierten Lebensjahr ausgestattet. Später gibt Zavet ihren erlernten Bürojob auf, wird Vollzeit-Musikerin. Ein knallhartes Business voller Konkurrenz, Intrigen, Höhepunkten und Tiefschlägen.

Wie nahezu alle aus der Rapper-Szene beschwört sie das Lifestyle-Motto: „Authentizität“.  Echt sein. Cool sein. Sich nicht verstellen, bloß nicht verbiegen lassen. Ihr Künstlername Zavet ist eine Abkürzung aus ihrem russischen Vornamen Elizaveta. Das Wort steht im Russischen für Testament, Vermächtnis, Großmut oder Ratschlag. „Ich musste erst lernen, mich so nackig zu machen. Aber ich fühle meine eigene Musik mehr, wenn ich erzähle, was real ist.“

 

 

Mit „Etage 3“ ist ihr neues, zweites Album erschienen. Ein Musikkritiker wirft ihr mit scharfem Schwert „pubertäre Plattitüden“ vor, die „dem großen Wurf im Weg“ stünden. Zavet sucht tatsächlich ihren Platz in unserer satten und verwöhnten Gesellschaft. Als junge Frau, als Rapperin und als Deutsche, die im fernen Sibirien in der Eiseskälte geboren wurde. Es lohnt sich, ihr relaxt und unvoreingenommen zuzuhören.

 

Sie rappt sich durchs Leben. Zavet, geboren in Sibirien. Musikerin in Deutschland.

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Das Narrenschiff

„Je länger die DDR tot ist, desto schöner wird sie.“ Diesen Phantomschmerz prophezeite in den neunziger Jahren der kluge Schriftsteller Jurek Becker. Der stets ironisch-melancholische Becker kannte sich mit den Deutschen aus, ob als Autor von „Jakob, der Lügner“ oder der TV-Serie „Liebling Kreuzberg“. Es dauert nicht mehr lange, dann ist die DDR so lange tot wie sie existiert hat – etwas mehr als vierzig Jahre. Jetzt hat der große Erzähler Christoph Hein die Geschichte dieses kleinen untergegangen Landes als Gesamtpanorama erzählt. Er berichtet auf 750 Seiten über die Reise eines Narrenschiffs. Losgesegelt mit großem Anspruch, am Ende kläglich gekentert. Im Mittelpunkt seines Opus magnum steht das mittlere Management des ersten Arbeiter- und Bauernstaates.

 

„Wer uns angreift, wird vernichtet!“ Die DDR im Kalten Krieg. Berlin-Mitte. Anfang der sechziger Jahre.

 

An Bord des Narrenschiffs versammeln sich „überzeugte Kommunisten, ehemals begeisterte Nazis, in Intrigen verstrickte Funktionäre, ihre Bürgerlichkeit in den Realsozialismus hinüberrettende Intellektuelle, Schuhverkäufer, Kellner, Fabrikarbeiter, Hausmeister“, dazu kleine und große Stasi-Leute. Alle richten sich irgendwie ein. Anpassung, Opportunismus und vorauseilender Gehorsam prägen die Nachkriegsfiguren. Ihr Ziel: Den Krieg vergessen, was Neues beginnen. Davon träumen die Soldatenwitwe und Bürohilfskraft Yvonne, der einstige Fahnenjunker-Feldwebel und Ingenieur Johannes. Rita, die Stellvertreterin des Bürgermeisters, ihr Ehemann der Ökonomieprofessor Karsten. Nicht zu vergessen der große Shakespeare-Experte Benaja, der in der DDR hängenbleibt.

 

„Ossi“-Papierkorb. Gesehen in Hoyerswerda/Sachsen.

 

Alle Aufbauhelden in Heins großer DDR-Geschichte von 1945 bis 1990 eint das Mitmachen. Wegducken. In-Kauf-Nehmen. Stets geht es um den kleinen Vorteil und das große Ganze. Opportunismus in allen Farben und Schattierungen. Weiß Gott, kein Alleinstellungsmerkmal der DDR. Hatte der SED-Staat jemals eine Chance einen Platz in der Weltgeschichte zu erringen? Nein, meint Romancier Hein. In dieser Frage ist er knallhart. Die DDR sei „ideologisch, wirtschaftlich und politisch chancenlos“ gewesen. In einem Interview mit dem SPIEGEL setzt der 81-jährige noch eins drauf:  »Von der DDR wird nichts bleiben. Sie wird vergessen werden«

 

 

Für manche mag sein Erzählstil ein wenig altmodisch und betulich wirken. Aber Christoph Hein schreibt klar, präzise und ohne Scheuklappen. Hein urteilt nicht. Er belehrt nicht. Er verstehe sich keineswegs „als Ankläger, Verteidiger oder Richter“ seiner Figuren. Sein Credo: Er beobachte Menschen wie sie sind, was sie umtreibt, auf ihrer Suche nach dem kleinen und großen Glück. Die bittere Pointe am Ende von Heins Narrenschiff: In der neuen Zeit nach der Einheit von 1990 erlebten viele DDR-Bürger, dass ihre großen Hoffnungen auf einen Neuanfang platzten. Dass bei aller Freiheit nun das Grundbuch mehr zählt als das Grundgesetz. Diese große Nachwende-Geschichte seit der Vereinigung muss und kann noch geschrieben werden.

Sehr zu empfehlen: Christoph Hein. Das Narrenschiff. Suhrkamp. 2025

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Blaupause meines Lebens

Ein Dorffest in Brandenburg an einem heißen Junitag. Stände sind aufgebaut. Brot wird gebacken, Trödel, Räucherfisch und Honig angeboten, natürlich lädt die Standard-Hüpfburg die Kleinen zum Turnen ein, während sich die wenigen Jugendlichen langweilen. Hinter der Kirche ist eine Bühne aufgebaut. Es gibt Bio-Bratwurst, Rhabarber-Schorle und Bier. Dann betritt eine kleine Frau im besten Babyboomer-Alter die Bühne. Sie hängt sich die Gitarre um, checkt ein letztes Mal den Sound. Hat sie Lampenfieber, ganz allein in der Nachmittagshitze auf dem Dorfanger? Sie legt los. Die glasklare Stimme weht wie ein Sturm über den Platz und mitten durchs volle Bierzelt. Die Frau mit der Gitarre kann singen. Und wie!

 

 

Der Top-Act an diesem Juni-Wochenende 2025 im märkischen Katerbow (Ostprignitz) ist Katharina Franck. Wer? Ja. Die Frontfrau der Rainbirds.  Ja, die Sängerin der Aufsteiger-Band aus den späten Achtzigern – mit dem Mega-Hit Blueprint. Als Katharina – Katja – Franck – am Ende ihres Kurzauftritts den großen Hit aus dem Jahre 1987 anstimmt, füllt sich blitzartig der leere Platz mit tanzwütigen Menschen im fortgeschrittenen Alter. Sie eilen aus ihren Schattenplätzen und schütteln die Glieder im Rhythmus der legendären Gitarrenriffs. Blueprint.  In der deutschen Übersetzung heißt es im Refrain:

 

„Ich schleiche um die Ecke
mit einer Blaupause meines Liebsten,
mit einer Blaupause meines Lebens,
ich sollte besser zusehen, dass ich Land gewinne.“

 

 

Der wuchtige Song ist auf ihrer Bettkante in Kreuzberg entstanden, erzählte einmal Katharina Franck. Gitarrist Peter Weihe entwickelte den Riff, der ein einziges Mal bei der Studioaufnahme eingespielt wurde. Quasi live, mit vollem Risiko, ohne doppelten Boden.

Es ist der Sound der Jugend. Fast vierzig Jahre danach mutiert das Lied auf dem Dorfplatz zum Rollator Rock ’n’ Roll. Katharina gibt alles, als stehe sie auf der Berliner Waldbühne. Das gesetzte Publikum tanzt versonnen und träumt sich in frühere Zeiten. Das Lied ist eben ewig jung – Forever young: glasklare Stimme, treibender Groove. Damals: Ein Superhit aus dem Nichts. Der Erfolg überrollte die Rainbirds. Dann Streit, Trennung, Aus. Auf dem Höhepunkt löste Katja die Band auf. Das war’s. Sie nahm mit Mitte zwanzig Abschied von einem Leben als Rock-Lady, das eigentlich noch gelebt werden sollte.

 

 

Als der Song verklingt, werden ihr überall glänzende Augen über dem Dorfplatz zugeworfen. Die Jüngeren fragen: Wer war das denn? Egal. Wie schön, dass dieses frische, packende Lied Blueprint keine Sekunde gealtert ist. Danke, Katharina Franck.

 

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Ein Stückchen Ewigkeit

Haben Sie am Freitag, dem 4. September 2640 etwas vor? Nein! – Dann auf nach Halberstadt in Sachsen-Anhalt. An diesem Wochenende – so der Konzerttipp – wird der Schlussakkord des Stücks „Organ2/ASLSP“ von John Cage in der St.-Buchardi-Kirche zu hören sein. Es ist der D-Moll-Akkord des längsten Musikstücks der Welt. Seit einigen Wochen läuft nun „der früheste Vorverkaufsbeginn der Konzertgeschichte“ an: Der feierliche Abend findet in genau 615 Jahren statt.

 

 

Was ziehe ich zum Finale an? Wen nehme ich mit? Wie komme ich in das Städtchen im Vorharz? Zugegeben: Wenn wir unseren Planeten nicht zwischenzeitlich selbst ruiniert haben, kommt eher die 21. bis 25. Nachfolge-Generation infrage. Doch wer sich rechtzeitig Tickets sichert, der sorgt dafür, dass die Ururururur… Enkel dabei sein können. Ein kleines Stück für die Ewigkeit und ein großer Abschluss eines charmant-verrückten Projekts. Außerdem: Musik ist sowieso unsterblich.

 

 

„Die verrücktesten Ideen nehmen ihren Anfang stets vom Ende der Welt aus“, brachte mir ein befreundeter Theatermann bei. Seit September 2001 ist John Cage in Halberstadt on fire. 639 Jahre dauert die Aufführung bis ins Jahr 2640 Bei As slow as possible handelt es sich um ein Stück des amerikanischen Avantgardekünstlers John Cage (1912-1992). Der komplette Titel lautet “Organ Squared – as slow as possible”, komponiert für Orgel im Jahr 1987.

Die Idee der Initiatoren um Rainer Neugebauer war damals so einfach wie überzeugend. Im Jahre 2000 wurde die prächtige gotische Orgel (1361) im Halberstädter Dom nach 639 Jahren fertig. Nun wollte man mit Cage in die Zukunft schauen. Die nahe St. Buchardi-Kirche aus dem 13. Jahrhundert stand leer. Sie wurde ausgemistet. Bis in die siebziger Jahre hatte das ehemalige Nonnenkloster als Schweinestall gedient. So konnte historische Bausubstanz vor dem Verfall gerettet und John Cage für sage und schreibe  639 Jahre etabliert werden.

 

Das längste Konzertstück der Welt findet in Halberstadt in Sachsen-Anhalt statt. Hingehen. Die Stadt lohnt sich.

 

As slow as possible. Wer Ruhe, Gelassenheit und Entschleunigung sucht, findet im ehemaligen Zisterzienser-Kloster von Halberstadt alles, was das Herz begehrt. Vorausgesetzt: Es gelingt, im TikTok-Zeitalter Geduld und Muse mitzubringen, um sich stunden- vielleicht auch tagelang an einem einzigen Ton erfreuen zu können. Das wäre doch eine echte Challenge!

Die Eintrittskarte für das große Finale im Jahr 2640 kostet 2.640 Euro. Dafür gibt es eine spezielle Eintrittskarte aus zwei Millimeter dickem Metall. Ein echtes Unikat, hergestellt in der renommierten Gravur-Werkstatt Kanschur in Königs Wusterhausen bei Berlin. Keine Sorge: die Tickets sind übertragbar und können weiter verkauft werden. Es sind fälschungssichere Blechmarken  – für ein Stück Ewigkeit.

John Cage Projekt. Halberstadt.

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Dünen, Diva und Dichter

Eines Sommers entflieht ein schmächtiger Intellektueller mit großer Nase dem Berliner Trubel. Der Mann ist Dichter, Komödiant und Alleinunterhalter aus dem sächsischen Wurzen. Leichtmatrose, Musikant, Entertainer. Einer, der das Reimen liebt. Seine deutlich jüngere Frau Leonharda nennt er liebevoll Muschelkalk. Der Vortragskünstler aus der Kleinkunstbühne „Schall und Rauch“, Markenzeichen: Seemann „Kuttel Daddeldu“ begeistert sein Publikum. In den letzten Jahren hat er über zwanzig Bücher veröffentlicht. Sein Name: Joachim Ringelnatz. Der Mann braucht eine Auszeit. Sein Ziel: die Insel Hiddensee. Treffpunkt der Naturfreunde und Hotspot der Künstlerszene.

 

Ringelnatz legt los:

„Kühe weiden bis zum Rande
Großer Tümpel, wo im Röhricht
Kiebitz ostert. – Nackt im Sande
Purzeln Menschen selig töricht.

Und des Leuchtturms Strahlen segnen
Eine freundliche Gesundheit.

Andrerseits: Vor steiler Küste
Stürmen Wellen an und fliehen. –
Nach dem hohen Walde ziehen
Butterbrote und Gelüste.“

 

Joachim Ringelnatz. Illustriert von Kat Menschik.

 

Wir sind im Sommer 1932. Ringelnatz befindet sich künstlerisch im Zenit. Hiddensee ist die perfekte Oase für exzentrische Menschen jedweder Couleur. Der Dichter hat nur ein Ziel: das „Karusel“, das Ferienhaus von Asta Nielsen. Die Dänin ist der erste weibliche Superstar des neuen Mediums Kino, die Königin des Stummfilms. Eine selbstbewusste wie selbstbestimmte Diva. Die Anzahl ihrer Affären und Lover ist legendär. Doch der Tonfilm zerstört ihre Karriere. Ihr Stern verglüht. Sie dreht nur noch einen einzigen Film und veröffentlicht 1946 ihre Autobiografie: „Die schweigende Muse“. Sie notiert: „Berühmtheit ist ein Wort im Sande.“

 

 

Mit dem knorrig-witzigen Außenseiter Ringelnatz verbindet die dänische Diva eine tiefe Seelenverwandtschaft. Der größte Stummfilmstar aller Zeiten und der kauzige Dichter verbringen auf Hiddensee fröhliche, unbeschwerte Tage. Ringelnatz reimt in seiner Liebeserklärung an Asta und „Hiddensee“ munter weiter:

„Steht ein Häuschen in der Mitte,
Rund und rührend zum Verlieben.
»Karusel« steht angeschrieben.
Dieses Häuschen zählt zu Vitte.

Asta Nielsen – Grischa Chmara,
Unsre Dänin, und der Russe –,

Auf dem Schaukelpolster wiegen
Sich zwei Künstler deutsch umschlungen. –
Gar kein Schutzmann kommt gesprungen. –
Doch im Bernstein träumen Fliegen.“

 

Ringelnatz aufregendes Leben endet nur ein Jahr später traurig-tragisch: Die Nazis belegen den hintersinnigen Komödianten als „entarteten Künstler“ mit Auftrittsverbot. Verfemt und verarmt stirbt Joachim Ringelnatz am 16. November 1934 in Berlin an Tuberkulose. Asta Nielsen verabschiedet sich 1972 im Alter von neunzig Jahren im dänischen Frederiksberg.

Wer mehr über Hiddensee erfahren möchte, am besten das autofreie Inselchen einfach selbst erkunden. Zwei Buchtipps:

Asta Nielsen & Kat Menschik: Im Paradies. Galiani 2023.

Christof Kessler. Entscheidung auf Hiddensee. 2025 über den Arzt und Dichter Gottfried Benn, der im Sommer 1913 drei schöne Wochen auf der Insel Hiddensee verbrachte.