Archive for : September, 2025

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Der eiserne Gustav

Der Volksmund warnt: „Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit.“ Gustav Hartmann aus Berlin-Wannsee ist Droschkenfahrer mit Leib und Seele. Er setzt auf Pferdestärke, PS genannt. Doch der knorrige Alte setzt stur aufs falsche Pferd. Autos hasst er. Sie sind laut, stinken und eine Zeiterscheinung, die bald vergeht. Gustav ist sich sicher: „Mit solchen Benzinstinkern mache ich mich nicht gemein! Das sind doch alles bloß Todeskandidaten, und in zehn Jahren weiß kein Mensch mehr was von ihren Töfftöffs. Da ist die Mode vorbei“. Der kauzige Gustav weigert sich, die neue benzingetriebene Konkurrenz ernst zu nehmen. Warum? Ich bin “immer pünktlich auf die Minute, und dann im schlanken Trabe durch, und dabei kein Gejachter mit Peitschengeknall und Gejohle, und vor allem nie Streit mit diesen neumodischen Automobilen!“ Auch wenn Gustav nur noch Urinproben vom Krankenhaus ins Labor kutschieren darf.

 

„Der eiserne Gustav“ (1938) von Hans Fallada. Es brauchte fast achtzig Jahre, bis der Roman unzensiert erscheinen konnte.

 

Wir schreiben das Jahr 1928. Die Motorisierungswelle überrollt das Land. Das Pferd verkommt zum Kollateralschaden der Moderne. Schriftsteller Hans Fallada setzt dem unbeugsamen Kutscher im „Eisernen Gustav“ 1938 ein Denkmal: „Man muss nur in sein Gesicht sehen, dieses faltige Gesicht wie ein scholliger Acker, Jahr um Jahr säte neue Enttäuschung, schlimmere Niederlage, bitteres Entbehren ein. Aber die Augen sind hell geblieben, der Mund findet immer noch ein Witzwort. Alles, was geschah, hat ihn nicht weichschlagen können, er ist wahrhaft der eiserne Gustav, er hat das Hoffen nicht verlernt.“

Es kommt, wie es kommen muss. Der echte Gustav geht pleite. Er muss sich mit einem Kneipenjob durchschlagen. Plötzlich hat er eine Idee: Ich zeige allen noch einmal, was ein Pferdekutscher kann. Am 2. April 1928 bricht er mit Wallach Grasmus und Reporter Hans Hermann Theobald zu einer Marathontour nach Paris auf. Die französische Hauptstadt erreicht er nach gut tausend Kilometern Anfang Juni 1928. Mit seiner Protestfahrt will er sich gegen den Niedergang des Droschkengewerbes stemmen. Das macht ihn als Don Quichote des 20. Jahrhunderts berühmt. Seine Rückkehr nach 165 Tagen wird zum Triumphzug. Es scheint als könne er die Zeit anhalten, wenn auch nur für einen Moment.

 

Hans Fallada. Kurz vor 1936. Erfolgsautor in Weimarer- und NS-Zeit. „Kleiner Mann – was nun“; „Bauern, Bonzen, Bomben“ uva.

 

Die tragisch-kuriose Geschichte des Kurzzeithelden Gustav gießt Volksschriftsteller Fallada in ein 800-Seiten-Epos. Sein Roman „Der Eiserne Gustav“ wartet 1938 mit Figuren aus Zilles Milieu auf, gespickt mit Aufsteigern, Hasardeuren und traurig-gescheiterten Existenzen. Berlin aus erster Hand: vom dritten Hinterhof über Nachtklubs bis hoch zum Reichstag.  Doch Bestsellerautor Fallada, bürgerlicher Name Rudolf Ditzen, zahlt für seinen Erfolg einen hohen Preis. Um unter den Nazis veröffentlichen zu können, muss er den Schluss NS-freundlich umschreiben. Joseph Goebbels besteht auf Änderungen. Ihm fehlen Juden, die an allem schuld seien. Zudem verlangt der Propagandaminister ein Happy End, sonst könne der Roman nicht erscheinen. Zumindest den Schluss, den sogenannten „Nazi-Schwanz“, ändert Fallada. Der Sohn des Kutschers wird im Finale zum SA-Mann.

War Fallada ein feiger Opportunist? In seinen geheimen Tagebüchern, geschrieben in der Gestapo-Zelle 1944 rechtfertigt er den Kotau: „Ich liebe nicht die hohe Geste vor Tyrannenthronen, mich sinnlos, niemandem zu nutzen, meinen Kindern zum Schaden abschlachten zu lassen, das liegt mir nicht; nach drei Minuten Überlegung nahm ich den Zusatz-Auftrag an. Was ich dann freilich mit mir zu Hause abzumachen hatte, das steht auf einem andern Blatt. Der Monat, durch den ich an diesen n.[ationalsozialistischen] Schwanz schrieb, steht mit schwarzer Tinte umrandet in meinem Kalender, die Welt kotzte mich an, ich mich selbst aber noch mehr.“

 

 

Falladas Eiserner Gustav wird nach Kriegsende in der DDR ein weiteres Mal umgeschrieben. 1962 streicht Herausgeber Günter Caspar den „Nazi-Schwanz“. Doch auch weitere Passagen fallen einer neuen, zweiten „Umschreibung“ zum Opfer. Nur ein Beispiel: Eine Episode in der November-Revolution 1918. Fallada lässt den Eisernen Gustav sagen: „Die Matrosen? Diese Herren mit der nackten Brust bilden sich ein, sie haben die Revolution gemacht! Weil sie es nicht abwarten konnten? Weil sie eine Woche zu früh losgeschlagen haben? Die sind kein Problem, das sind alles Dummköpfe!“ Er schnippte verächtlich mit den Fingern. „Ich war heute früh bei ihnen im Schloss! Wie das da aussieht! Saufen, plündern, huren.“ Das wird gestrichen.

So gerät der Eiserne Gustav zum dreifach gehäuteten Roman. Erst vor vier Jahren erscheint Falladas 832-Seiten-Werk unverfälscht und unzensiert. Zweimal wird die Geschichte verfilmt. 1958 mit Heinz Rühmann und 1979 mit Gustav Knuth in der Hauptrolle.

 

 

Eine Frage bleibt: Wer erzählt die aktuelle Geschichte von Gustav oder Gustava? Stoff gebe es genug. Künstliche Intelligenz, Profitstreben und Chatbot-GPT gefährden laut seriöser Studien demnächst drei Millionen Arbeitsplätze. Menschen, die überflüssig werden. Wie einst Kutscher Gustav. Auf Ihr Angehörigen in den Maschinenräumen der Datenverarbeitung, Dienstleistungs- oder Medienbranche. Wann wagt jemand wie Gustav eine Protesttour? Triumphal begleitet, glanzvoll gescheitert, doch möglicherweise dank eines packenden, zeitlosen Romans unvergessen. Das Pferd ist gesattelt.

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Unser Robert

Interviewtermin im Luxus-Hotel Regent am Berliner Gendarmenmarkt. Ein neuer Redford-Film wird präsentiert. Genehmigt sind genau fünfzehn Minuten. Der Star macht einen sogenannten medialen Massenabwurf. PR-Interviews, um das neue Werk „Von Löwen und Lämmern“ in Europa anzuteasern. Ich bin aufgeregt. Auch, weil mich zum ersten und übrigens einzigen Mal meine Frau begleiten möchte. Natürlich nur wegen Robert. Gut! Dann machen wir das. Gegenüber der Filmfirma erkläre ich Heike zur ZDF-Praktikantin. Der kleine Schwindel fällt zunächst nicht auf. Die Lobby in der Edel-Herberge ist voll. Alle wollen Robert Redford persönlich sehen. Ach, ja: Wir schreiben Herbst 2007, das ist nun schon eine Weile her.

Als wir nach einiger Wartezeit in die erste Etage ins Separee gerufen werden, klopfen mindestens zwei Herzen. Ich muss ihm ein paar originelle Antworten ergattern, sie will ihr Idol „den Robert“ sehen. Die Tür geht auf. Der Meister sitzt entspannt am anderen Ende der Suite auf seinem Interviewstuhl. Die PR-Frau stellt uns knapp als ZDF-Producer mit Praktikantin vor. Nun schlägts alle zwölfe! Heike und ich stehen wie Schulkinder vor dem Direktor. Was soll’s! Ich lege los, erkläre, dass ich mich ehrlich machen möchte. Das sei ein besonderer Moment. Zum ersten Mal begleite mich meine Frau zu einem offiziellen Interviewtermin.

 

Mein Robert.

 

„Oh, amazing“, sagt der blonde Mann in legeren Sneakers. Socken trägt er keine, obwohl es draußen novemberkalt ist. Ja, fahre ich fort, sie sei keine Praktikantin, sondern einfach ein Riesen-Fan. Schon sehr lange. Am Abend vor der Geburt unseres ersten Sohnes hätte sie an einem der heißesten Julitage im Sommer 1986 hochschwanger Jenseits von Afrika gesehen. Sie sei in Ost-Berlin aufgewachsen, könne daher – sorry – leider nur wenig Englisch. Robert Redford lächelt sein schönstes Hollywood-Lächeln. Wow. Er steht auf, geht zielstrebig an mir vorbei und umarmt Heike herzlich. Meine Frau strahlt, als hielte sie das dritte Kind in den Armen. Ich weiß gar nicht mehr, was „der Robert“ in diesem Moment gesagt hat. Ich erinnere nur, wie die Filmfrau faucht: „Das geht alles von Ihrer Zeit ab!“

 

 

Sein Film „Von Löwen und Lämmern“ erzählt eine Geschichte aus dem Afghanistan-Krieg. Es geht um die alte Frage, wie man sich in Krisenzeiten entscheidet. Mitmachen oder raushalten? Meryl Streep und Tom Cruise sind dabei, Redford führt Regie. Und der damals 71-Jährige selbst spielt einen frustrierten Dozenten der Woodstock-Generation – ein wenig wohl sich selbst. Er vergleicht im Film das heutige Washington mit dem alten Rom. Dekadenz und Zerstörung drohen. Er fordert seine jungen Studenten auf, endlich Haltung einzunehmen.

Im Interview sagt er: „Der Satz ‚Rom brennt‘ ist ein Euphemismus und eine Anspielung auf Kaiser Nero, der fiedelte, während seine Stadt brannte. So sehen viele die gegenwärtige Regierung. (…) Der Professor, den ich spiele, versucht im Film den Leuten klarzumachen: seht ihr nicht, was hier los ist, welche Sorgen wir haben. Wir brauchen eure Stimme. Die jungen Leute sind die, die ihre Zukunft gestalten können. Es ist ein Alarmruf. Steht auf und werdet endlich aktiv, bevor Rom bis auf die Grundmauern abbrennt. Der Professor ist verzweifelt, er hat die Nase voll. Er stellt die Jugendlichen vor die Entscheidung und das tun wir mit dem Publikum auch. Denkt darüber nach!“

 

Robert Redford 2012 mit Ehefrau Sibylle Szaggars, eine gebürtige Hamburgerin.

 

Als ich das Robert-Interview nachlese, wird mir heiß und kalt. Was haben wir aus dem desaströsen Afghanistan-Abenteuer gelernt? Redford 2007 über die damalige Bush-Administration: „Wir hatten nach dem 11. September die Unterstützung und das Mitgefühl der ganzen Welt, das haben wir missbraucht.“ Und er setzt noch eins drauf: „In meinem Land eine Haltung einzunehmen heißt, eine der wunderbaren Freiheiten in Anspruch zu nehmen. Die Freiheiten, die vor zweihundert Jahren in unsere Verfassung eingebaut wurden, die aber von der jetzigen Regierung missbraucht werden. Redefreiheit, Meinungsfreiheit, die freie Debatte und das Recht zum Neinsagen.“

Der Film „Von Löwen und Lämmern“ wurde ein Flop. Zu kritisch, zu verkopft, zu wenig Herz-Schmerz, hieß es. Robert Redford hat uns in diesen Tagen für immer verlassen. Das Hotel in Berlin-Mitte ist mittlerweile geschlossen. Ich bin nicht mehr beim ZDF. Der aktuelle US-Präsident führt sich wirklich wie Kaiser Nero im alten Rom auf. Die Welt brennt. Aber ein wunderbarer Moment bleibt: Heikes Augen strahlen noch heute, wenn sie den Namen Robert Redford nur hört. Das ist doch am Ende, was zählt.

 

Bis zuletzt im Umweltschutz aktiv. Sein letzter Film. The Way of the rain. 2025.

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Wiedersehen in Walhalla?

Wir sind in der Teestube von Wangerooge verabredet. Friedrich-Wilhelm Petrus kommt mit dem Rad. Pünktlich wie ein Schweizer Uhrmacher. Das Gehen fällt dem stattlichen Mann schwer. Er setzt sich an diesem milden Septembernachmittag zu uns ins Freie. Petrus geht stramm auf die Neunzig zu. Der Mann ist auf der autofreien Nordseeinsel Watt- und Inselführer, Zeitzeuge und eine Institution aus Schrot und Korn. „Moin! Was wollen Sie nun genau wissen?“ Als wir uns über seine Geburt 1936, die Schönheit seiner kleinen Insel, die Gezeiten, kurzum über das Auf und Ab im Leben zu unterhalten beginnen, ruft Petrus dem Wirt zu: „Ingo, die Bunkertür steht offen. Sorg mal dafür, dass die wieder geschlossen wird!“

 

Lazarettbunker auf Wangerooge. Die Tür stand offen.

 

Bunker? Davon gab es viele auf Wangerooge. Über 100 auf der heutigen Ferieninsel. Dazu „83 Artilleriegeschütze“ und zehntausend Marinesoldaten. „Festung Wangerooge! Schon gehört? Wir waren bis auf die Zähne bewaffnet.“ So musste das Schicksal der Insel im II. Weltkrieg seinen Lauf nehmen. Die geografische Lage vor dem Kriegshafen Wilhelmshaven besiegelte keine zwei Wochen vor Kriegsende das Schicksal des Inselchen. Am 25. April 1945 gegen 17 Uhr nachmittags attackierten alliierte Bombergeschwader Wangerooge und legten die Insel in Schutt und Asche. 311 Menschen kamen ums Leben. Soldaten, Zivilisten, Zwangsarbeiter, aber auch Besatzungsmitglieder der Bomberstaffeln. Über zweihundert Gebäude wurden völlig zerstört, darunter die Katholische Kirche am Bahnhof.

 

Friedrich-Wilhelm Petrus. Jahrgang 1936. Inselführer. Zeitzeuge. Einer, der etwas zu erzählen hat.

 

Petrus überlebte mit seinen acht Jahren das „Inferno“. Im Garten der Teestube berichtet er ruhig und überlegt von den fünfzehn Minuten, die alles änderten. Er erzählt, als wäre es gestern gewesen: „Es kamen schnelle Flugzeuge. Mosquitos. Man hörte ein unheimliches Sirren in der Luft. Es wurde von Minute zu Minute stärker. Einer hat aufgeschrien. Da kamen 400 „Fliegende Festungen“. Wir (Kinder) sind in alle Himmelsrichtungen weggelaufen. Mein Vater war in der Spee-Batterie. Ich bin am Deichfuß entlang gerast. In der Spee-Batterie war keiner mehr. Diesen Weg werde ich nie vergessen. Am Ortseingang wohnte der Polizist Klähn. Friedrich-August-Straße. Sein Haus ist in die Luft geflogen. Die Druckwelle warf mich fast um. Vor dem Haus lagen zwei tote Frauen und der tote Hund. Die Familie des Polizisten. Das Hotel Albers ist in die Luft geflogen. Ich habe mit meinen Kinderfäusten gegen die Bunkertür getrommelt. Es wurde aufgemacht. Dort waren die Offiziersfrauen. Ich war in Sicherheit. Meine Mutter hatte mich schon abgeschrieben.“

Schutzengel? „Ich habe meine Zweifel. „Wir nennen es einfach mal Glück. Oder Schicksal!“ Vater Wilhelm war Kapitän und Kommandant der Küstenbatterie, ein hohes Tier auf der Insel. Für ihn brach eine Welt zusammen, vor allem vierzehn Tage später, als das Dritte Reich kapitulierte. „Mein Vater musste ins Lazarett, dem heutigen Haus Meeresstern. Schwester Anselm hat dort gesagt: Gott hat den Tyrannen gestürzt! Das ist ihm durch Mark und Pfennig gegangen.“ Petrus setzt immer wieder Pausen. „Als der Krieg zu Ende war, dachte ich nur, irgendwann müssen sie meinen Vater abholen. So kam es. Zwei kanadische Offiziere stehen eines Tages vor der Tür. Der eine war Dolmetscher, der andere Offizier: Sie sagen: Sie sind verhaftet! Mein Vater ist in das Schlafzimmer, hat sich seine beste Uniform angezogen und ist mitgegangen. Wir haben nichts mehr von ihm gehört.“

 

Festung Wangerooge. In einem der ehem. 100 Bunker.

 

Der Vater kommt später als ein völlig anderer zurück. Er sei ein „Fremder“ geworden. Gebrochen. Er beginnt zu trinken. Sohn Friedrich-Wilhelm flüchtet 1952 nach Stuttgart. Dort wird der Ostfriese ein viel gefragter Elefantenpfleger, sein jüngerer Bruder kümmert sich um Pinguine. Eines Tages erfährt er, dass Vater Wilhelm an der zentralen Kreuzung auf Wangerooge brüllt: „Juda verrecke!“  Er schwört Besserung.  Sohn Petrus: „Er hat es natürlich wieder getan. Er ist bis zu seinem Ende 1971 ein Nazi geblieben.“ Bei der Trauerfeier auf der Insel tauchen Gestalten auf, die nicht ganz „koscher“ sind. „Aus der Gruppe geht jemand ans offene Grab und macht den Führergruß und sagt: ‚Wilhelm, wir sehen uns in Walhalla wieder.‘

 

Das Kreuz in den Dünen erinnert an die Toten des Infernos vom 25. April 1945. Unter dem Kreuz befand sich der Hartmann-Bunker. Keiner der 20 Insassen überlebte den Volltreffer. Viele Opfer waren junge Marinehelfer im Alter von 16 bis 17 Jahren.

 

So war das. Heute versucht Sohn Friedrich-Wilhelm bei seinen Inselführungen unermüdlich vor den Schrecken des Krieges zu warnen. Mit Erfolg? – „Tja.“ Petrus denkt lange nach. „„Das Interesse an der Vergangenheit ist nicht mehr sehr groß. Vor zwei Jahren sind wir zum Inselgymnasium gegangen. Wir fragten den Direktor, ob wir zum Jahrestag 25. April als Zeitzeugen kommen sollen. Das hat er rundweg abgelehnt. Das wird nicht mehr gefragt.“ Wiederholt sich Geschichte? Der alte Insulaner antwortet knapp: „Ich sage es ganz lapidar: Die Menschen können nicht ohne Kriege leben. Es wird Krieg geben. Immer und immer wieder.“

Plötzlich beginnen die Glocken der Inselkirche zu läuten. Wie jeden Tag kurz nach 17 Uhr, um an das Inferno vom 25. April 1945 zu erinnern. „Heute weiß niemand mehr, warum“, sagt der Inselführer. Zweimal die Woche führt Friedrich-Wilhelm Petrus Menschen über seine Insel. Erzählt von Flut und Ebbe. Von Vögeln und Watt. Von Glanz und Elend. Licht und Schatten auf dieser kleinen, so friedlichen Ferieninsel.

 

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Fährmann, hol über!

Wer in Ostfriesland bis ans Ende fährt, landet über kurz oder kurz lang auf einer schnurgeraden Schnellstraße Richtung Norddeich. Links und rechts der breiten Straße sieht es aus wie auf einer US-Interstate in Florida. Supermärkte, Baumärkte und Einkaufszentren mit riesigen Parkplätzen, MacDonalds und Tankstellen. Am Ende kurz vor dem Deich wird es endlich gemütlicher. Fischrestaurants, Cafés und Hotel geben sich die Hand. Es wird touristisch. Wer nun auf eine der beiden ostfriesischen Inseln Norderney oder Juist übersetzen will, für den wird es spannend. Die meisten Wegweiser führen auf direktem Weg zum Anleger der Frisia-Fährgesellschaft. Wer sich für den Newcomer „Meine Fähre“ entscheidet, muss einen langen Umweg quer durch die Hafenanlagen nehmen. Der Lohn: Eine Abenteuerreise in das „Deutschland des Jahres 2025“.

Am Anleger wollen wir mit unseren Rädern auf der funkelnagelneuen „Meine Fähre“ einchecken. Doch Obacht! So einfach geht das nicht. Ein kräftiger Matrose verhindert jede Annäherung. Unmissverständlich macht er klar, wer Chef ist, auch wenn er kein Wort Deutsch spricht, außer: „Nein!“ Der Mitarbeiter nimmt uns die Räder ab und schiebt sie vorsichtig auf die Fähre. Wir, insgesamt fünf Radtouristen mit Ziel Norderney, müssen am Kai warten. Schließlich fährt nach einigen Minuten ein VW-Shuttle-Bus vor. Wir müssen einsteigen, genau wie alle Fußgänger. So überwinden wir etwa zwanzig Meter Luftlinie von der Anlegerkante bis auf das Schiff. Erst dann dürfen wir aussteigen und uns einen Platz suchen.

 

Norderney. Wer hier zu Fuß weitergeht, verstößt gegen Behörden-Auflagen. Betreten nur mit einem Shuttle-Bus erlaubt. Vorschrift ist Vorschrift!

 

Das gesamte Beladungsmanöver dauert dadurch länger, vielleicht zwanzig Minuten. Der Shuttle-Bus muss noch weitere Fahrgäste die wenigen Meter an Bord lotsen. Warum in aller Welt? Warum nicht zu Fuß gehen? Der Fahrer zuckt genervt mit den Schultern. „Vorschriften! Sicherheit!“ Der Mann mag nicht weiter reden. Der Kapitän sagt nur: „Das ist Deutschland!“ Als ein freundlicher Mitarbeiter zum Abkassieren kommt, werden wir klüger: „Das sind Vorschriften des Hafenamtes!“ Die Gesellschaft „Meine Fähre“ sei eine reine Autofähre, daher müssten Rad- und Fußtouristen aus Sicherheitsgründen mit einem Shuttle an Bord chauffiert werden. Und wenn es nur ein paar Meter sind. Man wolle nicht die neue Lizenz verlieren.

Wir sind reif für die Insel. Die Überfahrt ist entspannt und großartig. Die schmucke neue Fähre dagegen ziemlich leer. Nur eine Handvoll Pkw, auch die Zahl der Passagiere ist überschaubar. Ob sich das rentiert? Als wir in Norderney anlegen, die gleiche Prozedur. Natürlich auch abends bei der Retourfahrt. Auf keinen Fall darf jemand einfach zu Fuß die Fähre betreten. Die paar Meter bis zur Fähre dürfen nur mit dem Shuttle-Bus bewältigt werden. Das dauert. Logisch. Auch die Räder darf nur der breitbeinige Matrose am Ende wieder an Land bringen. Vorschrift ist Vorschrift!

 

David gegen Goliath. Die neue Fährgesellschaft „Meine Fähre“ verspricht günstigen und schnellen Transport auf die Insel Norderney. Doch das wirkliche Leben sieht ein paar Überraschungen vor. Motto: „Willkommen in Deutschland!“

 

Wer hat sich das ausgedacht? Ist das ein schlechter Aprilscherz? – Pustekuchen! Die deutsche Bürokratie zeigt am Hafen von Norddeich, wozu sie imstande ist. Deren Begründung: Sicherheit geht vor. Das ist eine Autofähre, Punkt. Zu Fuß geht nicht. Auch wenn es komplett absurd ist und Loriot seine Freude daran hätte.

Motto: Wir machen das Leben kompliziert. Vermutlich gibt es noch einen gewichtigen Grund: Der mächtige Platzhirsch in Ostfriesland, der Frisia-Konzern wacht argwöhnisch darüber, dass die umständliche Ladungsprozedur des neuen Konkurrenten peinlich genau eingehalten wird. Den lästigen Mitbewerber will man wieder loswerden.

 

Eine Seefahrt, die ist lustig.

 

Sehen wir uns in Norddeich, wenn es heißt: Fährmann, hol über!