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Hunger auf Leben

Neunzig … und kein bisschen leise. Das ist Jean Ziegler. Sein Motto: „Empört Euch, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.“ Der große alte Mann aus Thun ist ein wahres Schweizer Gesamtkunstwerk. Bürgerschreck. Kämpfer gegen den Hunger. Soziologe und Publizist, dreißigfacher Buchautor, millionenfach verkauft und gelesen. Streitbar wie umstritten. Unermüdlich im Kampf gegen Hunger und Armut. Er sagt: Die Weltlandwirtschaft könnte problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren. Momentan leben rund acht Milliarden auf unserem Planeten. „Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet.“

Seine Schweizer Botschaft:  Hunger ist unerträglich. Ein lebenslanger Aufreger: Alle fünf Sekunden verhungere ein Kind unter zehn Jahren, wettert er, während fast alle anderen Menschen wegsehen. „Der Massenmord auf einem Planeten, der von Reichtum überquillt, ist der absolute Skandal unserer Zeit.“ Ziegler, langjähriger UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung attackiert, provoziert und nervt bis heute. Als Wanderprediger gegen Kapitalismus, Globalisierung und Rendite-Gier, gegen die Gleichgültigkeit der EU, gegen Machtinteressen von USA und gegen das System-Putin („Ein Massenmörder“). Dieses eidgenössische „Enfant Teribble“ hat weltweit viele Freunde und genauso treue Feinde. Ziegler unverdrossen: „Was wir jetzt brauchen, ist ein Aufstand des Gewissens, der Staaten zwingt, die nötigen Reformen durchzusetzen.“

 

Hans alias Jean Ziegler. *19.04.1934 in Thun. Schweizer Sohn eines Gerichtspräsidenten. Groß geworden in der Schweiz, der „Schatzkammer der Reichen“, „einem Land gewordenen Tresor“ (Süddeutsche Zeitung) Unermüdlicher Streiter gegen Armut, Hunger und Ungerechtigkeit.  Foto: Wikipedia

 

Wer ist dieser Mann, der mit seiner Frau – „Meine absolute Leidenschaft, eine beinharte Trotzkistin und Professorin für mittelalterliche Kunstgeschichte“ –im kleinen Winzerdorf Russin lebt und dort den weiten Blick hat: Auf den Mont Blanc und die noch höheren Problemberge dieser Welt. 1934 als Sohn eines calvinistischen Gerichtspräsidenten geboren, war sein Leben vorgezeichnet. „Mein Leben erschien mir wie ein Betongefängnis: studieren, Notar in Thun werden, heiraten, sterben. Eine Horrorvorstellung.“ Als Gymnasiast erlebte er eine «dramatische Pubertät», eine «Revolte mit unglaublicher Heftigkeit». Ein Schlüsselerlebnis prägte ihn. Er sah, wie Verdingkinder, Kinder armer Bauern auf dem heimischen Thuner Marktplatz an Wohlhabende „verscherbelt“ wurden. Wie Sklaven. Manche Kinder wurden als Zugochsen auf dem Feld eingesetzt. Ziegler: «Wenn mir Armut begegnete, war ich fassungslos.»

 

„Verdingkinder“ in der Schweiz.

 

Der junge Ziegler wollte nur noch von zu Hause weg, um am besten gleich die ganze Welt zu retten. Er ging nach Paris. Dort lernte er Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre kennen. Sie redigierte seine ersten Artikel und änderte im Pariser Café de Flore seinen braven Vornamen Hans („Wie langweilig!“) in Jean. In den 60ern chauffierte  Soziologe und Publizist Ziegler den berühmten Revolutionär Che Guevara zwölf Tage durch Genf. Abends schauten sie von der Terrasse auf die glitzernde Genfer Bucht. Der argentinisch-kubanische Freiheitskämpfer Che: „Siehst Du diese Stadt? Hier ist das Gehirn des Monsters. Hier bist Du geboren – hier musst du kämpfen.“ Ziegler folgte ihm nicht, sonst wäre er sicher längst tot. Er entschied sich für „den Weg der subversiven Integration“, wie er es ausdrückt,  „in die Institution eintreten und deren Kraft benutzen, um die eigenen Überzeugungen durchzusetzen.“

 

 

Sein subversiver Integrationsmarsch führte Ziegler bis in höchste UNO-Ämter. Er schaffte es zum obersten Armutsbekämpfer der Vereinten Nationen. Er musste erleben, wie zugleich mächtig-ohnmächtig eine solche Aufgabe Menschen werden lässt. Die Amerikaner wollten ihn absetzen, weil er Landbauern in Guatemala zu sehr aufgewiegelt habe. „Der ist Kommunist, der muss weg.“ UN-Generalsekretär Kofi Annan hielt zu ihm. Im Laufe der Jahre legte sich der unbequeme Schweizer in Reden, Handeln und in seinen Büchern mit Banken, Konzernen und Lobbyisten an. Ziegler wurde mehrfach wegen Ehrverletzung, Beleidigung, Ruf- und Kreditschädigung verklagt. Viele Prozesse kosteten ihn Millionen für Anwälte, Gerichte und Personenschutz. Nichts konnte ihn aufhalten.

 

Jean Ziegler liebt Mercedes Sosa. Sólo le pido a Dios. „Nur das Eine erbitte ich von Gott, dass das Leiden mich nicht gleichgültig lasse.“

 

Kaum zu glauben: Am 19. April 2024 feiert Jean Ziegler seinen neunzigsten Geburtstag. Hat sich sein lebenslanger Kampf gelohnt? Ist die Welt eine bessere geworden? Hungert niemand mehr? Die aktuellen Zahlen sind deprimierend, aber statt großer Reden legt Ziegler lieber auf drei Dinge Wert: Schuldenerlass für arme Staaten. Ende der Spekulation mit Nahrungsmitteln. Reform der UN und Abschaffung des Vetorechts. Das wären erste, wichtige Schritte. Ziegler: „Müssen wir verzweifeln? Nein, Was uns von den Opfern trennt, ist der Zufall des Ortes unserer Geburt. Hunger ist menschengemacht. Er kann morgen beseitigt werden.“ Letzte Frage: Wie lange will er eigentlich noch gegen Armut und Not streiten? Da bemüht er lächelnd seinen Haus- und Hofphilosophen, den Schriftsteller Victor Hugo: «Ich will lebend sterben.“

Wer mehr über Jean Ziegler erfahren will: Wie kommt der Hunger in die Welt? (2024)

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Soljanka für alle

Man nehme: Jagdwurst geschnitten. Ketchup. Gewürzgurken mit Brühe. Paprikaschoten Farbe egal. Zwiebel oder Schalotten. Passierte Tomaten. Wasser nach Bedarf. Salz und Pfeffer. Paprikapulver. Ausreichend Würfel Gemüsebrühe. Etwas Zucker. Saure Sahne. Zubereitungszeit eine gute Stunde. Für rund 250 Portionen bedarf es vieler helfenden Hände. So gelingt der ostdeutsche Klassiker, deutlich feiner als vor der Wende. Keineswegs jedermanns Sache. In heutigen fleischarmen Zeiten eher verschmäht. Aber: Es ist ein nahrhaftes Hauptgericht. Preiswert, schnell und lecker. Soljanka – das Festmahl zum 33. Geburtstag der Suppenküche Pankow, der größten Armenküche der Hauptstadt. Der Wunsch von Ehrengast Wolfgang Thierse, einst Bundestagspräsident. Die Soljanka wird in einem Kloster in Pankow serviert, kurz vor der früheren Mauer. Sitz der Franziskaner. Die Wollankstraße: Eine gute Adresse.

 

„Arm zu überleben ist eine Kunst. Wir helfen den Künstlern.“ Motto der Suppenküche Pankow. Quelle: Franziskaner

 

„Hast Du nicht etwas zu essen für uns?“ Das wurde Schwester Monika Anfang der neunziger Jahre gefragt. Sie war gerade aus dem Thüringer Eichsfeld in das frisch vereinte Berlin gezogen. Sie wollte helfen. So fing sie bei den Franziskanern im kleinen Kloster an der Wollankstraße an, für Menschen in Not eine warme Mahlzeit zu kochen. Guten Appetit! Die neue kostenlose Anlaufstelle sprach sich in Windeseile herum. Bis zu fünfhundert Menschen verharrten zur Mittagszeit im Hof der Franziskaner in langen Schlangen: Bei Wind, Wetter und Kälte. Der Sozialismus hatte seine Kinder in die neue Freiheit des Kapitalismus entlassen. Viele, zu viele kamen mit dem ruckartigen Wandel nicht klar. Der Andrang zur Armenspeisung nahm von Woche zu Woche zu. Das Motto der Suppenküche: „Arm überleben ist eine Kunst. Wir helfen den Künstlern.“

 

Täglich, außer Montags Suppe für alle. Quelle: Franziskaner

 

Dieses Willkommen gilt bis heute. Jeden Tag. Punkt 12.45 Uhr. Wenn die Glocke läutet, startet die Essensausgabe. Seit nunmehr dreiunddreißig Jahren. Eine warme Suppe für die Ärmsten der Armen. Bis zu 150.000 Portionen pro Jahr. Umsonst. Niemand wird nach einem Sozialausweis gefragt. Ein Segenswunsch gehört zur Tradition. In der Schlange wartet beispielsweise Alex: „1990 wurde mir die Arbeit genommen, weil eben diese Scheiß-Einheit kam. Die Suppenküche ist meine zweite Heimat.“ Sein Nachbar mit Schiebermütze pflichtet bei: „Pech gehabt. Arbeit verloren. Krank geworden. Frau gestorben. Nun bin ich allein. Zuhause kochen lohnt sich nicht für mich. Ja. Das Essen hier ist wunderbar.“ Zurzeit kommen täglich über zweihundert Menschen. Ihre Gründe: Wohnungskündigung, Firmenpleite und Obdachlosigkeit. Scheidung, Schulden oder karge Altersrente. Alkohol, Krankheit und Depression. In der Suppenküche wird niemand nach dem Warum gefragt.

 

Suppenküche Pankow. Seit 2004 mit neuem Anbau. Quelle: Franziskaner

 

Die Suppenküche erhält keinen einzigen Cent Steuer-oder Kirchengelder. Die Franziskaner wollen unabhängig bleiben. Das kleine Wunder ist gelungen. Rein auf Spendenbasis finanzieren sie Essensausgabe, Kleiderkammer und sozial-medizinische Versorgung. Franziskaner-Bruder Rudolf: „Ich habe selbst zehn Jahre in einer Obdachlosen-Siedlung gewohnt, im Ruhrgebiet. ich habe 25 Jahre bei psychisch Kranken in Psychiatrien gearbeitet. Das heißt: Wir Franziskaner sind gerne bei den Menschen am Rand.“ Die Suppenküche wird zu hundert Prozent aus Spenden finanziert. Das große Glück der Franziskaner: Ihnen wird weiter geholfen. Trotz Krieg, Krise und Inflation. Freiwillig, mit Geldspenden oder Kleidung. Über 150 Ehrenamtliche gehören zum Team. Ukrainische Frauen helfen in der Küche. Nicht wenige Ehren- und einige der Hauptamtlichen sind selbst ehemalige Notleidende.

 

Ein Beitrag im heute journal vom 22.12.2022

Was kann ich tun? Bernd Backhaus, Leiter der Suppenküche antwortet: „Wer kann, möge spenden. Jeder Euro zählt“. Und die anderen? „Ach“, ergänzt der baumlange Chef, „es reicht schon, die vielen Obdachlosen wahrzunehmen, anzuschauen. Nicht wegsehen. Wie wäre es mit einem Lächeln?“ Das sei ein erster Schritt. Wer mehr unternehmen möchte, könne  jederzeit ehrenamtlich mitmachen. Suppenküchen-Gründerin Monika gehört nicht mehr zum Team. Doch die Pionierin bleibt aktiv: „Ist doch klar. Ich kümmere mich jetzt um Frauen in Not. Schwangere, Alleinerziehende, Wohnungslose. Da habe ich mehr als genug zu tun. Ich komme kaum hinterher.“ Letzte Frage: Kann die Armenspeisung in Pankow eines Tages überflüssig werden? Zwei ältere Stammgäste mit Einkaufsporsche schütteln den Kopf: „Das werden wir nicht mehr erleben. Höchstens da oben im Himmel. Dort, wo das Paradies sein soll.“

Suppenküche Pankow. Wollankstraße 18. 13187 Berlin. Tel. 030/488 396 60. Geöffnet von Dienstag bis Sonntag, jeweils von 9:00 bis 11:30 und von 12:45 bis 14:30 Uhr.
Die Suppenküche hat auch an Feiertagen geöffnet, außer Ostermontag und Pfingstmontag.

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Jule

Wenn ich meine Augen schließe, um zu träumen, schwebe ich eine alte Chausseestraße mit alten, knorrigen Bäumen entlang. Irgendwann hinter der letzten Abbiegung treffe ich auf einer Wiese am Wald Familie und Freunde. Alle packen aus, was sie mitgebracht haben. Ein paar Köstlichkeiten, Käse, Trauben, ein Stück Brot zum Teilen, guten Wein. Dann packt eine junge Frau ihre Gitarre aus, stimmt kurz die Saiten, lächelt in die Runde. Sie konzentriert sich. Die Gitarristin beginnt zu spielen. Ihre Stimme setzt ein. Die Plaudereien verstummen. Gemeinsam träumt die Runde von Glück und Gemeinschaft. Mein Vater gab mir mit: Freunde und Musik. Das sind die beiden Dinge, auf die es im Leben ankommt.

 

Wenn Gitarre, dann Jule Malischke. Foto: www.julemalischke.de

 

Jule Malischke bringt Menschen zum Träumen. Der Gitarristin gelingt das Kunststück mit ihrer Musik zu verzaubern. Ihre Lieder sind ab den ersten Riffs aufregender als jeder kuschelige Lagerfeuer-Sound. Die Sing-a-Songwriterin beherrscht eine wunderbare Mischung aus Überraschung, Leichtigkeit und Tiefgang. Ihre folkigen Arrangements erinnern an Joni Mitchell. Kein Wunder, mit „A Case of You“ covert sie bravourös einen der berühmten Songs der großen, alten Dame des Folk-Jazz. Wie eine Möwe schwebt Jule mit ihrem neuen Album „Seagull“ eine dreiviertel Stunde lang über Alleen, Wiesen, Wälder, Flüsse und Seen. Sie vertreibt Einsamkeit, Trübsal und tristen Alltagsblues.

 

 

Jule Malischke stammt aus dem kleinen Dorf Söhnstetten bei Heidenheim in Baden-Württemberg. Ihre Mutter brachte ihr als musizierende Erzieherin erste Lieder bei. Die Musikerlaufbahn zog sie einer möglichen Tenniskarriere vor. Keine schlechte Idee. Ihren Gitarren gibt Jule Namen. Sie legt Wert auf einfühlsame, kluge Texte, widmet ihren neuen Titelsong „He waited“ dem älteren Paar Richard and Colleen, das nach langer Trennung wieder zusammenfindet. Wie oft im Leben verpasst man den richtigen Zeitpunkt?

 

 

Ihr großes Talent zeigt sie bei einer Coverversion ihres Lieblingskomponisten Ralph Towner. In „If“ zieht Jule alle Register. Egal, ob Konzert-, Klassik-, Bariton- oder Jazzgitarre, sie teilt ihr Können nicht nur auf der Bühne. Seit einigen Jahren unterrichtet sie an der Musikhochschule Carl Maria von Weber in Dresden. Der britische Gitarrenvirtuose Clive Carroll schreibt begeistert: „The future of acoustic guitar is safe in the hands of a player like Jule Malischke. She has great technique, but this never overshadows the quality of the songwriting.”

 

 

Lust auf eine Reise in neue musikalische Regionen? Auf geht´s, einsteigen bei Jule Malischke. Ihr neues Album Seagull erscheint am 5. April 2024.

Bei uns in Berlin ist Jule Malischke am 13. Juni 2024 im Künstlerhof “Spätsünder” in Charlottenburg live zu erleben.

Ich wünsche allen: Frohe und Friedvolle Ostern. Mit Freunden und guter Musik.

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Leipziger Allerlei

Regen peitscht aufs Kopfsteinpflaster. Ein einsamer Pianist trotzt der Nässe. Er intoniert Evergreens vor der Leipziger Nikolaikirche. Dort, wo 1989 die friedliche DDR-Revolution ihren Ausgang nahm. Wenige Passanten eilen vorbei. Es ist Buchmesse, die Stadt gerade leergefegt. Spiel´s noch einmal, Sam. Das Lied trägt mich weiter. Dabei ist Leipzig die ganzen Tage über voll. Rund 300.000 Buchfreaks oder Cos-Player in Manga-Kostümen bevölkern Messehallen. Abends stürmen Heerscharen abertausende Veranstaltungen in der Innenstadt. Von queerer Literatur in Sachsen bis zur probiotischen Quarkherstellung ist alles dabei. Die Veranstalter kloppen bei ihrer Bilanz in die Marketingtasten. „Besucherplus. Das Buch wird gefeiert. Ein Fest der Demokratie.“ Tatsächlich feiert Leipzig nach vier verunglückten Pandemiejahren ein Comeback. Erfreulich: Es gibt immer noch genügend Menschen, die schreiben und noch viel mehr Publikum, das zuhört.

Der Trend? Die längsten Schlangen finden sich an Ständen, die New Romance oder New Adult feilbieten. Ganz einfache Geschichten von der Suche nach dem Märchenprinzen. Das sind die diesjährigen Renner. Titel wie Infinity Falling, Save me, save you, save us gehen bei der jungen weiblichen Zielgruppe weg wie warme Semmeln. Die 28-jährige Sarah Sprinz vom Bodensee verkauft bis zu 750.000 Exemplare pro Herz/Schmerz-Titel. Die Medizinerin Sprinz und ihre Kolleginnen legen großen Wert auf Gendern und Diversität. Keine Gruppe oder Minderheit dürfe sich durch irgendetwas ausgegrenzt oder beleidigt fühlen. Dafür sind bis zu fünf Sensitivity-Readers im Einsatz. Jedes Wort wird gecheckt.

 

Mehr Gefühl im Gewühl der Leipziger Buchmesse. New Adult und New Romance-BookToks sind die Bestseller der Saison. Herz/Schmerz geht immer.

 

In der neuen Romantik-Wohlfühl-Kuschelwelt sind Warnhinweise obligatorisch. Da heißt es vorab: „Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Diese sind: Tod, Verlust, Trauer und Trauerbewältigung, Substanzmissbrauch und Abhängigkeit. Bitte lest dieses Buch nur, wenn ihr euch momentan emotional dazu in der Lage fühlt.“ Zur Sicherheit folgt die Nummer der Telefonseelsorge. So bleibt die reale Welt mit Krieg, Krisen und Klimakatastrophen oder Armut, Not und Elend – draußen vor der Tür. Mehr echtes Gefühl, weniger Müll. Das geht vorzüglich. So verdienen renommierte Verlage mit New-Romance-BookToks ihre Brötchen.

 

Omri Boehm. Der deutsch-israelische Philosoph glaubt an universelle Werte und die Kraft von Freundschaft. Nur so könne „Licht ins Dunkel zwischen Israelis und Palästinenser“ gebracht werden. Foto: Wikipedia

 

Was gibt es für alle diejenigen, die keinen Prinzen oder Prinzessin suchen? Natürlich finden sich zeitlose Helden wie Dr. Kafka (100. Todestag) oder die neuen Lieblinge der Feuilletons wie Barbi Mirkovic („Minihorror“) und Iris Wulff („Lichtungen“). Der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm ist einer der Stars des 2024er Jahrgangs. In Zeiten von Multikrisen und allgemeinem Missvergnügen lockt der Preisträger des Buchpreises zur Europäischen Verständigung die Massen magisch an. Böhm predigt gegen Rückzug, Identitätsblasen und Eskapismus. Sein Zauberwort: Freundschaft. Wie bei Lessings Nathan den Weisen, Immanuel Kant oder Hannah Arendt. Aufklärung und Menschlichkeit sind für ihn der einzige Maßstab, der zählt. Eine Ansage gegen den Zeitgeist, der da heißt: Jeder für sich in seinem Zirkel. Gegen nationale Alleingänge, Säbelrasseln und die Zersplitterung in zahllose Identitäten. Vor allem aber gegen den Hass als Motor der Internet-Gesellschaft.

 

 

Was für ein Traum! Das Vertrauen in das Menschliche wiedergewinnen. Dafür braucht es Kitt, sagt Omri Boehm, der im Turbo-Kapitalismus verloren zu sein scheint: Freundschaft. Plus den Willen zur offenen Kommunikation. Wahre Freundschaft zeige sich eben darin, dass man sich die Wahrheit sagen könne. Ohne Verletzung oder an den Pranger gestellt zu werden und – ohne die Salven unserer aufgedreht-hysterischen Debatten sofort abzufeuern: … „das ist jetzt aber faschistisch/rassistisch/antisemitisch etc.“

Wäre doch ein Ziel? Ach, sagt mir die Manga-Truppe auf der Messetreppe. „Wenn Du Dich als Cos verkleidest, wirst du gleich ein anderer Mensch. Jedenfalls hier in Leipzig.“ Kann es sein, dass sie hinter ihren Masken lächeln?

 

Cosplayer in Leipzig. Sie feiern ihr zehntes Jubiläum auf der Messe. Kleider machen Leute. Auch 2024!

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Wie ein Vulkan

Als Halldor Gudmundsson seine große Island-Geschichte aufschreibt, tobt die Natur. In unmittelbarer Nachbarschaft bricht ein Vulkan unweit von Reykjavik fünfmal aus. Der Himmel verfärbt sich rot, die Erde öffnet sich nordöstlich des Berges Sylingarfell und spukt kilometerweit rotglühende Lava aus. Ein faszinierend-beängstigendes Naturspektakel, während Gudmundsson an seinem Manuskript feilt. So entsteht „Im Schatten des Vulkans“, eine Reise durch die Literatur Islands. Seit Menschengedenken prägt die Kraft der Natur mit Erdbeben, Vulkanausbrüchen und eiskalten Winternächten die kleine, große Wikingerinsel hoch oben im Norden. Der Sylingarfell-Vulkanausbruch der letzten Monate blieb bislang ohne schwerwiegende Folgen – zum Glück.

 

 

Island ist die größte Vulkaninsel der Welt. Regelmäßig brodelt und explodiert die Erde. Gudmundsson notiert: Naturgewalten prägen Menschen. Existenzkämpfe und „die raue Schönheit beeinflusst unsere Literatur“ grundlegend. Abenteuerlust, Überlebenskampf und unerklärliche Naturphänomene liefern reichlich Stoff für Sagen, Märchen und Legenden. So liegt für ihn der Schluss nahe, dass die Isländer zu den besten Geschichtenerzählern der Welt zählen.

Bereits im 13. Jahrhundert sprudelten in Island Saga-Geschichten und Edda-Lieder wie explodierende Geysire. Zu dieser Zeit produzierte  das kleine Land insgesamt elftausend Seiten erzählende Prosa. Vom skandinavischen Nachbarn Schweden sind sieben Seiten, aus Dänemark keine einzige Zeile überliefert. Die Isländer sind Pioniere der Sprache. Die Wikinger-Nachfahren lieben das Wort und vor allem: eine gute Geschichte.

 

Der Autor im Schatten des Vulkans. Halldor Gudmundsson hat mir versichert, dass die Aufnahme fünfzig Meter von seinem Haus in Reykjavik entfernt entstanden und 100% echt sei. Alle weiteren Fragen bitte direkt an Halldor Gundmundsson.

 

Gudmundsson führt in seinem Buch elegant durch acht Jahrhunderte einzigartige Literaturgeschichte. Er erzählt von Heldenmut und Hungersnöten, von Wal- und Fischfang und vom ersten Nobelpreisträger seines Landes Halldor Laxness. Gudmundsson hat ihm eine wichtige Biografie gewidmet. Der 68-jährige Schriftsteller Gudmundsson übersieht nicht isländischen Größenwahn wie beim Finanzcrash 2007/08. Er beschreibt, wie sich die gebeutelte Insel als Tourismus-Hotspot erholt, wie das einst abgeschottete Eiland in den letzten Jahren Migration und damit neue Impulse für die Literatur erlebt. Die Menschen in Island sind bekannt für ihre Kreativität und Weltoffenheit. Die Vulkaninsel hat weltweit eine riesige Fangemeinde.

 

 

Im Schatten des Vulkans. Erscheint am 20. März 2024

 

Halldor Gudmundsson erzählt, warum es in Island-Krimis mehr Morde in Fjorden als im wirklichen Leben gibt. Zur Erinnerung: Island hat so viele Einwohner wie Bielefeld. Allein Bestsellerautor Arnaldur Indriason hat mit seinem kauzig-schusseligen Polizisten Erlendur mehr als 18 Millionen Krimis verkauft. Auch wenn in Island mittlerweile weniger gelesen wird: Die Literatur lebt, nun als E-Book. Der Streaming-Dienst Storytel zählt über fünfzigtausend Abonnenten, bei 300.000 Einwohnern. Fast jedes dritte Buch erreicht die Leserschaft über den Kopfhörer. „Dank Podcasts sind wir wieder bei der mündlichen Überlieferung gelandet“, schmunzelt Gudmundsson, „von Ohr zu Ohr, wie es einst für die klassische Literatur so wichtig war.“ Geschichten werden heute weitergegeben wie im 13. Jahrhundert, als in Island alles anfing. Im Vulkan-Reich der Wikinger, Sagas, Edda-Lieder, Elfen und Trolle.

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Hinterm Zaun

Der siebzehnjährige Yaser aus Afghanistan schafft es aus seiner Heimat über den Iran in die Türkei. Beim elften Versuch gelingt ihm die gefährliche Mittelmeer-Passage nach Griechenland. Der Junge, ein echter Filmfreak und Quentin Tarantino-Fan, landet auf Lesbos. Seine neue Heimat: Moria, 2020 das größte Flüchtlingslager der EU. Ausgelegt für dreitausend Menschen. Bis zu 22.000 Bewohner kampieren auf einem ehemaligen Militärgelände in glühender Sonne, umzäunt von Maschendraht. Der junge Afghane will Regisseur werden. Er hat Glück und ergattert einen Platz an der Filmschule im Lager. Das „ReFOCUS MediaLab“ wird von dem US-Dozenten Douglas und seiner Lebenspartnerin Sonia aus Polen geleitet. In dieser Filmschule lernt die Schauspielerin Katja Riemann unter anderem Yaser kennen.

Sechzehn Jahre lang war Riemann UNICEF-Botschafterin. Von 2020 bis 2023 bereiste sie nun Flüchtlingscamps wie Moria und Lipa (Bosnien-Herzegowina) oder Hotspots in Calais und in der spanischen Afrika-Enklave Ceuta. Orte, an denen niemand freiwillig ist. Schauplätze, die fast nur negativ in den News sind. Warum? Riemann: „Flüchtlinge sind zu allen Zeiten lästig“.

Katja Riemann. Bekannte Schauspielerin und „Reporterin“ im Auftrag der Menschlichkeit. Neues Buch: Zeit der Zäune. Orte der Flucht“.

 

Als „Reporterin ohne festen Auftrag“ erlebt die prominente Schauspielerin im Camp von Moria anrührende Gastfreundschaft. Sie wird im „Dschungel“ von mittelosen Familien mit Tee und Ashak bewirtet. Ashak sind mit Porree gefüllte Teigtaschen, dazu Bohnen und Minzsauce. „Wir wurden beschenkt von Menschen, die alles verloren hatten. Scham und Ohnmacht reichten sich die Hand.“ Sie lernt eine junge Frau aus Afghanistan kennen, die fließend Englisch spricht und ausgebildete Bankerin ist. Humor sei die stärkste Waffe, schreibt Riemann in ihrem neuen Buch „Zeit der Zäune“, nur so könne das Elend ertragen werden. Die Zeit in Lagern ist ein Leben im Interim, ein Hoffen und Bangen, der Wunsch nach Zukunft. Dieser Wartezustand interessiert Riemann. Über Hundert Millionen Menschen sind derzeit (UNHCR von 2022) auf der Flucht. So viele wie noch nie.

140 Millionen Euro hat die EU für neue Zäune in der spanischen Enklave Ceuta ausgegeben, so Riemann. Insgesamt drei Stacheldrahtverhaue wurden errichtet. „Todesstreifen“ mit eingebauten Push-Back-Türen. Die EU-Außengrenze sehe aus wie ein Hochsicherheitstrakt. „Humanitäre Arbeit ist ganz konkret“, betont die Schauspielerin. Oder doch eher kriminell? Helfen ist gefährlich. Unterstützer werden bedroht, schikaniert und kriminalisiert. Riemann: „Ich glaube, man sucht sich den schwächeren Feind. Es ist einfacher Volontäre, die Seenotrettung machen, oder Humanitäre, die Distribution für Flüchtende leisten, zusammenzuscheißen, vor Gericht zu ziehen und mit Hass zu überziehen.“

 

 

Griechenland beispielsweise klagt Aktivisten und Helfer wie Staatsfeinde an: Die Vorwürfe: „Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Unterstützung von Menschenhandel, Beihilfe zur illegalen Einreise, Geldwäsche, Urkundenfälschung, illegale Nutzung von Funkfrequenzen, Spionage“. Bis zu zwanzig Jahre Haft drohen. Auch die Filmleute Douglas und Sonia bekommen den Druck zu spüren. Erst brennt ihre ReFocus-Filmschule für Studierende aus zwölf Nationen in Moria nieder, dann wird Douglas des Landes verwiesen. Sein „Exil“ hat der US-Amerikaner mittlerweile mit Sonia in Warschau bezogen. Dort erteilen die beiden weiter Online-Kurse für Geflüchtete.

 

 

Das 445-Seiten-Buch von Katja Riemann ist eine echte Überraschung. Sie sieht dort hin, wo die meisten wegschauen. Sie wagt einen vorurteilsfreien Blick hinter Zäune, die in unserem Namen errichtet werden. Sie spricht mit Beteiligten statt über sie. Vielen Namenlosen gibt sie eine Stimme. So findet Riemann den passenden Ton in einer Zeit, in der Europa sich massiv abschottet und Wutbürger lautstark eine viel härtere Gangart fordern. Ihre Reportage in die Hinterhöfe Europas ist keine Verklärung des Flüchtlingsdramas. Nüchtern stellt Katja Riemann fest: „Die Anzahl der Arschgeigen ist in jeder Gruppe gleich groß, auch unter Humanitären.“

Katja Riemann. Zeit der Zäune. Orte der Flucht. S. Fischer Verlag. 2024.

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Tanz den Hotzenplotz

Er ist ein Räuber, kennt keine Gnade. Na, ja! Manchmal schon. Der Mann mit dem Donnernamen Hotzenplotz nimmt sich, was er begehrt. Sogar Großmutters Kaffeemühle, die beim Kurbeln so schön „Alles neu macht der Mai“ spielt. Kasperl und Seppel ziehen los, um dem breitbeinigen Räuberhauptmann mit Schlapphut, Feder und Pistole das Handwerk zu legen. Gemeinsam mit Wachtmeister Dimpfelmoser und Zauberer Petrosilius Zwackelmann triumphieren sie am Ende im Namen der Gerechtigkeit. Happy End! Wie schön. Als Babyboomer habe ich den Räuber Hotzenplotz geliebt. Ausgedacht hat sich diese Geschichte ein gemütlicher Mann mit vertrauensvoller Stimme: Otfried Preußler. Mit seiner „Der-Die-Das-Trilogie“ – Der Räuber Hotzenplotz (1962; Trilogie), Die kleine Hexe und Das Kleine Gespenst verkaufte er über 15 Millionen Bücher in 55 Sprachen und 275 Übersetzungen. Natürlich verschlang ich auch Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer, Pippi Langstrumpf, Kater Mikesch, Emil und die Detektive, Krabat, Momo…

 

 

Kinder brauchen Geschichten, steht auf dem Grabstein von Otfried Preußler. Hochgeehrt verließ der Autor neunzigjährig unseren Planeten. Er hinterließ Bücher, Filme und bei Kindern viele Erinnerungen. 22 Schulen tragen seinen Namen. Eine, die Otfried-Preußler-Schule in Pullach, will nun seinen Namen ablegen. Grund sei die verschwiegene NS-Vergangenheit des Kinderbuchautors. Er könne kein Vorbild mehr sein. Eine „große Mehrheit“ der Schüler-, Lehrer- und Elternschaft habe laut Schuldirektor nach fünfjähriger Debatte die Umbenennung beschlossen. Potzblitz, würde der Räuberhauptmann sagen: Preußler – ein Betrüger? Das geht auf keine Kuhhaut.

Wer war Otfried Preußler? Geboren 1923 in Reichenbach, Sudetenland. Heute Liberec, Tschechische Republik. Geburtsname: Syrowatka. Seine Oma erzählt wunderbare böhmische Geschichten. Als Jugendlicher verfällt er „dem braunen Hexer“, wie er selbst schreibt. Preußler wird HJ-Oberjungführer. Mit siebzehn schreibt er 1940 seinen ersten Roman „Erntelager Geyer“ Der Text über Pimpfe, Lagefeuer und Kameradschaft wird 1944 veröffentlicht. Mit achtzehn tritt er in die NSDAP ein, wenig später kämpft er als Kompanieführer an der Ostfront, erhält das Eiserne Kreuz II. Klasse. 1944 gerät er in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Typhus, Malaria und Fleckfieber überlebt er in seiner fünfjährigen Gefangenschaft wie durch ein Wunder nur dank einer russischen Ärztin. Abgemagert auf vierzig Kilo verfasst er im Lager Gedichte und kriegskritische Theaterstücke. Er sagt, er sei dem falschen Führer gefolgt.

 

Otfried Preußler im Sommer 1941. Als Siebzehnjähriger hatte er ein Jahr zuvor „Erntelager Geyer“ geschrieben. Das NS-tümelnde Buch erscheint 1944, wird nach dem Krieg in Ost und West aussortiert.

 

Neuanfang 1949 im bayrischen Rosenheim. Das Land liegt noch in Trümmern. Seine neue Heimat wird der Chiemgau. Bis 1970 arbeitet er als Volksschullehrer in Klassen mit bis zu 52 Kindern. Generationen von Schülern folgen begeistert seinen Geschichten, die er gerne im Unterricht erzählt. Denn: Langweilig darf es nicht sein.  Nebenbei veröffentlicht er im Bayrischen Rundfunk. Fleißig füttert Preußler in diesen Jahren „das große gefräßige Tier“, seinen Papierkorb. Darin verschwindet auch seine Hitler-Zeit, wie bei den meisten Nachkriegsdeutschen. Nur einmal erwähnt Preußler das Erntelager-Buch in einem Brief an die Künstlergilde Esslingen. Ein ganzes Jahrzehnt feilt Preußler an seinem Jugendroman Krabat. Die Geschichte eines vierzehnjährigen sorbischen Waisenjungen. Der Müllerbursche in der Oberlausitz lehnt sich im Großen Nordischen Krieg gegen seinen Meister auf. Preußler: „Mein Krabat ist meine Geschichte, die Geschichte meiner Generation und die aller jungen Leute, die mit der Macht und ihren Verlockungen in Berührung kommen und sich darin verstricken.“ Das 1971 erschienene Buch wird ein Bestseller.

 

Otfried Preußler (1923-2023) im Jahre 2010. Seine Stücke zählen zu den meistgespielten im deutschsprachigen Raum. Foto: Markus Schlaf

 

Nach Preußlers Tod 2013 mehren sich kritische Stimmen. Dem „Märchenonkel“ werden Hang zu starken Autoritäten und eine heile Welt vorgeworfen. Eine Medienexpertin stört, „dass er einen Standpunkt vertritt, der eigentlich auf den Müllhaufen der Geschichte gehört.“ Schlechte Zeiten für Märchen aus früheren Zeiten? Preußler ergeht es nun wie Astrid Lindgren, Michael Ende (Jim Knopf), Erich Kästner oder Hans Fallada. Der Zeitgeist wirft ihnen falsche Begriffe vor. Die hypersensible Social-Media-Community legt Wert auf Achtsamkeit, Reinheit und Tugendhaftigkeit. Sensitive Reading ist das neue Zauberwort. Der Zeitgeist der Nachgeborenen kommt offenbar mit widersprüchlichen und wandelbaren Menschen nicht mehr klar.

 

Räuber Hotzenplatz. Er brachte es barfuß und mit Räuberhut auf drei Bände und Millionen verkaufter Exemplare.

 

„Der Mensch ist aus krummem Holz geschnitzt“, notierte Aufklärer Immanuel Kant aus Königsberg. Auch er gilt als kontaminiert. Er sei ein Rassist, lautet der Vorwurf.  Was heißt das? Muss dann Günter Grass, der seine Zeit als Heranwachsender in der Waffen-SS lange verschwiegen hat, nicht posthum der Nobelpreis aberkannt werden? Ist Otfried Preußler mit seiner NS-Jugendschwärmerei heute untragbar? Und: Gibt es lupenreine Biografien, unbefleckte Lebensläufe? Sollen „gefährliche Stellen“ ausgetauscht und entschärft werden, damit dadurch „zeitgemäße, korrekte“ Literatur entsteht? Wer entscheidet das?

So viele Fragen. Was denken Sie?

 

Transparenz-Hinweis

Mein Vater und mein Schwiegervater (beide Jahrgang 1928) waren als Flakhelfer an der Front. Beide gerieten sechzehnjährig in Gefangenschaft. Der eine einige Monate in Frankreich in einem ehemaligen deutschen KZ, der andere drei Jahre lang an der Wolga in sowjetischen Lagern. Diese Erfahrung hat ihr Leben geprägt – bis zuletzt.

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Tapfer in den Tod?

Stille und mutige Menschen haben es schwerer als umjubelte Heldenfiguren, die ans Licht drängen. Frauen und Männer, die wenig Aufhebens machen, die um der Sache willen tätig werden. Hilde und Hans Coppi sind stille Helden. Sie Zahnarzthelferin, er einfacher Dreher. Ein verliebtes junges Paar in Zeiten des Faschismus. Sie ist schwanger. Beide schließen sich einer Gruppe Gleichgesinnter an, die in den ersten erfolgreichen Kriegsjahren der Nationalsozialisten nicht schweigen wollen. Während die NS-Propaganda von allen Fronten Siegesmeldungen verkündet, wagen in Berlin rund 150 Menschen kleine Widerstandsaktionen. Sie kommen aus allen Schichten, kleben Flugblätter an Hauswände, hören ausländische Sender ab, schicken Funksprüche nach Moskau. Die Gestapo nennt sie „Rote Kapelle“. Nach Verrat werden deren Mitglieder bis 1943 nahezu alle festgenommen und hingerichtet. Ihr Aufbegehren – ein sinnloser Akt?

 

Hilde Coppi. (1909-1943)

 

Hilde Coppi ist Anfang dreißig. Mit ihrer großen Liebe Hans verbringt sie herrlich unbeschwerte Sommertage an märkischen Seen. Hilde ist eher zurückhaltend, beobachtend. Ihr Spitzname: die „Gouvernante“. Als sie bemerkt, dass Hans in ihrer Datsche heimlich Funksprüche nach Moskau absetzt, macht sie mit. Die werdende Mutter hört „Radio Moskau“ ab, um Gefangenenmeldungen weiterzugeben, hinterlegt in der S-Bahn Flugblätter. Unspektakuläre Formen von Widerstand gegen das allmächtige NS-System. Die beiden werden denunziert. Die schwangere Hilde kommt im September 1942 ins Frauenzuchthaus an der Barnimstraße. Sie bekommt ihr Kind im Gefängnis und nennt den Jungen Hans wie ihren Mann, der im Dezember 1942 unter dem Fallbeil stirbt. Auch Hilde wird wegen „Vorbereitung zum Hochverrat in Tateinheit mit Feindbegünstigung, Spionage und Rundfunkverbrechen“ zum Tode verurteilt. Ihr Gnadengesuch lehnt Hitler im Juli 1943 persönlich ab.

 

Hilde Coppi. Foto: Stiftung 20. Juli

 

In der Todeszelle schreibt sie an ihre Mutter Hedwig Rake: „Du wirst dir denken können, dass ich keine schönen Stunden hinter mir habe. Ein Glück, dass das kleine Hänschen noch bei mir ist, in seinem Interesse muss ich mich sehr zusammennehmen. Ach, Mama, der Gedanke an die Trennung von meinem Kinde will mich fast verzweifeln lassen. Ich glaube für eine Mutter kann es keine größere Strafe geben, als sie von ihrem Kind zu trennen.“ Die Hinrichtung wird um einen Monat verschoben, damit sie ihren kleinen Hans abstillen kann. Am 5. August 1943 wird Hilde Coppi in Plötzensee mit zwölf weiteren Frauen der „Roten Kapelle“ enthauptet.

Andreas Dresen hat dem Ehepaar Coppi ein filmisches Denkmal gesetzt. Liv Lisa Fries aus „Babylon Berlin“ spielt „In Liebe, deine Hilde“ eine junge Hilde, die ihrem Gewissen folgt. Der sensible, kammerspielartige Film geht unter die Haut. Selbst das abgebrühte Berlinale-Pressepublikum zückt Taschentücher. Dabei werden Hilde und Hans Coppi nicht verklärt. Sie bleiben nahbar, zuversichtlich bis verzweifelt, mutig wie resigniert. Bei den Verhören fehlen übliche Klischees. Es wird nicht ständig gebrüllt. Der Film konzentriert sich auf die kalte Mechanik eines Apparats, der jeden Widerspruch verfolgt. Aufseherinnen, Ärzte, Schwestern, Vernehmer und Richter sind Rädchen – „Das ist Vorschrift!“ – im Getriebe eines Systems, das von millionenfacher Anpassung getragen wurde. Dresens filmische Umsetzung öffnet Raum für eigene Gedanken: Wie hätte ich mich verhalten?

 

https://youtu.be/c8JrsRS6O4s?si=ootPHuVBrS6A09gW

 

Von den geheimen Funksprüchen nach Moskau kam nur ein einziger durch. Die Reichweite des Funkgeräts war zu kurz. Die Aufrufe zum Widerstand in Museen oder an Wänden wurden getilgt, Flugblätter vernichtet, als wäre nichts geschehen. Nach dem Krieg wurde das hingerichtete Ehepaar Coppi in der DDR als Widerstandskämpfer gefeiert, im Westen lange als kommunistische Verräter ignoriert, danach gesamtdeutsch vergessen. Der neue Dresen zeigt beklemmend, dass ihre Widerstands-Geschichte keineswegs Vergangenheit ist. Politischer Terror ist heute weltweit auf den Vormarsch. Und kommt uns immer näher. Sohn Hans Coppi Jr. lebt in den USA. Er warnt mit seinen 81 Jahren am Ende des Films, Geschichte möge sich nicht wiederholen. „Anstand lohnt sich immer“, betont Drehbuchautorin Laila Stieler. Wirklich? Auch wenn die Todesstrafe droht? Tja, noch eine Aufforderung zum Nachdenken.

 

 

Leider ging der berührende und pathosfreie Film über Hilde und Hans Coppi auf der Berlinale leer aus. Keine Preise, keine Erwähnung, auch nicht für die hervorragende Lena Liv Fries. Das war fast erwartbar. Berlinale-Jurys favorisieren eher zeitgeistige, cineastische Außenseitersujets. Da haben es heimische stille Helden und deren Geschichten über Anstand, Mut und Tapferkeit schwer. Am 17. Oktober 2024 kommt „In Liebe, Eure Hilde“ in die deutschen Kinos.

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Berlins längste Röhre

Fehrbelliner Platz. „Einsteigen, bitte!“ In der U7 kannst du Berlin hautnah erleben. Der alltägliche Untergrund. Authentisch, ungeschminkt, ruppig und überraschend wie die Stadt. Willkommen in Berlins Bandwurm U-Bahn von Spandau nach Rudow, unweit vom Flughafen BER. Die U7 ist die längste unterirdisch verlaufende U-Bahn-Linie Deutschlands. Eine Zeit lang war sie sogar der längste Tunnel der Welt. Der Spaß kostet 3.50, – im Einzelfahrschein. Die Strecke ist 32 Kilometer lang, zählt vierzig Stationen. Die Fahrt durch die längste Röhre der Hauptstadt dauert eine knappe Stunde.

 

 

„Zurück bleiben!“ In vollen Zügen riecht es nach Alk, Schweiß, Parfum, kaltem Rauch und immer häufiger nach Armut. An den Haltestellen kannst du rasch die sozialen Milieus oberhalb am Tageslicht erkennen. Auf das piefige Spandau, folgen die bürgerlichen Enklaven Charlottenburg und Wilmersdorf. Das lebendige Schöneberg endet abrupt im dunklen Drogenloch U-7-Yorckstraße in Kreuzberg. Weiter geht die Reise im 5-Minutentakt zum sogenannten „Gazastreifen“, der spätestens am Hermannplatz beginnt, mit allem Licht und Schatten, was Berlin zu bieten hat. Schließlich wird es Richtung Rudow wieder etwas entspannter und braver.

„Hey, von der Tür weg. Sonst mach ich Pause!“ dröhnt es aus dem Lautsprecher. Die U7 transportiert die ganze Welt aus über 150 Nationen. Berufstätige, Pendler, Schüler, Studis, Rentner, Selbstdarsteller, Paradiesvögel, Touris, Bettler, Obdachlose, alles ist an Bord. Alle vier, fünf Stationen kann jemand mit Programm zusteigen. Text ungefähr so: „Tach. Ich bin Rudolf, unfreiwillig auf der Straße. Ich weiß, ich nerve. Ich weiß aber nicht, wo ich heute schlafen soll. Jede kleine Spende hilft. Ein Apfel, zwei Groschen, kann auch mehr sein, Ihre Pfandflasche. Bleiben Sie gesund. Gute Weiterfahrt.“ Nach seinem Kurzauftritt schiebt sich der Verzweifelte durch die stumme Menge. Sogleich kreist ein schmutziger Becher vor deiner Nase, du sollst etwas geben. Dein abgebrühtes Großstadt-Gesicht verhärtet sich zu Beton. Schon der dritte Schnorrer heute. Sollen doch andere etwas geben. Ich kann nicht alle in Not retten…“

 

 

„Knocking on heavens door…!“ Ein Australier quält seine Gitarre und die meisten Mitfahrenden. Er meint, Bob Dylan zu sein. Eine Migrantenmama brüllt in ihr Smartphone. Der Ton ist voll aufgedreht. Ein Alki ist eingeschlafen. Er lümmelt auf der Bank in voller Länge. Plötzlich steigen zwei Aufpasser vom Ordnungsdienst zu. „Geschlafen wird hier nicht“, sagt der Kräftigere in gebrochenem Deutsch und rüttelt den Mann wach. „Lass ihn doch pennen“, kontert eine junge Frau mit lila rot gefärbtem Haar. „Er stört doch keinen.“ Wortlos schnappen sich die beiden Bodybuilder-Jungs den verkaterten Kerl und bugsieren ihn beim nächsten Halt auf den Bahnsteig. Sie gestikulieren noch: „Bruder. Dort Ausgang. Tschüss!“

507 Gewalttaten verzeichnet die Statistik in einem Jahr. Die U7 liegt auf Platz zwei in der Hauptstadt. Schlimmer ist nur noch die U8. Selbst die kräftigen Kontrolletis fürchten Messerattacken. Stiche in den Oberkörper zählen bei Gericht als „schwere Körperverletzung“. Stiche in den Oberschenkel dagegen als „versuchten Mord“, wegen der Hauptschlagader. Wen sie ohne Ticket antreffen, dem sagen sie: „Wenn du nichts zahlst, musst du Strafe, Bruder.“ Trotz alledem fahre ich fast täglich U-Bahn. Nicht aus Leidenschaft, aber sie bringt mich in der verstopften Stadt schnell ans Ziel. Trotz aller Vorfälle und Schlagzeilen fühle ich mich sicher. Wenn die U-Bahn nur nicht so oft ausfallen würde wie in jüngster Zeit. In späten Abendstunden kommt sie manchmal gar nicht mehr. Die Gründe sind so vielfältig wie Berlin. Baustellen. Personalmangel. Grippewelle. Kabeldiebstahl. Oder das allseits beliebte: „Störungen im Betriebsablauf!“

 

 

„Nächster Halt: Fehrbelliner Platz.“ Meine Station an der längsten Berliner U-Bahn-Linie U7. Irgendwo in den langen Gängen streiten sich übermütige Kids. „Kriegst gleich was auf die Fresse.“ Ich ziehe den Kopf ein, eile die Treppen hoch, laufe den krumm gebogenen Bahnsteig der U3 entlang, Richtung Ausgang Hohenzollerndamm. An der letzten Bank ist der Stammplatz der Trinkerfraktion. Die Sterni-Flaschen kreisen. Im Beutel scheppern leere Pfandflaschen. Einer steckt sich seine selbstgedrehte Kippe an. „Hör uff! Roochen is verboten, weeßte doch!“ lallt sein Banknachbar. Der Kippenmann winkt ab: „Is mir doch egal!“

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„Wir werden mehr gehasst als Nordkorea“

Es ist zum Verzweifeln! Wie bei Kain und Abel nimmt das Drama im Nahen Osten seinen Lauf. Scharfmacher schüren das Feuer. „From River to the sea, Free Palastine!“ rufen pro-palästinenische Aktivisten. Ein kleines Häuflein jüdischer Gegendemonstranten kontert: „Free Palastine – from Hamas!“ Demos vor der FU Berlin mobilisieren ein Großaufgebot an Polizei. Hörsäle werden besetzt und Vorträge müssen abgebrochen werden. Ein jüdischer Student wird krankenhausreif geschlagen. Die studentische Mehrheit an den Unis schaut weg, die Uni-Leitung versucht sich rauszuhalten. Der FU-Präsident braucht eine Woche Zeit, um erst nach großem öffentlichen Druck ein dreimonatiges Hausverbot für den Schläger zu erteilen. Die Lautstarken bestimmen den Ton. Das Klima ist vergiftet. Seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober, seit dem Einmarsch der Israelischen Armee mit mehr als zwanzigtausend Toten, stellt sich die Frage, was wir tun könnten. Zum Beispiel David Grossman zuhören, dem großen alten Mann der israelischen Literatur.

 

David Grossman. „Frieden ist die einzige Option“.

 

„Wissen Sie, manchmal höre ich hier Leute sagen, dass die Israelis den Palästinensern das antun, was die Deutschen uns im Zweiten Weltkrieg angetan haben. Ich denke, das ist falsch, aber ich glaube, dass etwas Komplizierteres wahr ist und es mit dem zu tun hat, was man uns angetan hat. Wir sind deshalb nicht in der Lage, wirklichen Frieden zu schließen. Das Gefühl des tiefen Misstrauens und der Verletztheit muss geheilt werden, bevor wir in der Lage sind, Frieden mit den Palästinensern zu schließen.

Israel kann kritisiert werden und sollte manchmal sogar kritisiert werden. Aber es sollte nicht delegitimiert werden. Es sollte keine Zielscheibe für Stimmen sein, die dazu aufrufen, Israel zu vernichten. Wir hören es immer wieder, Massendemonstrationen, Tausende oder Hunderttausende von Menschen, die den Tod Israels fordern, die Zerstörung. Kein anderes Land der Erde hat solche Stimmen gegen sich. Nicht einmal das schreckliche, grausame Nordkorea, nicht der Irak zur Zeit Saddam Husseins, nicht Russland, das die Ukraine vergewaltigt. Niemand sagt, lasst uns Russland abschaffen, lasst uns den Irak abschaffen. Diese Rufe gibt es nur, wenn es um Israel geht.

Die moralische Verantwortung der Deutschen gegenüber Israel ist es, die Legitimation zu betonen und daran zu erinnern, auf die Nuancen der Situation zu achten. Es gibt so viele Nuancen. Jeder, der Ihnen sagt, dass er oder sie das Pro­blem sofort lösen könne, weiß nicht, wovon er spricht. Es wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis wir anfangen, uns zu erholen. Von der langen Besatzung und von dem schrecklichen Massaker. Und noch einmal, ich vergleiche die beiden nicht. Ich denke, dass beides zwei völlig verschiedene Realitäten sind.“

 

Nach der Hamas-Attacke vom 7. Oktober 2023. Das Wohnhaus der Familie Babis in Nir Oz. Die Großeltern wurden erschossen. Mutter Shiri (33) und Vater Yarden Bibas (34), ihre Kinder Ariel (4) und Kfir (damals 10 Monate) wurden entführt. Sie sind verschollen.

 

Gaza-City nach israelischen Bombardierungen. Ende Oktober 2023. Bisher kamen über 27.000 Menschen ums Leben. (Stand: Mitte Februar 2024 nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde)

 

Frieden ist die einzige Option, so heißt das neue Buch von David Grossman. Der 70-jährige fragt: „Wie viel Blut muss noch vergossen werden, bis wir einsehen, dass der Frieden unsere einzige Option ist?“ Der Schriftsteller verlor 2006 seinen zwanzigjährigen Sohn Uri im zweiten libanesischen Krieg. Grossman hielt im Oktober 2023 in Israel die Trauerrede für die Angehörigen des Hamas-Massakers.

 

Uri Grossman (1985-2006)

 

Über den frühen Tod seines Sohnes schrieb er diese Zeilen:

Aus der Zeit fallen…

„Wie Tag und Nacht, wie Sommer und Winter
am Tag der Gleiche sich treffen,
so mischen Tod und Leben sich in mir
mit einer Präzision und Weisheit,
die mir – Elendigen –
zuteil wurde zum Preise deines Lebens
(welch bitteres, abscheuliches Geschäft!) –
Und doch, mein Mädchen, ich muss es dir sagen,
sonst werd ich verrückt –
zum ersten Mal weiß ich jetzt
nicht nur, was Tod,
sondern auch was das Leben ist.“