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Willkommen in der „Sperma-Lotterie“

Ist jeder seines Glückes Schmied? Ist Leistung Voraussetzung für Erfolg, Reichtum und Wohlergehen. Nein, andere Faktoren sind entscheidend. Hilfreich ist ein Sechser im Lotto. Noch besser aber ist ein Hauptgewinn in der „Sperma-Lotterie“. Das bedeutet das Glück der privilegierten Geburt. Die 34-jährige Ungleichheitsforscherin Martyna Linartas spricht vom Glück in der Erbengesellschaft, die richtigen Eltern zu haben. In der Regel sind das die Väter. Deutsche Millionäre sind im Durchschnitt 94% westdeutsch, 86% weiß, 77% über fünfzig Jahre alt und zu 69% männlich. Davon profitieren die Erbenkinder von Heilbronn bis Hildesheim.

Martynas Grundthese: Die bundesdeutsche Leistungsgesellschaft hat sich längst in eine Erbengesellschaft verwandelt. Der materielle Reichtum wird in den Familien vererbt. Wer nichts hat, aus dem wird auch nichts mehr. Das mutet wie ein Naturgesetz an. Ist es aber nicht, sagt die FU-Frau in ihrem soeben erschienenen Buch „Unverdiente Ungleichheit“. Ihr aufsehenerregender Befund: In kaum einem anderen westlichen Land sei Vermögen so ungleich verteilt wie in Deutschland – Tendenz steigend. „Entgegen der Behauptung, jede/r könne es mit genug Anstrengung zu viel bringen, entscheidet vor allem die Geburt in die richtige Familie darüber, ob man als kleine, superreiche Elite aufwachsen und leben kann.“ Oder eben nicht. Wie sagt der Volksmund so treffend: „Moral ist gut. Erbschaft ist besser.“

 

Die reichsten 252 Männer haben mehr Vermögen als alle 1 Milliarde Frauen und Mädchen in Afrika, Lateinamerika und der Karibik zusammen. | Quelle: Oxfam 2022. (aus Linartas. Ungleichheit.de)

 

Martyna Linartas weiß, wovon sie spricht. 1992 landete sie mit Bruder und ihren polnischen Eltern erst einmal in einem Obdachlosenheim. In ihrer neuen deutschen Heimat lernte sie Armut kennen, aber auch, dass sich Aufstiegswillen lohnt. Ihre Eltern setzten sich durch. Tochter Martyna auch. Zugleich erlebte sie den Arm-Reich-Gegensatz in der eigenen Familie. Ein Teil davon lebt in Mexiko. Ihr Onkel gehört dort zu den Superreichen. So wurde sie vom familieneigenen Chauffeur durch Mexiko-City kutschiert. Aus dem Fenster konnte sie echte Armut aus nächster Nähe erleben

Die junge Forscherin will die müde und erschöpfte Bundesrepublik wachrütteln. Für sie es ein Skandal, dass Menschen unverdient und ohne eigenes Zutun immer reicher werden. Und das nur, weil sie bei ihrer Geburt in der richtigen Wiege liegen. Sie schreibt: „Diese Erbengesellschaft, in der sich vor allem die reichsten zehn Prozent ihre Anteile an Betriebsvermögen untereinander weiterreichen, wird begünstigt durch eine extrem ungerechte Steuerpolitik. Gerade sehr hohe Erbschaften von zwei- oder dreistelligen Millionensummen können fast steuerfrei weitervererbt werden.“ Auch die neue Merz-Klingbeil-Koalition ändere nichts an der unsozialen Steuerpolitik, genau wie die Ampel-Vorgängerregierung. Das verstärke den Frust. Die Wissenschaftlerin hat besonders die SPD im Visier: „Beim Koalitionsvertrag wird nur nach unten getreten, zum Beispiel in der Bürgergeldfrage und nicht ein einziges Mal nach oben geschaut.“

 

 

 

Martyna Linartas fordert höhere Erbschafts- und Vermögenssteuern. Und noch etwas: ein „Grunderbe für alle“. Das soll bei 190.000 Euro pro Kopf liegen, das entspreche 60 % des Durchschnittsvermögens. Ist das nun Umverteilung, Rückverteilung, gar Gleichmacherei wie im Sozialismus? Nein, widerspricht Martyna in ihren Interviews leidenschaftlich. Wenn es gewollt sei, sagt sie, dass nur die Rechte der Stärkeren geschützt und die Schwächeren schikaniert werden, dann „fallen wir zurück ins Dunkle“. Der braune Boden sei fruchtbar. Die Ungleichheitsforscherin ist überzeugt: „Armut ist das Risiko für die Demokratie.“

Martyna Linartas. Unverdiente Ungleichheit. Rowohlt. 2025.

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Die Geister, die er rief…

Als ein guter Freund sechzig wurde, tauchte ein Überraschungsgast als Geburtstagsgeschenk auf. Ganz in Schwarz gekleidet setzte sich ein junger Mann mit strubbeligen Haaren an den Flügel und legte los. Wow! Es war ein Hammer. Mehr noch: Der Höhepunkt des Abends. Von zarten, verspielten Tönen bis zu kräftigen Klangfolgen wie ein Sommergewitter. Der Name des Mannes an den Tasten: Michael Wollny.

Mittlerweile ist mein Freund fast siebzig und Michael Wollny längst ein Star. Er gilt als einer der wichtigsten europäischen Jazzmusiker seiner Generation. Die Süddeutsche Zeitung nennt ihn einen Musiker, der „aus jeder nur erdenklichen Musik ein Erlebnis machen kann, das einem den Atem nimmt“. Für die FAZ ist er der „vollkommene Klaviermeister“.  Jazz-Puristen und Nörgler nennen seinen Sound naserümpfend Himbeerjazz, zu nah am Kitsch.

 

 

Wollnys neues Album heißt Living Ghosts. Vier lange Stücke, live eingespielt mit Bassist Tim Lefebvre und Schlagzeuger Eric Schaefer. Das ist seit Jahren das Michael Wollny-Trio. Warum live? Der 46-Jährige in der ZEIT: „Es ist keine Studioaufnahme, sondern eine reine Live-Improvisation, es zeigt also genau, was wir gerade fühlen und wahrnehmen. Wir lassen Geister, Themen, Erinnerungen auf die Bühne, teilweise ekstatisch, mitunter besessen. Es ist vielleicht eine Heimsuchung, aber eine positive.“

 

Michael Wollny-Trio. Living Ghosts. 2025

 

Wollny lässt die Geister tanzen. Er zaubert sie auf seinen 88 Tasten aus der Flasche. Die Geister, die er rief, wird er nicht mehr los. Das ist gut so. Denn sein Jazz ist eine Entdeckungsreise. Ein sehr spezieller Sound zum Aufputschen, dann plötzlich wieder leise, sensibel, zum Wegträumen.

 

 

Musik muss überraschen. Das ist der wesentliche Unterschied zu KI-getriebenen Fertigprodukten. Wollny: „Zu Beginn eines Konzerts wissen wir nie, welche Fragmente von welchen Stücken auftauchen werden oder in welcher Reihenfolge sie sich entfalten werden.“ Dabei experimentiert das 1978 geborene Ausnahmetalent Wollny von Kindesbeinen an. Von Jugend musiziert zum Bundesjazzorchester. Von der Musikhochschule Würzburg bis in die Popcharts. Wollny lebt heute in Leipzig und lehrt als Professor an der Hochschule für Musik und Theater.

Sein KI-betriebener Konzertflügel in Lausanne heißt Lars: Lars für „Listen, Action, Reaction, Silence“. Das digitale Klavier ist für Wollny eine Herausforderung, so eine Art „musikalischer Gymnastikraum“. Michaels Maxime: „Man braucht einen Kompass, muss wissen, wo man hinwill, während man gleichzeitig offen sein muss, Neues über den eigenen Kompass herausfinden.“

 

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Unser täglich Brot

April 1945: „Es ist Frühling, so etwas wie Freude liegt in der Luft. Die ersten Blumen streckten vorwitzig ihre Köpfe hervor“, notiert der französische KZ-Häftling Yves Béon. Die Berliner Journalistin Ruth Andreas-Friedrich schreibt vor genau achtzig Jahren: „Bis in die letzte Dachkammer soll der Widerstand fortgesetzt werden. Wofür? Damit Herr Hitler sich noch eine Woche länger am Leben hält. Damit Herr Göring seinen Fettbauch weiter mit Gänseleber vollstopft.“  Seit Anfang April wird in Berlin Brot offiziell nur noch mit Hilfe von Sondermarken durch NS-Dienststellen verteilt. Die „Abteilung Wehrmachtspropaganda des Oberkommandos der Wehrmacht“ bemerkt: „Große Missstimmung herrscht in der Bevölkerung der Vororte, die keine Sonderbrotzuteilung erhalten“. Statt Brot gibt es Bomben und nur noch Durchhalteparolen: „Aufgeben niemals! Der Endsieg steht vor der Tür!“ Niemand bei klarem Verstand glaubt noch daran.

 

Die Bäckerei „Treppauf“ in Berlin-Rahnsdorf. In diesem kleinen Laden hat sich Anfang April 1945 eine große Tragödie abgespielt. Das Foto stammt aus DDR-Zeiten. Vermutlich 70er Jahre.

 

Das tägliche Überleben sieht so aus: Für jede/n in Berlin werden noch genau 254 Gramm Brot, 32 Gramm Fleisch und 16 Gramm Fett täglich zugeteilt. Am Freitagmorgen, den 6. April 1945 verbreitet sich im Köpenicker Vorort Rahnsdorf eine Nachricht wie ein Lauffeuer: Den Bäckereien geht das tägliche Brot aus. Das Lebensmittel gibt es nur noch gegen Bezugsschein oder für Wehrmachtsangehörige. Etwa zweihundert Frauen, Kinder und Alte versammeln sich vor der zentralen Bäckerei Deter an der Fürstenwalder Allee 27. Im Volksmund nur „Bäcker treppauf“ genannt. Die Menschen haben Angst und Hunger. Sie fordern Brot. Die nazitreuen Inhaber weigern sich, Brot ohne Marken zu verkaufen. Sie rufen den NS-Ortsgruppenleiter Hans Gathemann herbei.

 

 

 

Als die Menge den kleinen Laden stürmt und tatsächlich einige ein Brot ergattern können, zückt der mit dem Rad herbeigeeilte Nazi-Mann Gathemann seine Pistole und droht „alle Plünderer“ zu erschießen. Es folgen aufgeregte und wütende Wortgefechte. Die Menschen sind verzweifelt. Der 56-jährige Tischlermeister Max Hilliges ruft dem NS-Mann zu: „Gebt den Frauen doch Brot!“ Und: „Du musst Deinen braunen Rock sowieso bald ausziehen.“ Dieser richtige Satz zur falschen Zeit hat tödliche Konsequenzen.

Das NS-Regime nimmt grausam Rache. Als die Menge auseinander stiebt, notieren die Bäckersfrau, zwei Nachbarinnen und der NS-Ortsgruppenleiter insgesamt fünfzehn Namen auf einem Stück Brotpapier. Diese „Aufrührer“ werden noch am selben Abend von Polizei und Gestapo festgenommen. Drei sogenannte „Rädelsführer“, zwei Frauen und der Tischler, werden am Tag darauf im Polizeipräsidium am Alex zum Tode verurteilt. „So muss man vorgehen, wenn man in einer Millionenstadt Ordnung halten will“, notiert NS-Propagandachef Joseph Goebbels zufrieden in sein Tagebuch.

 

Das Ehepaar Walter und Margarete Echlepp. Sie waren in Berlin-Steglitz ausgebombt worden und lebten am Kriegsende 1945 in einer kleinen Datsche im Köpenicker Vorort Rahnsdorf. Margarete wurde „als Rädelsführerin“ für ein Stück Brot hingerichtet. Walter erhielt nach Kriegsende keinerlei Entschädigung, nicht einmal eine Entschuldigung. Foto: privat

 

In der Nacht vom Sonntag zum Montag, vom 7. auf den 8. April 1945, werden Max Hilliges und die 45-jährige Hausfrau Margarete Elchlepp hingerichtet. Die beiden gehören zu den letzten Ermordeten von Plötzensee. Enthauptet für ein Stück Brot. Margaretes Schwester Gertrud „begnadigt“ Goebbels zu zehn Jahren Haft, weil sie Mutter von drei Kindern ist. Die 37-Jährige überlebt das Kriegsende im Zuchthaus Hamburg-Fuhlsbüttel.

 

Berlin-Rahnsdorf im Osten der Hauptstadt. Seit November 2022 erinnert wieder eine Gedenkstele an das NS-Verbrechen vom April 1945. Die erste Gedenktafel an der Bäckerei aus dem Jahre 1998 war jahrelang verschwunden.

 

Wenige Apriltage nach dem Brotaufstand von Rahnsdorf treffen sich in San Francisco Delegierte aus fünfzig Nationen. Sie formulieren in wochenlanger Arbeit insgesamt 111 Artikel der „Charta der Vereinten Nationen“. Aus dem Wahnsinn, Weltkrieg und Naziterror, soll eine bessere Zukunft entstehen. In einem Vorwort zur UNO-Gründung schreibt der Pulitzer-Preisträger Stephen Vincent Benét hoffnungsfroh:

„Herr, unsere Erde ist nur ein kleines Gestirn im großen Weltall. An uns liegt es, daraus einen Planeten zu machen, dessen Geschöpfe nicht von Kriegen gepeinigt werden, nicht von Hunger und Furcht gequält, nicht zerrissen in sinnlose Trennung nach Rasse, Hautfarbe oder Weltanschauung. Gib uns den Mut und die Voraussicht, schon heute mit diesem Werk zu beginnen, damit unsere Kinder und Kindeskinder einst stolz den Namen Mensch tragen.“

Es ist eine Binse. Aber sie ist aktueller denn je. Erinnern ist handeln.

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Von guten und bösen Mächten

Haben wir noch Vorbilder, denen wir vertrauen? Heldinnen und Helden? – Na, klar. Einfach mal genauer hinschauen. Vielleicht in der Notaufnahme, im Freundeskreis oder in der Nachbarschaft. Ja, aber es stimmt: In unserer TikTok-Talkshow-Demokratie mit ihren Eintagsfliegen und Dauererklärern fällt die Wahl schwer. Ach, und das aktuelle Führungspersonal von Erdogan über Trump bis Putin? Eine einzige Katastrophe. Heutzutage gibt nur noch wenige Lichtgestalten, auf die sich Menschen verständigen können: Ja, Sophie Scholl von der Weißen Rose, Martin Luther King Jr., Nelson Mandela oder Dietrich Bonhoeffer.

 

Dietrich Bonhoeffer 1939 in London. Foto: Gedenkstätte Deutscher Widerstand.

 

Genau: Dietrich Bonhoeffer, dieser protestantische Pastor mit der randlosen Brille aus großbürgerlichem Hause. Dieser mutiger Mann der Bekennenden Kirche, klar und unbeugsam im Widerstand.  Vor genau achtzig Jahren wurde der 39-Jährige im KZ-Flossenbürg grausam nackt stranguliert. Kurz nach sechs Uhr morgens im Nebelgrauen am 9. April 1945 –auf ausdrücklichen „Führerbefehl“. Die Nazis nahmen ihn kurz vor ihrem Untergang mit in den Tod. Keinen Monat später war der Hitler-Alptraum vorbei.

 

Original-Reisepass Dietrich Bonhoeffer. Im Sommer 1939 wird ihm in New York eine feste Stelle in der Flüchtlingsbetreuung angeboten. Er lehnt ab. Die Lage in der Heimat verbiete ein Fernbleiben. Bonhoeffer kehrt nach Deutschland zurück. Quelle: Staatsbibliothek Berlin

 

In den USA ist der Deutsche Bonhoeffer schon lange ein Superstar. Warum? „Was diesen Pfarrer auszeichnete, war eben nicht sein Ja zum Tyrannenmord“, betont US-Pastor William Schweiker, „sondern sein Mut, dem eigenen Gewissen zu folgen – christlich zu handeln, als es darauf ankam. Und nicht als es bequem war.“

Bonhoeffers konsequentes Eintreten für verfolgte Minderheiten und sein praktischer Widerstand wurden und werden weltweit anerkannt. Ob im Anti-Apartheid-Kampf Südafrikas oder von drangsalierten Kirchengruppen der DDR. Für den chinesischen Nobelpreisträger Liu Xiaobo ist der Theologe sein großes Vorbild, einer der wenigen „von guten Mächten“.

 

Aus den Gestapoakten, 1940. „Jedes Auftreten ist zu verhindern.“

 

Doch die Sache mit dem „Märtyrer des Widerstands“ wird leider etwas komplizierter. In den letzten Jahren haben religiöse US-Fundamentalisten Bonhoeffer als ihren „evangelikalen Heiligen“ im Kampf gegen das liberale, woke US-Establishment vereinnahmt. Einer von Trumps Einflüsterern ist der Bonhoeffer-Bestsellerbiograf Eric Metaxas. Der Fox News-Mann propagiert im Kampf um die Macht erfolgreich den „Bonhoeffer-Moment“: „Jetzt können wir endlich klar erkennen, dass Biden unser Hitler ist. 1933-34. Siehe mein Bonhoeffer-Buch für Details. Die Parallelen sind atemberaubend und werden immer offensichtlicher. Betet für diese Nation. Betet.“

Bonhoeffer als Leitstern für die Make America Great Again-Bewegung. „Anders als Martin Luther King Jr., der vor allem von Linken und Moderaten bewundert wird, gilt Bonhoeffer auch bei Konservativen und Rechten als Heiliger“, bestätigt der liberale Theologieprofessor William Schweiker von der Uni Chicago.  Diese Instrumentalisierung sei unerträglich, protestiert die große Bonhoeffer-Familie in einem offenen Brief. Die rund hundert Nachkommen wehren sich vor allem gegen den neuen US-Film „Bonhoeffer“ und dessen aggressive US-Vermarktung durch die Evangelikalen.

 

 

Wem gehört Bonhoeffer? Im Nachkriegsdeutschland galt der streitbare Protestant als Provokation. Er störte die neue Wirtschaftswundergesellschaft mit ihren vielen unbehelligten Alt-Nazis und Mitläufern. Der SS-Richter, der Bonhoeffer zum Tode verurteilte, erklärte vor Gericht: „Befehl ist Befehl“. 1956 konnte der Karriere-Jurist nach seinem Freispruch vor dem Bundesgerichtshof unbeschadet weiter als Rechtsanwalt arbeiten.

Wie umgehen mit der aktuellen Trump-Strategie der feindlichen Übernahme von Bonhoeffers „guten Mächten“.  Was tun, wenn die aggressive Umdeutung der Welt eines der Hauptmerkmale der Trumpisten ist. Tarnt sich das Böse erfolgreich als „gute Macht“? Wird die Erde wieder zur Scheibe?

 

Ort der Hinrichtung. Innenhof des Arrestbaus KZ-Flossenbürg. Am 9. April 1945 sterben im Morgengrauen Dietrich Bonhoeffer und fünf weitere „Hochverräter“ um Abwehrchef Canaris qualvoll am Strang. Aufnahme vom Juli 2024.

 

Dietrich Bonhoeffer erkannte vor über achtzig Jahren: „Die große Maskerade des Bösen hat alle ethischen Begriffe durcheinandergewirbelt. Dass das Böse in der Gestalt des Lichts, der Wohltat, des geschichtlich Notwendigen, des sozial Gerechten erscheint, ist für den Christen, der aus der Bibel lebt, ist es gerade die Bestätigung der abgründigen Bosheit des Bösen.“

Diese Warnung notierte der weitsichtige Bonhoeffer in seinem Text „Nach zehn Jahren“ (Hitler-Diktatur). Er schrieb diese Sätze zum Jahreswechsel 1942/43, als die bösen Mächte der Nazis Triumphe feierten.

Zu empfehlen ist der Besuch des Bonhoeffer-Hauses in Berlin-Westend. Ein Ort der Ruhe, Begegnung und Aufklärung. Hinweis: Unbedingt vorher anmelden.

 

Hier noch eine filmische Alternative zum US-Streifen. „Dietrich Bonhoeffer. Die letzte Stufe.“ Regie: Eric Till (UK). 2000. Ulrich Tukur als Bonhoeffer.

 

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Über 20.000 Brücken

Willkommen in Berlin. Die A100 zählt mit bis zu 230.000 Fahrzeugen am Tag zu den am stärksten befahrenen Autobahnen Deutschlands. Ausgerechnet das Dreieck Funkturm, das Nadelöhr der Stadt, ist seit einer Woche gesperrt. An diesem Knotenpunkt treffen sich die beiden Pulsadern Avus und Berliner Innenstadt-Ring. Nun ist Schluss. Für mindestens zwei Jahre. Die zentrale 240 Meter lange Brücke aus dem Jahre 1963 ist fix und fertig. Aus. Vorbei. Feierabend. Der Grund: immer größere Risse am Tragwerk. Daher Vollsperrung, der Abriss ist unvermeidbar. Auch die kurz darauf folgende 500 Meter lange Westendbrücke, gleichfalls aus Spannbeton, ist ein kompletter Sanierungsfall. Offiziell heißt das: „Tragfähigkeitsdefizite“. Ein Sprecher: „Wir waren gezwungen, aus Sicherheitsgründen zu handeln.“

 

Berlin. A100-Vollsperrung am Funkturm. Nichts geht mehr.  Foto: Funke Foto Services Reto Klar

 

Was die Klimakleber in vielen Monaten nicht geschafft haben, war jetzt in wenigen Tagen möglich. Totaler Stillstand. Der Verkehr ruht am zentralen, westlichen Knotenpunkt der Hauptstadt. Was kaum noch überrascht: Das Problem mit dem Betonkrebs ist seit langem bekannt, die marode Ringbahnbrücke seit Jahren unter Beobachtung. Passiert ist – nichts! Jetzt hat die zuständige „Autobahn GmbH“ kapituliert und die Totalsperrung verfügt. Notfallpläne? Fehlanzeige. Seitdem schiebt sich ein Blechlawinen-Tsunami durch enge Wohnstraßen im angrenzenden Charlottenburg. Fahrzeit bis zwei, drei Stunden plus. Abgaswolken, Drängeln, Fluchen, Hupen, das volle Programm. Bei vielen liegen die Nerven blank.

 

 

Mittlerweile sind „im Rahmen der Gefahrenabwehr“ auch die Schleichwege gesperrt. Dort herrschte nach dem Brückenkollaps das blanke Chaos. Hinzu kommt: Das Berliner Straßennetz ist derart betagt, dass der zuständige grüne Baustadtrat die Notbremse ziehen musste, wie er betont. Der massive LKW-Ausweichverkehr drohe die marode Strom-Wasser- und Gasleitungssysteme unter dem Asphalt der kleinen Seitenstraßen zu erschüttern. Die Vollsperrung ist ein Mobilität-GAU mit Ansage. Ein Verkehrskonzept für die nächsten Monate? Wäre zu schön, gibt es aber (noch) nicht. Ab Anfang April soll die Blechlawine zunächst provisorisch auf eine Spur der Gegenfahrbahn der A100 umgeleitet werden.

 

 

Die verschlissene Berliner Ringbahnbrücke ist eine von rund zwanzigtausend Brücken in Deutschland, die dringend saniert bzw. neu errichtet werden muss. Na, klasse! Kann das soeben verabschiedete 500 Milliarden-Infrastruktur der neuen Merz-Regierung rasche Abhilfe leisten? Das wäre ein Träumchen, Made in Germany! Geduld und starke Nerven wie bei der Deutschen Bahn sind gefragt. Daher empfiehlt es sich eher, entweder zu Hause zu bleiben. Wer muss, sollte mit dem Rad oder den Öffentlichen fahren, falls nicht wieder der Berliner Nahverkehr bestreikt wird. Wer unbedingt mit seinem Gefährt unterwegs sein muss, für den gibt es zur Erbauung ein paar Brückensongs, um im Stau entspannt zu bleiben. Vielleicht hilft’s? Über 20.000 Brücken musst du fahren …

 

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„Der Autor meines Lebens“

Ein bekannter Schauspieler trifft einen verkannten Schriftsteller. Charly Hübner auf den Spuren von Uwe Johnson. Uwe wer? Hübner hat mit seinem kleinen 125-seitigen Text „Wenn du wüsstest, was ich weiß“ eine große Liebeserklärung an den Schriftsteller Uwe Johnson (1934-1984) verfasst. Er ist der „Autor meines Lebens“, notiert Hübner, einer der beliebtesten Schauspieler Deutschlands, „weil er in einem Kindheitstraum von mir sehr nahe kommt: die Idee einer Maschine, die den ganzen Strom des Denkens, den Lauf der Dinge und des Lebens festhält, niederschreibt, markiert.“ Johnson sei „ein Kind und Narr“. Charly Hübner schwärmt in vollen Zügen: „Weltliteratur aus der Heimat also? Das war neu. Das war unglaubwürdig. Das war wirklich cool.“

 

Uwe Johnson. (1934-1984). Im Zeughauskino Berlin ist am 17. Mai 2025, 20.00 Uhr die Doku zu sehen: „Uwe Johnsons sieht fern“.

 

Wer war Uwe Johnson? Ein eigensinniger Dickschädel und ein heimatloser Intellektueller. 1934 geboren, schildert er in seinem Hauptwerk Jahrestage Menschen und Landschaften zwischen Stadt und Land, Ost und West, New York und Mecklenburg. Rastlos ist Johnson unterwegs, nirgendwo zu Hause. Geboren in Pommernland, seine Heimat Anklam im Krieg abgebrannt. Aufgewachsen in der Barlach-Stadt Güstrow. Studium in den DDR-Fünfzigern in Rostock und Leipzig. An der Uni sucht er Wahrheit, findet jedoch nur Dogmen, Linientreue und Verrat. Er stolpert in Konflikte mit Parteifunktionären, die ihm die Luft zum Atmen nehmen.

 

Uwe Johnsons Studienbuch. Universität Rostock/DDR.

 

Wechsel, „nicht Flucht“, wie er stets betonte, von Ost- nach West-Berlin. Mitglied des legendären Literaturclubs Gruppe 47. Aus dem beschaulichen West-Berliner Friedenau folgt der große Sprung nach New York. Danach Exil in einer armen, heruntergerockten Arbeitergegend Londons. In Sheerness stirbt er mit 49 Jahren – an Alkohol, Weltschmerz und gebrochenem Herzen. Seine Leiche fand man erst 19 Tage nach seinem Tod.

 

 

Johnson: „Ich bin sicher, es gibt Geschichten, die man so einfach erzählen kann, wie sie zu sein scheinen. Ich kenne keine.“ So klingt der Original-Johnson-Sound. Eine Kostprobe: „Lange Wellen treiben schräg gegen den Sand, wölben Buckel mit Muskelsträngen, heben zitternde Kämme, die im grünsten Stand kippen.“ Warum sollen wir uns heute mit Geschichte aus dem Kalten Krieg befassen, fragt Charly Hübner, der als Jugendlicher Johnson eher per Zufall entdeckte. Für ihn ist klar: Einzelgänger Johnson „erzählt nicht Vergangenes, sondern Brennendes“.

 

Das Uwe Johnson-Literaturhaus in Klütz an der Ostsee. Mehr als ein Geheimtipp.

 

Noch ein Ausflugstipp: Im mecklenburgischen Klütz gibt es in einem ehemaligen Getreidespeicher seit knapp einem Jahrzehnt ein lohnenswertes Literaturhaus für Uwe Johnson. Vermutlich war der gute Mann nie in Klütz. Aber der verschlossene wie geniale Chronist des geteilten Deutschland erfand in seinen „Jahrestagen“ einen fiktiven Ort mit dem Namen Jerichow. Dieses Jerichow „unweit der Lübecker Bucht“ passe auf Klütz wie der sprichwörtliche Deckel auf den Topf, betonen lächelnd die Initiatoren. Darum genau hier das Johnson-Haus. Wo sonst?

Charly Hübner. „Wenn du wüsstest, was ich weiß.“ Suhrkamp, 2024.

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„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“

Mai 1945. Der Krieg ist vorbei. Das Land zerstört. Die Nazis verschwunden. Die Reichshauptstadt ein Trümmerhaufen. Jedes dritte Gebäude zerstört oder schwer beschädigt. Alles ist knapp: Wasser, Strom, Lebensmittel und Hoffnung auf einen Neuanfang. „In diesem Sommer 45 ist nichts mehr, wie es war“, schreibt Bestsellerautor Oliver Hilmes. Mit der sogenannten Stunde Null entwickelt sich eine Zeit der Extreme. Zwischen Glück und Hoffnung der Befreiten, zwischen Elend und Enttäuschung der Besiegten. Hilmes erzählt in seinem neuen Buch „Ein Ende und ein Anfang“ Anekdoten und Geschichten aus den ersten Nachkriegsmonaten von Mai bis September 1945. Gab es den berühmten Zauber des Anfangs?

 

Sommer 1945. Gemüsebeet am Brandenburger Tor.

 

Sommer 45: Für die allermeisten heißt es: Schlangestehen. Kartoffeln auf dem Feld „organisieren“. Beim Fleischer viermal abgewiesen werden. Schwarzmärkte schießen aus dem Boden. Die Stunde der Schieber. Die wichtigste Währung: eine Schachtel Chesterfield. In Ostpreußen wird gehungert, Folge der Politik der verbrannten Erde. Und: Befreit werden kann nur, wer sich unfrei fühlt. Eine Mehrheit der Deutschen waren Nazis, stellen die Alliierten fest. Nach der Niederlage meinen sie, belogen und betrogen worden zu sein. Keine Nazis, nirgendwo. Sie lösen sich in Nichts auf. Hitler ist es gewesen, dieser Schuft. Er hat uns verführt.

 

Sommer 45 am Spittelmarkt, Ecke Wallstraße in Berlin. Foto: Waleri Faminski

 

Regisseur Billy Wilder soll als US-Offizier der „Information Control Division“ im Mai 45 das geistige Leben im zerstörten Dritten Reich kontrollieren und die Deutschen vom Nationalsozialismus befreien. Der deutsch-jüdische Erfolgsregisseur musste 1934 in die USA emigrieren. Nun will er zu einem demokratischen Neuanfang beitragen: Soll ein ehemaliger SS-Mann in Oberammergau Jesus spielen? Billy Wilder: „Sie dürfen spielen, aber nur unter einer Bedingung: dass Sie die richtigen Nägel nehmen.“

 

Sommer 45. Café am Kurfürstendamm. Quelle: DHM

 

Wilders heikelste Aufgabe: Er soll Die Todesmühlen“-Rohfassung von Hanus Burger überarbeiten. Das 86-minütige Material zeigt schonungslos KZ-Verbrechen. Billy: „Es gab beispielsweise eine Szene von der Befreiung von Bergen-Belsen, die ich nie vergessen werde. Da war ein ganzes Feld, eine ganze Landschaft von Leichen. Und auf einer der Leichen sitzt ein sterbender Mann. Er ist der Einzige, der sich in diesem Totental noch bewegt, und er blickt apathisch in die Kamera. Dann wendet er sich ab, versucht aufzustehen, erhebt sich mühsam, stolpert über eine Leiche, fällt um und bleibt tot liegen. Ich habe noch heute den letzten Blick des Mannes vor Augen, den erschütterndsten Blick, den ich je gesehen habe.“

Billy Wilder kürzt den Film, Hanus Berger ist entsetzt. Wilders Begründung: „Ein Film muss unterhalten.“ Billy Wilders Version dauert 22 Minuten.

 

 

Der 38-jährige Klaus Mann ist als Sonderberichterstatter für Stars and Stripes in Bayern unterwegs. 1933 emigriert, kehrt der Sohn des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann als US-Bürger in seine Heimat zurück. In München muss er feststellen, dass sein Elternhaus in der Poschingerstraße schwer beschädigt ist. Er trifft eine misstrauische Ausgebombte, die sich im zweiten Stock notdürftig eingerichtet. Die junge Frau berichtet, das Mann-Anwesen sei von der NS-Organisation „Lebensborn“ genutzt worden. „Stramme Burschen von der SS waren hier einquartiert, sehr feine Leute wirklich: die reinsten Bullen.“

Mitte Mai 45 besucht Klaus Mann inkognito den Komponisten Richard Strauss in seiner Villa in der Nähe von Garmisch-Patenkirchen. Der achtzigjährige Strauss plaudert, das Dritte Reich sei „in mancher Beziehung lästig“ gewesen. Er empört sich, dass kurz vor Kriegsende noch Ausgebombte einquartiert werden sollten. „Fremde – hier, in meinem Heim!“ Dazu kommt es nicht mehr. Der weltberühmte Komponist lobt NS-Politiker Hans Frank, „den Schlächter von Polen“. Strauss: „Sehr fein! Sehr kultiviert! Er schätzt meine Opern!“ Seine Schwiegertochter Alice habe er gerettet, sie sei „die einzige freie Jüdin in Großdeutschland“ gewesen. Zum Abschied bietet Strauss ein signiertes Foto an. Mann lehnt dankend ab.

Was der Dichtersohn nicht wissen kann: Einen Monat zuvor hatte Strauss im April 45 sein neues Werk beendet: Metamorphosen für 23 Solostreicher. Die Komposition kündet von von einer Welt, die in Trümmern liegt. Strauss notiert dazu: „Der Nationalsozialismus ist die schrecklichste Periode der Menschheit. 12jährige Herrschaft der Bestialität, Ignoranz u. Unbildung unter den größten Verbrechern.“

 

 

Wie das Leben nach dem 8. Mai 1945 weitergeht, erzählt das neue Hilmes-Buch. Empfehlenswert: Oliver Hilmes. Ein Ende und ein Anfang. Wie der Sommer 45 die Welt veränderte.

 

Berlin-Wilmersdorf. Pfalzburgerstraße. Bei mir um die Ecke. Zwei Straßen von meinem Wohnort entfernt.

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Des Meisters Vorbild

Er ist 24 Jahre alt. Komplett unbekannt. Ein Provinzjunge aus Minnesota. Lockenkopf, Klampfe, Mundharmonika, eigene Texte. Sein Wunsch: die Welt mit seinen Songs zu beeindrucken. Bob Dylan als Rolling Stone in New York. Das ist die Geschichte der neuen Kino-Biografie „A complete Unknown“ mit Tinotheé Chalamet in der Hauptrolle als junger Folk-Musiker. Es geht um Dylans erste Jahre in New York bis zum großen Auftritt beim legendären Newport-Festival 1965. Gegen den Rat der Altvorderen wie Pete Seeger trat der Newcomer mit elektrischer Gitarre auf. So performte der junge Dylan elektrisch verstärkt seine Folk-Songs – und wurde weltberühmt: „Like a Rolling Stone“. Es hagelte später Judas-Rufe. Bobs Antwort zur Band: „Play fucking loud“.

 

 

Dylan ist sich treu geblieben. Auch mit 83 Jahren ist und bleibt er der Lonesome Rider des Pop-Business. Verschlossen, abweisend, distanziert bis zur Karikatur. So pflegt er seinen eigenen Mythos vom poetischen Ausnahmekünstler. Typ: unnahbares Genie. Konsequent zieht er seine sperrigen Ego-Bühnenauftritte bis heute durch. Bloß kein Wort an das Publikum. Besser: Schlecht gelaunt gute Songs präsentieren. Handys im Publikum sind ihm ein Horror. Bei seinen großen Hits dreht er manchmal sogar den Fans den Rücken zu. Wie formulierte es seine damalige Weggefährtin Joan Baez in den Anfangsjahren: Bob, du bist ein hochtalentiertes Arschloch.

 

 

2016 erhielt die Folk-Legende als erster Musiker den Literaturnobelpreis «für seine poetischen Neuschöpfungen in der großen amerikanischen Songtradition». Zum Abholen der Auszeichnung schickte er Patti Smith nach Europa. Erst drei Monate später nahm der Einzelgänger seine Urkunde vor einem Konzert in Schweden persönlich entgegen. Ein Mann, der wenig redet. Der in seinen Songs alles sagt, was zu sagen ist. Und nun singt Opa Bob für die Enkel. Der Hollywood-Film A Complete unknown ist auch für die TikTok-Generation inszeniert.

Doch selbst Idole haben Vorbilder. Der junge Robert Zimmermann verehrte Dylan Thomas. Er benannte sich nach ihm. Aus Robert Zimmermann wurde Bob Dylan. Dylan Thomas – das Dichtergenie aus Wales. Penibel beim Dichten, schlampig im Alltag. Ein genialer Wortschöpfer und noch besserer Trinker. Mit 39 Jahren starb er in New York nach der erfolgreichen Premiere seines Meisterwerks „Unter dem Milchwald“. Drei durchzechte Nächte im „White Horse Tavern“ in Greenwich Village überlebte er nicht. Zwanzig Jahre hatte Dylan Thomas an jedem Wort seiner Kleinstadtgeschichte gefeilt – über einfache Leute mit ihren kleinen und großen Hoffnungen.

 

Auf den Spuren von Dylan Thomas. (1914-1953) Im legendären New Yorker Pub „White Horse Tavern“ hängt der große Dichter heute noch neben den Tresen an der Wand.

 

Eine Kostprobe aus dem Milchwald. Dylan Thomas: „Nur du kannst die Häuser schlafen hören, in den Straßen, in der langsamen, tiefen, salzigen, schweigenden, schwarzen bindenumhüllten Nacht. Nur du kannst in den vorhangblinden Schlafzimmern die Kämme sehen, die Unterröcke über den Stuhllehnen, die Krüge und Becken, die Gläser mit falschen Gebissen, an der Wand das „Du sollst nicht“ und die vergilbenden Bitte-recht-freundlich-Bilder der Toten.“

Der junge Robert Zimmermann aus Minnesota möchte so sein wie sein Leitstern Dylan. Allein zieht er los in die Welt – nach New York. Wie sein Namenspatron Dylan Thomas setzt Bob Dylan in seinen Texten konsequent auf Verfremdung und Verschlüsselung. Es ist oft genug geschrieben worden, dass sein Gesangstalent mit seinen Texten nicht Schritt halten kann. Dass viele Cover-Versionen viel besser sind als das Original (All along the watchtower u.v.a.). Dass Dylan sich hemmungslos aus der Literaturgeschichte von Shakespeare bis Dylan Thomas bedient hat. Aber der Künstler hat diesen unverwechselbaren Dylan-Sound kreiert. Ein Beispiel: Sein längster Song aus dem Jahre 1965 heißt Desolution Row. Das kann mit Elendsquartier übersetzt werden.

 

Bob Dylan: „Und sie bringen sie alle zu der Fabrik,
wo ihre Herzanfall-Maschin´
wird geschnallt um ihre Schultern
und dann wird das Kerosin

Heruntergebracht von den Burgen
von Versicherungsvertretern, die sorgen dafür,
dass nur niemand kann entkommen
in das Elendsquartier.“

 

Zu empfehlen ist für alle Dylan-Maniacs selbstverständlich der englische Originaltext von Desolution Row. Und der neue Kinofilm: A Complete Unknown. Alles andere ist … Blowing in the Wind.

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Einer wie keiner

Der Gundermann auch Erd-Efeu ist eine krautige, in Europa weit verbreitete Pflanze. Aufgrund der ätherischen Öle und Bitterstoffe ist der Gundermann früher als Gewürzpflanze verwendet worden. Die Pflanze fand bei den germanischen Völkern als Heil- und Zauberpflanze Verwendung. Ende des 20. Jahrhunderts verzauberte ein Liedermacher namens Gundermann seine Mitmenschen mit mutmachenden Liedern. Gundermanns Verbreitungsgebiet beschränkte sich besonders auf die Lausitz, ein armer Landstrich im Südosten der DDR. Ein kleines Land, das es nicht mehr gibt. Sein vollständiger Name: Gerhard Gundermann, genannt Gundi. In diesen Tagen wird in der Heimatstadt Hoyerswerda sein 70. Geburtstag gefeiert. Der Singer-Songwriter wurde 43 Jahre alt.

 

Gerhard „Gundi“ Gundermann. (21. Februar 1955 – 21. Juni 1998)

 

Im Sommer 1998 wollte oder konnte Gundi nicht mehr. Eine Woche vor seinem Tod am 21. Juni zitierte er bei seinem letzten Konzert eines seiner Lieder:

„Meine Mutter ist so tot wie auch mein Vater, so muss ich einsam durch die Lande ziehen.

Zum Geldverdienen spiele ich Theater, die Leute nennen mich den Harlekin.“

Heute ist Gundermann im Osten Kult, im Westen weiter nur in wenigen Feinkostabteilungen der Musikszene bekannt. Der Baggerfahrer, der rastlos mit Fleischerhemd, Hosenträger und Klampfe unterwegs war. Ein Musiker mit bittersüßen Liedern über Heimat, Verlust und Vergänglichkeit. Mit seiner Band Seilschaft tourte er vor vollen Sälen im gebeutelten Nachwendeland. Die Medien nannten ihn Springsteen des Ostens. Dylan des Tagebaus oder Rio (Reiser) des Ostens.

 

Gundermann im Lausitzer Revier. Er lieferte den Soundtrack der Vorwende- und Nachwende-Depression.

 

„Irritation“ wäre wohl ein passender, zweiter Vorname. Gundermann war zu Lebzeiten ein wandelnder Widerspruch auf zwei Beinen: Baggerfahrer und Liedermacher. Offiziersschüler und Befehlsverweigerer. Spitzel und Bespitzelter. Ein zerrissener Weltverbesserer und unverbesserlicher Idealist. Er wollte verändern und eckte ständig an.

„Immer wieder wächst das Gras/Wild und hoch und grün/bis die Sensen ohne Hass/ihre Kreise ziehn

Immer wieder wächst das Gras/klammert all die Wunden zu/manchmal stark und manchmal blass“/so wie ich und du.“

 

 

2018 adelte Regisseur Andreas Dresen mit seinem Spielfilm Gundermann den Mann aus dem Lausitzer Tagebau. Auf einen Schlag wurde Gundi bundesweit bekannt. In der Hauptrolle Alexander Scheer. Er setzte sich sogar Gundis starke Kassengestell-Brille auf, wird heute noch erzählt, um jede Faser seines realen Vorbildes nachempfinden zu können.  Selbst der Spiegel schwärmte damals: „Gundermann“ ist einer der reichsten, differenziertesten, tollsten Filme über die DDR. Und vielleicht der beste, den Dresen je gemacht hat, weil sich dessen Menschenfreundlichkeit hier am Ende nicht auf dem Parkplatz der Versöhnung abstellen lässt.“ Seit dem großen Erfolg covern Alexander Scheer und Andreas Dresen mit ihrer Band Gundis Songs. Die Konzerte sind regelmäßig ausverkauft.

 

 

Mittlerweile sind Gundermanns Songtexte in Schulbüchern verewigt. So leben seine Geschichten von Menschen aus den „Braunkohle-Badlands“ weiter. Seine sehr poetische wie politische Annäherung an Arbeitslose und Abgehängte, an Enttäuschte und Verzweifelte aus der abgewickelten DDR. Besonders diesen Menschen wollte er mit seinen Liedern Mut machen. Auffallend, wie zeitlos aktuell seine Texte sind.

Happy Birthday zum 70ten, Gundi!

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„Mein Opa war Nazi“

EU-Spitzenkandidat Maximilian Krah der AfD veröffentlichte im Sommer 2023 ein Video, im dem er sinngemäß sagte: „Krieg’ mal raus, was Oma, Opa, Uroma und Uropa alles Tolles gemacht haben, denn die waren keine Verbrecher…“ Fast jeder zweite junge Deutsche zwischen 16 und 25 Jahren hat sich laut einer Umfrage noch nie mit der eigenen Familiengeschichte beschäftigt. Heute kennen wir die „Omas gegen rechts.“ Aber was ist, wenn die eigene Oma rechts war? Und der Opa Nazi? Oder der Uropa. Nicht nur Normalos, auch Prominente entdecken die Geschichte ihrer Vorfahren und Großeltern. Da gibt es dicke Überraschungen.

 

Der Uropa von Robert Habeck: SS-Brigadeführer Walter Gramzow. Drei Jahre im britischen Kriegsgefangenenlager Fallingbostel interniert. Sein Vermögen wurde eingezogen. Die Akte Walter Gramzow umfasst im Bundesarchiv 170 Seiten.

 

Robert Habeck (*1969). Vizekanzler. Sein Uropa Walter Gramzow (1887-1952) war ein verurteilter Kriegsverbrecher. Er gehörte als SS-Brigadeführer, NSDAP-Ministerpräsident in Mecklenburg-Schwerin und Reichstagsabgeordneter quasi zum inneren Führungszirkel des Hitler-Regimes. Urgroßvater Gramzow verwaltete das Gut Severin und richtete dort 1931 die Hochzeit des späteren Propagandaministers Joseph Goebbels mit Magda Quandt aus. Auch Habecks Großvater Kurt Gramzow (1912-1952) war als Obersturmführer der SA nicht nur ein einfacher Mitläufer. Habeck hat sich seiner Familiengeschichte gestellt. Als die Hamas Israel im Oktober 2023 überfiel, sagte der grüne Kanzlerkandidat: „Es war die Generation meiner Großeltern, die jüdisches Leben in Deutschland und Europa vernichten wollte.“

NS-Militärjurist, SS-Mitglied und Oberstabs-Richter Hans Weidel. Großvater von Alice Weidel.

Alice Weidel. (*1979) Kanzlerkandidatin der AfD. Ihr Großvater Hans Weidel (1903-1985) war promovierter Jurist und NS-Funktionär. 1932 Eintritt in die NSDAP, ab Januar 1933 Mitglied der SS. Im Krieg war er ab 1941 einer von dreitausend Heeresrichtern. 1943 wurde er zum Ober-Stabsrichter befördert. Er setzte NS-Recht in Warschau und anderen besetzten Gebieten durch. Nach dem Krieg arbeitete er als Rechtsanwalt in Gütersloh. Seine Enkelin Alice Weidel sagt, die habe „aufgrund familiärer Dissonanzen keinen Kontakt zum Großvater gehabt und nichts von seiner Vergangenheit gewusst“. Alice Weidel bezeichnet Hitler als Kommunisten.

Jens-Christian Wagner. (*1966) Historiker. Er gehört gleichfalls zu den sogenannten Täter-Enkelkindern. Der Direktor der Stiftung Gedenkstätten KZ Buchenwald und KZ-Mittelbau Dora hatte zwei Großväter, die beide Nazis waren. Er offenbarte das Familiengeheimnis bisher ausschließlich in Seminaren und hat „es nicht offensiv vor sich hergetragen.“

Was bleibt, ist eine einfache Sache: „Es ist nicht deine Schuld, wie die Welt ist. Es ist deine Schuld, wenn sie so bleibt.“ Dieser Songtext der Ärzte trifft den Nagel auf den Punkt. Es geht nicht um „Schuldkult“, sondern um die Geschichte der eigenen Familie. Und die sollte man kennen.

 

 

Transparenzhinweis

Mein sehr geschätzter Großvater war im Dritten Reich NSDAP-Mitglied. Ein einfacher Volksgenosse ohne Amt, wie mein Vater (*1928) stets betonte. Erfahren habe ich diese Geschichte erst lange nach seinem Tod in den achtziger Jahren. Seitdem beschäftigt mich die Frage: Was hat ihn bewogen, als Musikdirektor und Bach-Liebhaber in Hitlers Partei einzutreten?