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Sterne am rumänischen Himmel

Gute Geschichten erzählen sich von selbst, heißt es. Klingt verlockend einfach, ist jedoch keineswegs so leicht. Für die heißen Sommertage kann ich eine spannende und vielversprechende Entdeckungsreise empfehlen. Ein Buch wie eine Einladung. Keines, bei dem man ohne Gangschaltung einen hohen Berg hinaufstrampeln muss. Wie heißt es?  “Das Pfauengemälde”. Die Reise führt nach Rumänien. Für viele ein Land irgendwo im Hinterhof Europas, unbekannt, verwegen, fremd. Das Karpatenland hat jedoch mehr zu bieten als die üblichen Netflix-Klischees von Pferdewagen, Bären, billigen Arbeitskräften, Kriminellen, Neureichen und Securitate-Finsterlingen.

 

Maria Bidian: Das Land ihres Vaters ist Rumänien. Aus dem deutschen Exil zurück, zieht er sich in eine einsame Hütte zurück.

 

Das Roman-Debüt von Maria Bidian erzählt eine Vater-Tochter-Exil-Geschichte. Maria Bidian sagt mir: “Rumänien ein sehr herzliches, wildes Land. Wo gerade sehr viel passiert. Wo sehr viel im Aufbruch ist. Wo viele Menschen weggegangen sind. Menschen wieder hingehen. Die Gesellschaft sich gerade sehr verändert. Auf einmal kommen sehr viele Menschen aus Indien, aus Sri Lanka. Ich habe vorher dort nie Zugezogene gesehen oder Ausländer, die dort arbeiten. Also da verändert sich gerade sehr, sehr viel. Es ist sehr spannend und die Menschen sind schon auch hoffnungsvoll. Sie bauen sich ihre Häuser und wollen sich irgendwie ein Leben wieder aufbauen. Und wollen dazugehören zu Europa.”

 

Maria Bidian (*1988 in Mainz) über ihre Romaheldin Ana: „Was sie eigentlich interessiert, ist dieses  Pfauengemälde. Für sie ist das etwas, was sie mit ihrem Vater in Verbindung bringt. Er hat immer davon erzählt, es gehört zu ihrer Kindheit, es gehört zu ihren Momenten mit dem Vater.“

 

Im Mittelpunkt des Romans: Die junge deutsche Filmemacherin Ana. Sie begibt sich auf die Suche nach einem Pfauengemälde, einem verschollenen Erbstück ihres Vaters Nicu. Als sie von seinem einsamen Tod erfährt, entdeckt sie ihren Vater, ihre eigenen rumänischen Wurzeln und eine Vergangenheit, die fortlebt. Nicu war im kommunistischen Rumänien eingesperrt, flüchtete ins deutsche Exil, nahm seine verlorene Heimat mit, blieb Wanderer zwischen den Welten. Ein heimatloser Intellektueller. Ana, die in Deutschland aufgewachsen ist, trifft nun in Transsylvanien ihre weitverzweigte, lebhafte Familie mit Onkel, Tanten und Cousins. Der Beginn eines turbulenten Kampfes um die Nutzung eines Familienhauses. Siebzig Jahre enteignet und verwahrlost, selbst Toilette und Rohre waren herausgerissen worden. Wem gehört das Rumänische Haus? Was soll damit geschehen?

Maria Bidian sagt in unserem Gespräch: “Es ist eine Familiengeschichte, in der es um Familie und Freundschaft geht, aber auch um Verlustüberwindung und Trauerüberwindung. Und natürlich um das Rumänien der letzten Jahre, das heutige Rumänien. Und das wäre mein Wunsch, wenn viele unterschiedliche Menschen diesen Roman lesen und für sich etwas herausholen und danach Rumänien mit anderen Augen sehen.”

 

 

“Nirgendwo ist der Sternenhimmel so schön wie hier”, hatte Anas Vater schwärmerisch seiner Tochter erzählt. Schöner als in Deutschland? Das wird nicht verraten, auch nicht, ob Ana am Ende das Pfauengemälde wieder in den Händen hält. Aber was es noch zu betonen gilt: Maria Bidian ist eine wunderbare, leicht zu lesende und dennoch literarisch anspruchsvolle Erzählung gelungen. Mit viel Gefühl, Genauigkeit und Tiefgang. Für eine Debütantin ein bemerkenswert starker Einstieg.

Maria Bidian. Das Pfauengemälde. Roman. Zsolnay. 2024

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Die Kunst der Verführung

Können wir aus der Geschichte lernen? Oder tappen wir heute wieder in die gleiche Falle? Haben wir keine Schlüsse gezogen aus den Erfahrungen unserer Eltern und Großeltern? Das neues Kino-Dokudrama „Führer und Verführer“ erzählt über die Kraft der Lügen und die Macht der Inszenierung. Dies sei ein Film für heute, heißt es. Es geht um die Geschichte der Verführung eines ganzen Volkes. Ein Meister der Inszenierung aus Deutschland war NS-Propagandaminister Joseph Goebbels. Robert Stadlober spielt diesen schreienden, schmeichelnden, genialisch verführerischen, abgrundtief hassenden Rheinländer mit Hut und Hinkefuß. Goebbels: „Propaganda ist eine Kunst wie die Malerei. Wir schaffen Bilder, die bleiben werden. Wir gehen in die Geschichte ein.“

In einer Mischung aus Spiel- und Dokumentarszenen zeichnet der gut zweistündige Film eine Innenansicht der geschlossenen Welt des Ehepaars Goebbels. Hitler (dargestellt von Fritz Karl) ist ihr Held, Fixstern und Bestimmer. Goebbels über Hitler: „Mein Hexenmeister hat wieder gezaubert“. Ein Trio Infernale, zu allem entschlossen, das so viel Anklang, Aufmerksamkeit und Gefolgschaft findet. Bereit für ihre „höhere Bestimmung“ alles zu tun, was befohlen wird. Der Weg ins Verderben ist kurz. Von „Deutschland erwache“ über Goebbels Sportpalastrede vom „totalen Krieg“ bis zur Götterdämmerung im April 1945. Der NS-Untergang mit Durchhalteparolen und einer nibelungischen „Treue bis in den Tod.“  Am Ende opfert Goebbels sich, seine Ehefrau Magda (Franziska Weisz) und deren sechs Kinder „für Deutschland“, wie es heißt.

 

 

Eine der Thesen des Films: Die Nazis haben äußerst erfolgreich Bilder, Legenden und einen Führer-Mythos geschaffen. Bilder, die bis heute in unseren Köpfen herumspuken. Das Goebbels-Gift wirke bis ins TikTok-Zeitalter nach, meint Regisseur Joachim A. Lang. Sein Film zeigt Hitler, Goebbels und Co nicht als Monster, sondern als „normale“ Menschen, nur so seien ihr Wesen und ihr Charakter besser zu erfassen. Denn das Nazi-System hätten Menschen erschaffen, keine Dämonen, wie es Thomas Mann einmal ausdrückte. Das bedeute im Umkehrschluss: Menschen können das Gewalt-, Willkür- und Propagandasystem auch verhindern. Regisseur Lang möchte den Kern des NS-Systems freilegen. Er will Goebbels „beim Lügen über die Schulter schauen“.

Wie werden wir resistent gegen die Kunst der Verführung? Mit ihren einfachen Parolen und schnellen Lösungen? Mit ständiger Angstmache, Hetze und dem Beschwören des ewigen Sündenbocks. Goebbels ließ Propagandastreifen produzieren wie „Jud Süß“, „Der ewige Jude“ oder „Kolberg“. Das kam an. Die Überlebende Margot Friedländer, mittlerweile biblische 102 Jahre alt, sagt am Ende des Films: „Menschen haben es getan, weil sie andere nicht als Menschen anerkannt haben.“ Und weiter: „Was war, kann so schnell wieder geschehen. Nur, wer die Gefahr der Verführung kennt, kann mit all den Einflüssen aus den Medien bewusst umgehen.“

 

 

So verhallt ihr Appell – „Sei ein Mensch“ – in der Dunkelheit des halbvollen Kinosaals. Draußen flanieren noch einige Berliner Nachtschwärmer. Ein junger Mann streitet am Smartphone lautstark mit seiner Mutter. Jeder kann es hören: „Papa hat mich Arschloch genannt. Und Du blendest das aus. Du bist im falschen Film.“ Irritiert ziehe ich weiter nach Hause, im Kopf die vielen Goebbels-Sprüche. „Führer und Verführer“ ist keine leichte Sommerkost. Aber ein wichtiger Film zur richtigen Zeit, aus dem man klüger herausgeht.

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Der Mutmacher

Zwei ältere Herren plaudern vor einer großen Leinwand in Potsdam. Anlass ist ein kleines, feines Literaturfestival mit dem Thema: „Vorwärts zur Natur.“ Was geht da ab? Nicht zurück zur Natur wie einst bei Jean-Jacques Rousseau, lautet das Versprechen: Nein, vorwärts zu neuen Ideen und Lösungen. In der ersten Reihe des Thalia-Kinos sitzt ARD-Literaturpapst Denis Scheck, der Leiter des Events. Der große Saal ist gut gefüllt. Ex-Berlinale Chef Dieter Kosslick versucht Filmemacher Volker Schlöndorff alles über seine Liebe zu Bäumen, das Geheimnis guter Filme und die Kunst des Geschichtenerzählens zu entlocken. Die meisten im Saal warten auf Schlöndorffs Doku-Film: „Der Waldmacher“. Es ist die Geschichte eines Australier, der eine patente Lösung für die Wiederaufforstung Afrikas gefunden hat. „Jeder Baum ist eine biologische Pumpe“, sagt Oscar-Preisträger Schlöndorff. Jedes Pflänzlein zählt. Davon erzählt sein Film.

 

 

Doch das Gespräch der beiden lebenserfahrenen Alten verlässt rasch den Wald, verliert sich im Tagesgeschehen. Schlöndorff wird gefragt, woher das große Unwohlsein komme, das unsere Gesellschaft befallen hat. Selbstmitleid, Jammern auf hohem Niveau oder berechtigte Sorgen? Schlöndorff zieht seine Stirn kraus. Warum kümmern wir uns nicht um Umwelt, Klima und andere wichtige Dinge der Daseinsvorsorge? Volker Schlöndorff holt aus, erinnert an seine wilden Jahre. An den Aufbruch in den 68ern. An Studentenrevolte, Aufbegehren und damit auch an neue, andere Filme. Mitte der siebziger Jahre dreht er „Die verlorene Ehre der Katharina Bluhm“, nach dem Roman von Heinrich Böll. Die CDU attackiert ihn als Sympathisanten der RAF. Viele Jahre später unterstützt er Angela Merkel als Kanzlerin. Schlöndorffs Motto: nur wer sich ändert, bleibt sich treu.

 

Mit Filmen einmischen. Die verlorene Ehre der Katharina Blum. 1975.

 

Der 85-jährige Filmemacher kommt in Fahrt. Filmemachen ist seine Leidenschaft. Welt-Erklären sein Metier und Bescheidenheit ein Markenzeichen. Viele Klassiker und Welterfolge wie die „Blechtrommel“ sind dem gebürtigen Wiesbadener gelungen. Aber auch Pleiten. Zeitlebens sein Vorbild: Max Frisch, der Schweizer Erfolgsschriftsteller. Ihm widmet er mit „Homo Faber“ und „Rückkehr nach Montauk“ gleich zwei seiner Filme. Im Alterswerk Montauk erzählt er die Geschichte von der ewigen Suche reiferer Herren nach dem jungen Glück. Sein persönlichster Film. Warum? „Das ist so eine Lebenshaltung, dass man sich nie damit abfindet, dass man so ist wie man nun einmal ist. Immer macht man das, was man wollte. Man kann nicht anders.“

Volker Schlöndorff versteht sich als Handwerker des Films. Und als genauer Beobachter. Auf die Frage nach dem Erstarken der AfD wirft er neue Gedanken in den Kinosaal. Viele würden Protest nicht etwa aus Dummheit wählen, sondern aus Lebenserfahrung. Menschen fühlten sich abgekoppelt, nichts funktioniere mehr richtig, von der Bahn über das Ausstellen eines Passes bis zum Pflegeheimplatz. Ja, und nicht wenige seien einfach überfordert. Enttäuscht von der Politik der Ampel, die ständig neue Gesetze und Vorschriften erlassen würde, statt Fragen des Alltags wie Wohnen, Migration oder Umweltschutz zu lösen. Der große alte Mann des Kinos spricht von Arroganz der Macht, von Distanz und Misstrauen. Am liebsten würde man sich wieder im Wald verstecken.

 

Volker Schlöndorff. Filmemachen ist seine Leidenschaft. Bescheidenheit sein Markenzeichen. Darunter viele Klassiker und ein Welterfolg. Aber auch Pleiten. Foto: Wikipedia

 

Das Publikum wird unruhig. Genug geredet. Alle möchten seinen Waldmacher-Film aus dem Jahre 2022 sehen. Zuschauen wie der Baumpionier Tony Rinaudo das geschundene Afrika wieder in einen grünen Kontinent verwandeln will. Sein Konzept: Statt Wiederaufforstung mit teuren Großprojekten, die allesamt scheitern, das beharrliche Verfolgen einer simplen Methode: Probleme müssen buchstäblich an der Wurzel angepackt werden. Schlöndorff zeigt, dass es möglich ist, selbst in der Sahel-Zone Bäume zu pflanzen, wenn man wie Rinaudo die Widerstandskraft der alten Wurzeln nutzt, um Neues zu schaffen.

Bewundernswert, wie Schlöndorff selbst in der Mitte des achten Lebensjahrzehnts jung und hellwach bleibt. Er mischt sich weiter ein, ob in Potsdam oder in Ghana. Sein Motor: die Hoffnung auf eine bessere Welt.

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Warten auf den Zug

Es ist heiß und schwül. Am Horizont türmen sich schwarze Wolken. Warten auf einem Bahnhof in der Provinz. Der Bahnsteig füllt sich. Auf einer Bank telefonieren zwei dralle Girlies in voller Lautstärke und in viel zu kurzen Hotpants. Auf Arabisch. Eine dritte Person quäkt aus dem aufgedrehten Handy. Die Mädels gackern, als wären sie allein auf der Welt. Der Zug kommt nicht. Verspätung. Alle sind genervt. Yalla, yalla schallt es über den Bahnhof. Die meisten Wartenden starren unbeteiligt auf ihre Smartphones. Plötzlich schreit ein Bärtiger vom gegenüberliegenden Bahnsteig: „Ruhe. Verdammt noch mal.“ – Die Ladys kontern sofort: Gut, gut. Das ist zu verstehen, ein Wortschwall folgt auf Arabisch. Sollte man diese Sprache nicht doch lernen? Freundlich klingen die Worte nicht. Eher frech und spitz.

 

Es ist heiß. Ein Gewitter zieht auf.

 

Der Bärtige auf dem Bahnsteig gegenüber springt auf. Auf der Bank hat er seinen Rucksack platziert. Der ältere Mann im Holzfällerhemd macht nicht den Eindruck, als gehöre er zum Bildungsbürgertum. „Verpisst euch. Geht nach Hause! Keiner will euch“, brüllt er aus Leibeskräften. Der Einheimische schwingt die Fäuste. Die Hotpants-Ladys rufen in ihrer Sprache wenig Freundliches zurück. Die Hitze lässt die Gleise flimmern. Der verdammte Zug kommt nicht. Verspätung. Der Holzfällermann kocht vor Wut. Für sein Alter erstaunlich geschickt springt er ins Gleisbett, geht ein paar Schritte, wirft seine Fäuste in die Luft, droht: „Euch kriege ich. Haut ab. Ihr habt bei uns nichts zu suchen.“ Alle auf Gleis Drei halten die Luft an. Niemand sagt etwas. Warum kommt dieser verfluchte Zug nicht?

 

Warten auf den Anschluss…

 

Die Mädels rennen weg, direkt zu mir auf die Bank auf der anderen Seite des Bahnsteigs. Sie schnattern aufgeregt. Der Alte im Gleisbett krabbelt zurück auf Bahnsteig 5, setzt sich auf seine Bank. Der Mann gibt Ruhe. Er starrt auf sein Handy, das er auf seinem Rucksack platziert hat. Durchatmen! Die beiden Teenies sitzen nun direkt neben mir. Nach einer kurzen Pause geht es in voller Lautstärke weiter. Ich sage zu ihnen: „Muss das sein? Ich will Eure Telefoniererei nicht in Techno-Lautstärke hören müssen. Ihr seid nicht allein. Nehmt doch etwas Rücksicht“. Sie schauen mich groß an. Nach einer kurzen Pause plappern sie weiter, etwas gedämpfter. Sie kichern. So ist das an einem heißen Sommertag auf Bahnsteig 3, wenn der Zug nicht kommt und man sich in einem ziemlich schlechten Film fühlt.

Es geht gut aus. Keine Eskalation, keine Prügelei. Die Hitze macht allen zu schaffen. Der alte Bärtige kaut auf Gleis 5 ein Stück Brot, konzentriert sich auf sein Video. Ich stehe auf, verlasse die Mädels, es ist einfach zu nervig. Sie gackern weiter als wäre nichts passiert. Plötzlich ein Wunder. Der Zug fährt mit einer Viertelstunde Verspätung ein, meinen Anschluss Richtung Berlin werde ich wohl verpassen.

 

Schloss Freienstein in Gotha/Thüringen. Sammelpunkt für eine der wertvollsten Kunstsammlungen, die zu Kriegsende zweimal geplündert wurde. 70% Kriegsverlust.

 

Die kleine Bahnhofszene spielte sich genauso auf dem Bahnhof von Gotha ab. Die einstige thüringischen Residenzstadt besuchte ich, weil die Rückkehr einer Original-Rubens-Ölskizze im Schloss Friedenstein zu feiern war Ein millionenschwerer Heimkehrer, knapp achtzig Jahre nach Kriegsende. Das unschätzbar wertvolle Rubens-Bild war 1945 illegal in den Westen gebracht worden und schließlich gewinnbringend in die USA verkauft worden.

Ich hatte den ganzen Tag in Gotha glückliche Menschen getroffen. Thüringen vom Feinsten. Eine Happyend-Geschichte. Nach Kriegsende war die renommierte Gotha-Kunstsammlung zweimal geplündert worden. Erst in der US-Besatzungszeit, dann durch die im Juni 45 einrückende Rote Armee. Kriegsverlust 70% der Kunstwerke. Noch heute sind vierzig Prozent des Gotha-Schatzes weltweit verstreut bzw. verloren. Die Cranach-Sammlung in Moskau, Rubens-Werke in New York und Zürich. Die Liste ist lang, sehr lang.

 

Niederländische Sammlung in Gotha. Nach fast achtig Jahren kehrt die Rubens-Ölskizze „Der Heilige Gregorius von Nazianz“ zurück. Ein Glücksfall für Gotha.

 

Als ich am Abend endlich in der Regionalbahn nach Erfurt sitze, wird mir klar, wie kurz die Zündschnur der Menschen ist. Ein kleiner Funke genügt. In Erfurt erreiche ich am Abend völlig unerwartet einen Anschluss nach Berlin. Ein ICE nach Gesundbrunnen fährt plötzlich ein. Dessen einstündige Verspätung gerät zu meinem Vorteil. Was schert es den Bahngestählten Reisenden noch, dass auf der Weiterfahrt gelangweilte Honks gleich zweimal die Notbremse ziehen und den ICE zum Stillstand zwingen. So wächst die Verspätung weiter gewaltig an, aber ich komme spät wieder in Berlin an. Und da steht eine S-Bahn bereit, die mich nach Hause bringt. Das Glück ist ein flüchtiges Gut.

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Geile Zeit

Wer sich am Rathaus Neukölln aus der U-Bahn schält, taucht in einer anderen Welt auf. Der Orient ruft. Schnurstracks geht es über die wuselige Karl-Marx-Straße zu einem in die Jahre gekommenen Kaufhaus. Dort muss irgendwo ein Fahrstuhl sein. Wo geht´s bitte zum Klunkerkranich, frage ich die bunt geschminkte Kosmetikverkäuferin mit Kopftuch. „Hey Bruder, da war ich noch nie. Aber irgendwo da hinten, zwischen New Yorker und Lidl ist ein Lift. Krass, checke Parkdeck 5.“ Oben angelangt, suche ich nach dem Zugang ins gelobte Land. Am Ende der dunklen Hochgarage, startklar für jeden Tatort-Dreh, steht: Zur Lesung „Geile Zeit“. Da will ich hin. Eine gepiercte Lady fragt gelangweilt: Wo willste hin? – Ich bin verdutzt. Kennen wir uns irgendwo her? – „Ja, seit gerade eben. Stehste auf der Gästeliste?“ – Ja. Die Neukölln-Frau wischt ein, zwei Mal über ihr Handy. „Kann Dich nicht finden. Aber ich hab meinen sozialen Tag.“ Sie händigt mir ein grünes Bändchen aus. Ich gehöre dazu.

 

Klunkerkranich. Treff der Jungen, Schönen, Erlebnishungrigen. Über den Dächern der Stadt, der Alltag bleibt unten. Foto: Klunkerkranich.

 

Der Klunkerkranich ist in Neukölln ganz oben. Auf dem Sonnendeck eines angegrauten Konsumtempels. Blick auf Tutti Berlin. Fernsehturm, Häusermeer und dramatische Wolkenformationen. Der Alltag bleibt unten. Dazu Aprilwetter im Juni. Sonne, Regen, Blitz, Donner und – ah,oh – ein Regenbogen. Ein renommierter Verlag feiert eine Vorab-Premiere. Geile Zeit von Niclas Seydack, Jahrgang 1990. Millennial. Mir wird rasch klar, dass ich den Altersdurchschnitt heftig nach oben treibe. Ein paar liebe Kollegen aus der mittleren Generation puffern mein Alter-Weißer-Mann-was-willst-du-hier-Dasein.

 

Buchpremiere. Geile Zeit mit Flamingo im Klunkerkranich über den Dächern Berlins.

 

Es geht los. Der coole Moderator kündigt ein wichtiges Werk an. Es gehe um die Selbstverpanzerung einer ganzen Generation in Zeiten einer bösen Welt draußen. Von Fluchten aus der Wirklichkeit in die Welt der Flamingos und Streaming-Helden ist die Rede. Die Millennials seien die letzte Generation, die noch ohne Smartphone aufgewachsen seien, aber die erste, denen es schlechter gehen werde als ihren Eltern. Okay, Boomer. Ihr seid schuld! Also ich. Die Babyboomer sind während der Buchpremiere der große Elefant im Raum. Sie gelten als abgehoben, besserwisserisch, selbstgerecht. Ohne Verständnis für die Sorgen der heute Dreißigjährigen. Ihr ständiger Zeigefinger an die Jungen, sie hätten Luxussorgen gepaart mit dem Vorwurf verwöhnte, wehleidige Wohlstandskinder zu sein.

Dann legt Niclas, der Star des Abends los. Aufgewachsen in einem Reihenhaus in Bad Schwartau – ja die Marmeladestadt – pendelt und schreibt er zwischen Berlin und München. Zeit, Spiegel, Elf Freunde, er spielt in der ersten Liga der Medien. Selbstironisch, witzig, abgeklärt. „Kindheit in den 90ern. Mit Lego, Nutellabroten und Samstagabend mit der Familie Wetten, dass…? Eine Idylle. Bis zum 11. September 2001. Dann Schweigeminuten in der Schule und die erste Liebe auf ICQ.“ Niclas beschreibt ein Leben mit verkürztem Studium, unbezahlten Praktika und Berufsstart im Lockdown. Überhaupt: Leben in Unsicherheit. Dauerkrisen: Finanz-, Terror-, Klima-, Migration-, Inflation-Albträume + Pandemie. Dazu eine neue starke Rechte. Schließlich Kriege. Es gilt: Je düsterer die Zukunft, desto knalliger die Klamotten, umso trashiger die Serien und häufiger die Therapien. Willkommen im Leben der Millennials.

 

 

Früher habe das Fernsehen den Horror nach Hause gebracht: Vietnamkrieg, Tschernobyl, 11. September. Heute trage TikTok den täglichen Horror frei in jede Kinderstube. Niclas schreibt über seine Jugendzeit mit Stefan Raab, Lena Meyer-Landrut und Eimersaufen. Wichtig sei: Eklig, ironisch und stets distanziert bleiben. Abstand halten. Häufig fällt das Wort Angst-Biografien, ein Merkmal der Millennials. Eine Mischung aus Sensibilität und Verletzlichkeit. Typisch sei der Peter-Pan-Effekt: Man weigere sich, erwachsen zu werden. Das junge Publikum im Klunkerkranich gurrt und lacht befreit auf. Genauso ist es wohl!

 

IUMA. Neuer Stern am Pop-Himmel. Ihr Motto: „Verletzlichkeit und Unsicherheit zu akzeptieren, gar zu feiern.“

 

Komisch. Geile Zeit-Autor Niclas Seydack lobt an diesem Abend mehrfach seinen Vater. Er sei verständnisvoll, nicht belehrend, kurz: ein echtes Vorbild. Das berührt mich ungemein. Mein zweiter Sohn ist gerade 31 geworden. Exakt ein Millennial wie er im Buche steht. Ich will ihm unbedingt Geile Zeit zum Geburtstag mitbringen. Aber nach der Lesung sind sofort alle Exemplare weg. Ich war zu langsam. Tja, Boomer. Schneller sein, sonst ist alles zu spät.

Niclas Seydack. Geile Zeit. Ab Mitte Juli 2024 bei Tropen.

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Frau am Bass

Der Bass ist nur die Verwaltung seiner selbst. Brumm, brumm. Nichts Neues. Nur Stillstand. Irrtum! Die meisten Bassisten sind männlich, eher zurückgezogen und häufig im Hintergrund. Nein! Als Solo-Instrument im modernen Groove übernimmt der Bass nur eine dienende, selten aktive Rolle. Die tiefen Töne sind für Struktur, Begleitung und Tiefe zuständig. Noch ein Irrtum! Darf ich vorstellen: Kinga Glyk. Virtuos hat die junge Bassistin ihren eigenen Stil entwickelt. Sie zeigt eine eigene Handschrift, die überrascht und überzeugt. Kinga gelang mit 19 Jahren der Durchbrch zu ihrer internationale Karriere. 2017 konnte ich die junge Polin zum ersten Mal im heute journal einem breiten Publikum vorstellen. Kinga gilt als eines der Super-Talente im europäischen Jazz. Sie habe eine große Zukunft vor sich, schrieb ich damals. Mittlerweile spielt die 27-jährige auf den großen Bühnen der Welt.

 

 

Kinga ist ein polnischer Vorname und bedeutet auf Deutsch Kunigunde. Glyk kommt aus dem Griechischen und steht für „süß schmeckend und Zucker“. Kinga Glyk stammt aus einer polnischen Musikerfamilie in Kattowitz. Ihr Vater Irek ist Schlagzeuger, ihr Bruder ebenfalls Musiker und verantwortlich für den Sound. Mutter Glyk organisiert Band und Wohlbefinden. Ein Familienbetrieb. Mit zwölf begann Kinga den Bass zu entdecken. Sie spielte hunderte Konzerte kreuz und quer durch Polen. Im März 2015 erschien ihr erstes Album „Registration“. Im Sommer 2016 legte sie mit ihrer Band „Happy Birthday“ vor. Eine starke Einspielung. Voller Spielfreude, cool und mit großartigen Soli. Sie eifert den Großen wie Jaco Pastorius, Stanley Clarke oder Victor Wooten nach. Ihre Cover-Version von Claptons „Tears in Heaven“ wird ein millionenfach geklickter YouTube-Hit. Längst jammt Kinga mit Jazz-Größen wie Marcus Miller oder Michael League von Snarky Puppy.

 

 

Kinga Glyk: „Jazz ist nicht nur für alte Menschen. Sicher ist die Mehrheit meiner Zuhörer in den Konzerten älter als ich, aber ich glaube das ändert sich. Ich möchte auch jüngeren Leuten die Inspiration dieser Musik näherbringen.“ Kinga Glyk zeigt: Jazz hat eine Zukunft. Und die viel belächelten Bassmenschen, meist mit Hornhaut an den Händen können ihr Publikum verzaubern. Sie sind keine exzentrischen Alleinunterhalter. So auch das bekannteste Bass-Trio SMV. Stanly Clarke, Marcus Miller und Victor Wooten. Ihre wenigen Live-Auftritte haben Kult-Status. Thunder war ein gemeinsames Projekt mit drei durchgeknallten Bassisten auf einem Album. Das Besondere: Die Drei von der Bassstelle spielen aus Freude zusammen. Miteinander. Ohne Konkurrenz oder selbstverliebte Ego-Trips. Wahre Musik, die improvisiert und wieder zusammenfindet.

 

 

Kinga tritt gerne mit Hut, Charme und einer wunderbaren Gewissheit auf: Ihr Bass sorgt für Rhythmus, für richtige Tiefe und das gewisse Etwas. Kinga Glyk – längst ein Stern am Jazz-Himmel. Das bescheidene Mädchen mit dem tiefen Bass und dem großen Talent.

 

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Mein erstes Mal

Frühe Morgenrunde durch den hochherrschaftlichen Schlosspark Neuhardenberg. Graue Wolken hängen tief über dem urpreußischen Anwesen nahe der deutsch-polnischen Grenze. Das Schlossensemble sieht aus, als wäre ein riesiges weißes Ufo mitten im märkischen Oderbruch gelandet. Ein Reiher lauert am Teich auf Beute. Ein paar Krähen krakeelen. Ansonsten: Stille, Friedfertigkeit, Harmonie. Einfach nur Durchatmen. Es sind meine ersten Stunden als frischgebackener Rentner. Ich bin einer von den vielen Babyboomern, die gerade den Ablauf ihrer Betriebszeit erleben. Plötzlich kreuzt ein kräftiger Landmann mit Muskelshirt und schwarzem Labrador-Schäferhund-Mischling meine Wege. Wir grüßen uns freundlich.

 

Neuhardenberg. Die Schinkelkirche. Ort für Konzerte, Lesungen, Kultur. Knapp zwei Autostunden östlich von Berlin.

 

Wir kommen ins Gespräch. Er drehe hier im Park regelmäßig seine Runden, zwischen Schloss, Eichen und Rotbuchen. Neuhardenberg habe sich prächtig entwickelt. Das gehöre hier alles der Sparkasse. „Gebaut mit unserem Geld.“ Wir lachen. Als er sein Haus finanzieren wollte, betont er, habe ihm die Sparkasse „das letzte Hemd ausziehen wollen“. Da habe er die Bank gewechselt. Diese Möglichkeit sei eine der wenigen Vorteile des „Westens“. Wir nähern uns im weitläufigen Park dem einstigen Hardenberg-Sitz mit mehreren Schlossflügeln und einer Schinkelkirche. Es werde heute nicht regnen, meint der Hundebesitzer fachmännisch, Petrus mache stets einen großen Bogen um Neuhardenberg. Warum? – Ganz einfach. Auf dem ehemaligen DDR-Regierungsflughafen befinde sich Europas größte Photovoltaikanlage. Die Abstrahlung, die Wärme! Der Mensch ruiniere die Natur.

 

Kit Armstrong. In Kalifornien geboren. Sohn einer Investmentbankerin aus Taiwan und eines Amerikaners. Seinen Vater hat er nie kennen gelernt. Mit fünf Jahren begann er mit dem Klavierspiel. Heute tritt Armstrong in den ersten Konzertsälen der Welt auf. Foto: Jean-Francois Mousseau

 

Was ich denn in Neuhardenberg mache, will er wissen. Ein schönes kurzes Wochenende verbringen, mit Freunden, Kultur und Musik, antworte ich. Ach so! Wer denn da sei, fragt er. Kit Armstrong, aber nicht der What-a-wonderful-World-Trompeter Louis Armstrong. Er schaut mich mit großen Augen an. Mein Armstrong sei ein junger, begnadeter Pianist, der in der Gutskirche auch Orgel gespielt habe. Die Journalistin Inge Kloepfer habe über das US-Wunderkind an den Tasten ein Buch geschrieben. „War´s gut?“ – Großartig. „Lustig. Sie kommen aus Berlin nach Neuhardenberg. Wir waren gestern in Berlin, in der Waldbühne. Sechs Stunden lang, bis der Rücken weh tat.“ Was gab´s? – „Na, Schlagerparade. War klasse.“ Wir verabschieden uns, gehen auf getrennten Wegen in den neuen Tag hinein.

 

 

Kit Armstrong hat fasziniert. Der 1992 in Los Angeles geborene Pianist glänzt an Klavier und Orgel mit Werken von Mozart, Bach, Liszt, William Byrd und einer Orgelsinfonie von Charles-Marie Widor, dem Lehrer von Albert Schweitzer. Im Gespräch mit Inge Kloepfer schwärmt der studierte Mathematiker von Bachs Kompositions-Fähigkeiten. In seinem C-Dur-Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier lasse Bach fünf Finger wie fünf lustige Gesellen auf den Tasten tanzen. Dazu der Kontrapunkt. „Genial“. Genau so interpretiert das „Jahrhunderttalent“ in der Kirche von Neuhardenberg Bachs fröhlichen Tanz aus fünf Tönen. Nach dem Konzert fragt er bei Spargel und Wein: „Was meint Ihr? Hat Bach Tomaten gekannt?“

 

 

Was für ein wunderschöner Einstieg in eine neue Zeit. Ruhestand genannt.

Inge Kloepfer. Kit Armstrong. Metamorphosen eines Wunderkinds. Piper. 2024.

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Lesen macht reich

S-Bahnhof Savignyplatz. Die junge Frau sitzt am Ende der langen Treppe vor dem Ausgang. Meist im Schneidersitz. In der Regel ist sie nachmittags anzutreffen. Große Brille, Hoodie, die Nase stets in ein Buch vertieft. Sie hat sich eingerichtet. Eine Decke auf dem Boden. Zwei, drei Kissen im Rücken, ein paar Kuscheltiere. Im Beutel ein Stück Fladenbrot. Die Frau hat hier ihren Stammplatz. Sie liest in aller Ruhe, als wäre es das Normalste der Welt. Passanten eilen hektisch vorbei, an der Leserin mit ihrer kleinen Spendenschale. Die junge Frau spricht keine Menschen an, schnorrt nicht, verkauft keinen „Straßenfeger“, wirft niemanden einen flehenden Blick zu. Kein „Haste mal nen Euro oder was zu essen für mich!“ Kaum jemand nimmt Notiz. Viele starren auf ihr Handy. Typisch Berlin. Die junge Frau liest.

 

Lesen kann Türen öffnen.

 

Ich kenne sie seit einiger Zeit. Ich versorge sie mit Büchern. Auch mein eigenes habe ich ihr schon in die Hand gedrückt. Ab und zu etwas stecke ich etwas in die Spendenbüchse. Manchmal reden wir über das, was sie liest. Meistens ist ein Mix aus großer Weltliteratur oder einfachen Herz-Schmerz-Geschichten. Sie liest beinahe alles, was sie in die Finger bekommt. Vor kurzem kauerte sie über einem Öko-Thriller. Und? – „Ich lese das Buch zum vierten Mal.“ Warum? Ist das Buch so gut? – „Nein.“ So kompliziert? – „Nein.“ Sie schüttelt den Kopf. „Ich habe nichts anderes. Deshalb das vierte Mal.“ Wir lachen beide.

 

 

Bei meinem nächsten Heimweg bringe ich zwei Bücher mit. Das trifft sich gut, weil ich in diesen Tagen sowieso meinen großen ZDF-Bestand auflösen muss, was mir extrem schwerfällt. An vielen Büchern hänge ich. Zu viele Erinnerungen. Ich entscheide mich für die Pulitzer-Preisträgerin Elizabeth Strout. Am Meer. Den „zartesten Lockdown-Roman“, verspricht eine Rezension. Die US-Bestsellerautorin erzählt von einer Frau, die mit ihrem Ex-Mann während der Pandemie aus New York in die einsame Zweisamkeit eines alten Landhauses flieht. Man ahnt es. Die Idylle wird zur Hölle.

Das zweite, ein älteres Buch ist von einer hochtalentierten Autorin aus dem Kaukasus. Olga Grjasnova. Der Russe ist einer, der Birken liebt. Der Titel ist genial. Er macht neugierig. Die Geschichte: Mascha ist jung und eigenwillig. Aserbaidschanerin, Jüdin oder auch Türkin und Französin. Als Immigrantin macht sie in Deutschland rasch die Erfahrung der Sprachlosigkeit. Mittlerweile „spricht sie fünf Sprachen fließend und ein paar weitere so „wie die Ballermann-Touristen Deutsch“, heißt es im Verlagstext.

 

Savignyplatz. Eine angesagte, schicke Ecke in Berlin. Genau hier im großstädtischen Trubel kampieren viele Obdachlose unter den S-Bahn-Brücken. Die Umgebung der Leserin vom Savignyplatz.

 

Die junge Leserin freut sich über die Bücher, die sie nicht kennt. Endlich traue ich mich, die Frau vom Savignyplatz nach ihrem Namen zu fragen. „Ich heiße Angela. Wie Eure Kanzlerin. Aber ich werde Antschela ausgesprochen. Bitte: Mit Tsch, tsch. Antschela aus Kasachstan.“ Sie lächelt. Ihre Augen strahlen hinter ihrer dicken Brille aus einem hübschen, aber erschöpften Gesicht. In der Hand hält sie ein dickes, abgegriffenes Buch:  Jeder stirbt für sich allein. Hans Fallada, sage ich zustimmend. Und? – „Ich komme nicht klar damit. Das fällt mir schwer. Aber ich versuchs mal.“ Ich ermuntere sie dranzubleiben. Fallada könne wie kein anderer über die Sorgen der kleinen Leute schreiben. Antschela schaut mich eher skeptisch an. „Gut, ich will nicht aufgeben.“

Wir verabschieden uns. Mir wird klar: Bücher sollen auf keinen Fall im Regal verschimmeln. Bücher müssen wandern. Von Hand zu Hand. Lesen macht klug. Lässt neue Welten entdecken. Schenkt innere Freiheit und geistigen Reichtum.

Bis zum nächsten Mal, Angela. Pass auf dich auf.

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Amsel im Hof

Morgens weckt mich eine Amsel. Im Halbdunkel des Hinterhofes startet sie ihr Morgenlied. Früh, sehr früh. Fröhlich, munter, unbekümmert. Ihr Zwitschern hat etwas Vertrautes und Versöhnliches. Rasch setzen die Spatzen ein. Das Frühkonzert beginnt, gewinnt wie in Mozarts Zauberflöte an Fahrt, Tempo und Intensität. Die Vogelschar versammelt sich an den Futterstellen, die unser Hausmeister täglich neu füllt. Wie wir Mitbewohner die Mülltonnen, die direkt danebenstehen. Guten Morgen. Es wird hell. Licht fällt ins Schlafzimmer. Ein neuer Tag beginnt. Mach was draus.

 

 

Am 11. Juni 1968 spielt ein gewisser Paul McCartney 32 Versionen seiner Amselhymne ein. Er sitzt allein im Studio, nur mit seiner Gitarre. Die letzte Version wird es dann. Der Tonmeister mischt noch den Sound zwitschernder Amseln unter den Song. Fertig für das neue „White Album“. Inspiriert hat den Beatle Paul eine klassische Komposition aus dem Barock. „Wir hatten so ein kleines Stück für Partys eingeübt, damit wir den Leuten zeigen konnten, dass wir nicht so doof waren, wie wir aussahen. Es ist von Bach.“ Bei dem kleinen Stück handelt sich um die Bourrée aus Johann Sebastian Bachs Lautensuite in e-Moll. So vereinen sich das Lied der Amseln, Bach und die Beatles zu „Blackbird“. Eine der schönsten und berührendsten Balladen der Beatles überhaupt. Vielfach interpretiert, zuletzt gerade von Beyoncé.

 

 

Blackbird, das Lied der Amsel ist ein Befreiungslied. Gewidmet schwarzen Frauen. Der Text stammt von John Lennon und Paul McCartney. Veröffentlicht am 22. November 1968, als in den USA Diskriminierung und Rassentrennung dominieren. Ein Epochenjahr, in dem der Vietnam-Krieg tobt und die Russen in Prag einmarschieren. In der ganzen westlichen Welt begehren junge Menschen auf. Überall, wo möglich, kommt es zu Protesten und Revolten. Die Regierungen versuchen die Rebellion der Jugend mit allen Mitteln zu stoppen.

Im abgelegenen Schottland beobachtet Paul McCartney die Eskalation in den Vereinigten Staaten – und erfindet den Song „Blackbird“. Die Amsel steht bei ihm für afroamerikanische Frauen, die Unterdrückung und weiße Vorherrschaft abschütteln wollen. Der poetisch-berührende Song Blackbird ist einer der politischsten Lieder der Beatles. Die stille Hymne gegen Bevormundung wird bis heute auf vielen Bühnen von unzähligen Bands adaptiert. Das kleine Lied erzählt von der Kraft der Musik, Ausgrenzung, Hass und Hetze zu überwinden. Danke, liebe Amsel im Hof, die du mich jeden Morgen fröhlich weckst.

 

 

„Amsel, die du da tief in der der Nacht singst,
nimm diese gebrochenen Flügel und lerne zu fliegen.
Dein ganzes Leben,
Hast du nur auf diesen Moment gewartet, aufzufliegen.

Amsel, die du da tief in der der Nacht singst,
nimm diese eingesunkenen Augen und lerne zu sehen.
Dein ganzes Leben,
Hast du nur auf diesen Moment gewartet, frei zu sein.

Amsel flieg,
Amsel flieg,
In das Licht der dunklen schwarzen Nacht.

Du hast nur auf diesen Moment gewartet, aufzufliegen.
Amsel flieg,
Amsel flieg,
In das Licht der dunklen schwarzen Nacht,
Amsel, die du da tief in der der Nacht singst.

Amsel, die du da tief in der der Nacht singst,
nimm diese gebrochenen Flügel und lerne zu fliegen.
Dein ganzes Leben,
Hast du nur auf diesen Moment gewartet, dich zu erheben.“

 

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Willkommen in Thüringen

Thüringen. Land der Chancen. Land der Extreme. Hier kann man mit 5%-Stimmenanteil für drei Tage Ministerpräsident werden. Danach musste FDP-Mann Kemmerich zwar zurücktreten, kann aber im September bei der nächsten Wahl wieder als Spitzenkandidat antreten. „Einmalig in Deutschland“, findet das Stern-Autor Martin Debes in seinem Buch: „Deutschland der Extreme“. Thüringen ist für ihn ein Land zwischen Weimar und Buchenwald. Ein Land, in dem vor genau hundert Jahren die erste bürgerliche Regierung durch eine völkische Partei toleriert wurde. Mit 2.1 Millionen Einwohnern ist Thüringen im Herzen Deutschlands eher unbedeutend, aber ein kleines Land mit großer Geschichte.

 

Ein Paar in Berka. Foto: Ludwig Schirmer. Vater von Ute Mahler, ein Müller. Er dokumentierte das Alltagsleben in seinem Dorf ab 1950.

 

Alles vereint sich im wunderschönen, bergigen Thüringer Wald. Weimarer Republik. Hitlers Muster-Gau. Erster Sturm auf eine Stasi-Zentrale, der erste linke Ministerpräsident der Bundesrepublik. Bodo Ramelow, seit zehn Jahren Chef der einzigen Minderheitsregierung Deutschlands, betont unverdrossen: Thüringen sei das Land der Chancen. 92 Weltmarktführer, darunter der größte Pizzaofen der Welt. Thüringen sei ein Land mit Geschichte. Hier wurde Martin Luther zum Mönch, übersetzte die Bibel. Johann Sebastian Bach komponierte seine ersten Fugen. Goethe und Schiller dichteten sich in den Literatenhimmel. Jena eroberte als rebellischer Ort Freiheit und deutsche Frühromantik. Deutschland vom Feinsten. Hier agiert nun mit Björn Höcke ein hessischer Geschichtslehrer, der erster AfD-Premier werden will.

 

Berka. 1977/78. Foto: Werner Mahler

 

Wer Thüringen besser verstehen will, sei eine beeindruckende Arbeit des Fotografen-Paars Ute und Werner Mahler empfohlen. Sie beobachteten gemeinsam mit Ute Mahlers Vater Ludwig Schirmer über sieben Jahrzehnte ihr Heimatdorf, das kleine thüringische Berka. „Ein Dorf 1950-2022“, heißen Buch und Ausstellung. Eine Entdeckung, die sich lohnt. Einblicke auf Schwarz-Weiß, die erklären, wie sich das Land verändert hat. Bilder zum Staunen, Lachen und Wundern. Nicht umsonst wurde der Kulturpreis der Deutschen Gesellschaft für Photographie an die Mitbegründer der legendären Berliner Ostkreuz-Schule Ute und Werner Mahler vergeben: „Für die Vermittlung von ostdeutschen und heute gesamtdeutschen Perspektiven, stilprägenden, einzeln und gemeinsam realisierten fotografischen Arbeiten“.

 

„Himmel und Hölle“. Ein Mädchen hopst die Straßen in Berka entlang und stopert. 1978. Foto: Ute und Werner Mahler.

 

In klaren, überraschenden Momentaufnahmen beschreiben sie aus nächster Nähe Wende und Wandel, dokumentieren Rückzug und Resignation. Werner Mahler in einem ZEIT-Interview: „Plötzlich hatten alle diese geschlossenen Tore vor den Häusern. Alles passierte dahinter, in den Familien.“ Ute Mahler: „Ja, es ist diese große Scham, es nicht geschafft zu haben. Und diese Scham sollte auf keinen Fall bemerkt werden. Nach außen versucht man, den Schein zu wahren. Man hörte ja nur von den Wende-Gewinnern. Die waren laut und ließen es jeden mitbekommen. Die anderen zogen sich zurück.“ Die Mahlers halten fest, wie sich Thüringen allmählich in AfD-Land verwandelt. Werner Mahler: „Und dann kommt heute ein Höcke und sagt, ihr habt verloren, weil die etwas falsch gemacht haben, und da er das auch ziemlich gut verpackt, sind einige der Meinung, okay, das ist mein Mann. Der spricht mir aus der Seele.“

 

Das Fotografen-Paar Ute und Werner Mahler. 2023. Foto: Tobias Kruse

 

Die Ausstellung „Ein Dorf“ in der Kunsthalle Erfurt zeigt eindrucksvoll, wie eine geschlossene Welt die Stürme der neuen Zeit erlebt. Mit der Freiheit zur absoluten Entfaltung und der ungebremsten Freiheit zum Scheitern. Die Berkaer selbst sind stolz auf Ausstellung und Bilder aus ihrem Dorf. Ute Mahler erklärt, warum: „Sie fühlen sich wahrgenommen, auch mit Respekt. Sie fühlen, dass sie jetzt Teil eines großen Projekts sind“.

Ausstellung Kunsthalle Erfurt. Bis 26. Mai 2024. „Ute Mahler, Werner Mahler & Ludwig Schirmer. An seltsamen Tagen über Flüsse in die Städte und Dörfer bis ans Ende der Welt“.