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Urlaub von Corona

Wer hier zu Fuß unterwegs ist, macht sich schnell verdächtig. Ein Fremder? Bestimmt! Vermutlich ein Stadtmensch, sicher ein Berliner. Wanderer sind selten. Spaziergänger absolute Exoten. Der misstrauische Blick fragt: woher des Weges? Was wollen Sie hier? So ist das in der Prignitz. Auf halbem Wege zwischen Berlin und Hamburg. Das leere, flache Land mit endlosen Feldern, einsamen Wäldern mit einem weiten Himmel bis ans Ende der Welt. Was es sonst noch gibt? Landschaft, einfach nur Landschaft, nichts weiter. Willkommen in der Mark! In Corona-Zeiten ist es eine ganze Umdrehung noch stiller als üblich. Ein heftiger Platzregen kann das Aufregendste sein. Plipp, plop plattert es spritzig aus schweren Wolken! Lustige Kringel bilden sich in den Pfützen. Einsam zieht der nasse Wanderer seine Runden.

„Wollense rin?“, ruft der Mann aus dem Lieferwagen und bremst direkt vor uns. Wir stehen etwas unschlüssig vor einer märkischen Dorfkirche allerdings von stattlicher Größe mit einem auffallend schönen schlanken Turm. Friede sei mit Euch, heißt es über dem Portal. Der Mann aus dem Lieferwagen zückt den Schlüsselbund und öffnet die Dorfkirche von Teetz. Nun ist sein persönlicher Rede-Schalter umgelegt. Der Mann in Arbeitshosen vom lokalen Förderverein legt los. Wir erfahren alle Einzelheiten aus der Geschichte seines Ortes. In der Kirche sei alles selbstgemacht. Gegen die Amtskirche habe man sogar klagen müssen, weil sie die „uns die Rechte für unsere Kirche wegnehmen wollten“.

 

„Friede sei mit euch.“ Die Kirche von Teetz bei Kyritz an der Knatter. Viel zu groß. Halb saniert. Meistens leer. Aber mit großen Plänen für die Zukunft.

 

Der Prozess ging für die Teetzer gut aus. So bestaunen wir in einer halbsanierten Dorfkirche Bilder vom Abendmahl und Aposteln, während die Farbe an Wänden abblättert. Doch die Orgel ist komplett saniert, „geschenkt von der Berliner Nikolaikirche“. Die schicken Kronleuchter sind in Stettin aufpoliert worden, „auch umsonst, von den Polen, hat aber ein dreiviertel Jahr gedauert“. Studenten aus Aachen haben ein Sanierungskonzept erarbeitet, die Professorin hatte sich in die Kirche verguckt. „Ja, eine Hand wäscht die andere“. Nur es fehlt an Geld und genau genommen an Gemeindemitgliedern. Die Kirche mit ihren vielleicht 150 Sitzplätzen ist viel zu groß. Wenn zehn Besucher zum Gottesdienst kommen, betet der Pastor ein Extra-Vater unser. Aber da er sechzehn Gemeinden zu betreuen habe, berichtet der Teetzer, sehe er Kirche und Gemeinde sowieso nur wenige Male im Jahr.

 

 

Rund die Hälfte der Teetzer sind zugereiste Berliner, so der Anfang Sechzigjährige. Beliebt sei das Dorf besonders bei „Pensionären“, die dem Großstadttrubel entwachsen sind. Aber „ein paar Verrückte“ pendeln täglich. Teetz sei internationaler geworden. Es leben hier Kroaten und Engländer. Der kräftige Teetzer schließt die Kirche wieder ab, er muss zum Rasenmähen bei einer alten Dame. „Macht ja sonst keener“. Wir gehen durchs leere Dorf. Das Antiquariat eines Berliner Paares mit Kaffee, Kuchen und Kulturprogramm hat nach ein paar Jahren wieder aufgegeben. Genau wie der Ferienhof gegenüber. Die Besitzer hatten die Nase voll. Dieses Paar habe auch verkauft, erzählt uns noch der Kirchenmann, zehn Jahre Tourismus mit verwöhnten Feriengästen – na,ja – das reicht wohl. Sobald das Wetter schlecht sei, waren die Gäste wieder weg oder sind gar nicht gekommen.

 

Gasthaus zur Linde in Wutike (Prignitz) mit 365 Ruhetagen.

 

Wer zu Fuß von Dorf zu Dorf geht, fällt in der Prignitz auf. Egal ob in Teetz, Bork oder Wutike. Rennradler mit teurer Sonnenbrille, viel zu engem Dress und verbissenem Blick sind auf dem Land wohl vertraut. Sobald Wanderer kommen, bellt der Hund und setzt der Märker seinen skeptischen Is-wohl-ein-Berliner-Blick? auf. Aber sollten sie auftauen, können sie viel erzählen, von der Schönheit und Langeweile des Landlebens. Ob mit oder ohne Corona. Da kannste eh nichts machen…

 

Nicht an allem ist Corona schuld. Die „Club-Lounge“ von Wutike ist wohl schon länger dicht.

Der Stellvertreter

Überhaupt das Jackett. Es lag wie immer lose über den Schultern. Wenn er loslegte, redete und gestikulierte, griffen irgendwann die Gesetze der Physik. Es rutschte weg. Nun stand er hemdsärmelig vor dem Publikum. Aber stets betont bürgerlich mit Schlips und Kragen. So provozierte er am liebsten brave Bürgerseelen. Wenn er außer Rand und Band geriet, polterte er zornesrot vom Pult los und schlug beim Abgang alle Türen zu. Rumms! Gestatten, Rolf Hochhuth. Fabrikantensohn aus dem hessischen Eschwege und  Wutbürger auf Lebenszeit – auf seine ganz spezielle Art. Bis zum Schluss. Nun trat er im Alter von 89 Jahren ab. Das Herz. Dabei wollte er seinen Neunzigsten unbedingt noch feiern.

 

Rolf Hochhuth (1931-2020). Mahner, Moralist. Dramatiker.  Quelle: Wikipedia.

 

Der Vorhang fällt. Der Dramatiker schweigt. Für immer. – Rumms. Ein Frösteln: Erst vor wenigen Wochen hatten wir lebhaft telefoniert. Über die Goebbels-Tagebücher, das Kriegsende vor 75 Jahren, den Fanatismus und Vernichtungswillen der Nazis. Er hatte ein brillantes Vorwort zu den Tagebüchern verfasst. Das deutsche NS-Drama hat Hochhuth ein Leben lang beschäftigt. Der gelernte Buchhändler schrieb geradezu manisch gegen das bundesdeutsche Verdrängen und Vergessen an. 1963 der Durchbruch. Der Knaller war der „Stellvertreter“, sein Theaterstück über das beredte Schweigen des Papstes zum Holocaust. So entfachte er einen wahrhaften Theater-Skandal und landete einen Welterfolg.

 

 

Hochhuth brachte  1978 Hans Filbinger zu Fall, den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg. Der ehemalige Nazi-Marinerichter wollte seine Vergangenheit nicht wahrhaben, konterte mit dem legendären Satz, der in die Geschichtsbücher einging: „Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein.“ Filbinger hatte einen 22-jährigen Matrosen wegen geplanter Fahnenflucht zum Tode verurteilt. Er selbst leitete die Erschießung wenige Monate vor dem Ende des Dritten Reiches.

„Wenn ich nicht streiten kann, fehlt mir die Luft zum Atmen. Dann ersticke ich.“ Das raunte er mir einmal während einer langen Buchmessen-Nacht zu, als er sicheren Geleitschutz zu seinem Hotel benötigte. Für mich war der berühmte Dichter wie ein einsamer Wolf, immer auf Jagd. Gegen die Großen, die Mächtigen, die Selbstgerechten. Er legte sich in seinen Stücken mit selbsternannten McKinsey-Göttern, Treuhand-Abwicklern oder linken Kulturpäpsten an. Manches Mal verrannte er sich. Er fühlte eine Seelenverwandtschaft mit dem britischen Historiker  David Irving, der später den Holocaust leugnete. Er bekämpfte die Führung des Berliner Ensembles. Dessen damaliger Chef Claus Peymann sagte über Hochhuth trocken: „Ein echter deutscher Dichter – humorlos bis in die Knochen, kampflustig, streitsüchtig“.

 

Als Theater noch Proteste auslöste. Demonstration in den Sechzigern gegen die Aufführung von Hochhuths „Stellvertreter“ in der Schweiz. Foto: srf

 

In den letzten Jahren rannte Hochhuth  Don Quichote-gleich gegen das Vergessenwerden und seine eigene Vergesslichkeit ins Feld. „Bin ich überhaupt gewesen“, seine bange Frage. Als furchtloser Dramatiker wollte er in die Geschichtsbücher eingehen. Wie der junge Schiller. Er sah sich als Stellvertreter des anständigen Deutschlands. „Autoren müssen das schlechte Gewissen der Nation artikulieren, weil die Politiker ein gutes haben.“

In unserem letzten Telefonat drängte er auf einen „baldigen Bericht bei Ihnen im Fernsehen“. Es ging um seine neuesten Pläne. Er wollte in der „Ruine“ des Berliner  ICC-Kongresszentrums ein „Museum für neuere Geschichte“ einrichten. Auf meinen Einwand, dass es so etwas bereits gebe, winkte er ab. „Papperlapapp. Ich meinte ein richtiges Museum.  Eines für die wirklich wichtigen Geschichten…“

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Das Märchenschloss von Gentzrode

In Zeiten des Stillstandes gilt: Viele Pläne sind in die Zukunft zu verlegen. Die Vergangenheit taugt nur für Romantiker, die Gegenwart eignet sich eher für Entdecker. Momentan geht das nur in der Nähe, das Fernweh muss sich gedulden. Wie wäre es daher mit Gut Gentzrode? Eine gute Autostunde von Berlin entfernt zwischen Neuruppin und Rheinsberg. Hier ist Brandenburg am Brandenburgischsten. Eine stille Region, in der das einstige Preußen unter jedem aufgehobenem Stein eine Geschichte erzählen kann. Die beige-bunten Steine von Gentzrode berichten von kühnem Größenwahn und kauziger Kleingeisterei.

Auf nach Gentzrode. Seit fast 150 Jahren versteckt sich ein hochherrschaftliches Anwesen in dichtem Kiefernwald. Ein wundersames orientalisches Märchenschloss. Einst Sitz der Kaufmanns-Familie Gentz. Diese gelangte durch Torfabbau zu Wohlstand und reiste viel, bevorzugt in den Orient. Unternehmer Alexander Gentz beauftragte 1876 mit Martin Gropius einen der besten Architekten seiner Zeit. Dieser entwarf mit seinem Partner Heino Schmieden ein wahres Prachtschloss im Zeitgeist des orientalischen Historismus. Geld spielte offenbar keine Rolle. Übrigens: Martins Neffe Walter Gropius sollte als Bauhaus-Architekt weltberühmt werden.

 

Gut Gentzrode. Das Herrenhaus. Mai 2020.

 

Der märkische Goethe Theodor Fontane zeigte sich auf seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg bei seiner Visite von Schloss, Park und Wirtschaftsgebäuden beeindruckt. „Der Reiz, den diese Gentzroder Schöpfung von Anfang hatte, wird ihr noch auf lange verbleiben, der Reiz, dass hier alles erst im Werden ist. Unsere Teilnahme haftet am Unfertigen. „Was wird sich bewähren, was nicht?, „Wie wird sich´s entwickeln?“ Das sind die Fragen, die von alters her uns an Menschen und Dingen am meisten interessiert haben.“

 

 

Das Schloss brachte dem ehrgeizigen Gentz-Chef kein Glück. Die Familie mit dem „vollkommen dynastischen Gefühl“ übernahm sich mit dem Prachtbau, zudem stagnierte das Torfgeschäft. Kohle löste Torf als billiges Heizmaterial der Hauptstadt ab. Seniorchef Gentz ging kurz nach Fertigstellung des Märchenschlosses „bankrutt“, wurde verhaftet und wegen Betruges verurteilt.  „Er raste, jeder Warnung unzugänglich, in sein Verderben hinein, durch nichts berechtigt oder entschuldigt als durch den Glauben an seinen Stern“, notiert Fontane. Der stolze Bankrotteur musste das Gut „gebrochen an Leib und Seele“ verkaufen.

Fortan wechselte das Schloss munter seine Besitzer, wurde zum reinen Spekulationsobjekt. Amtmänner, Zuckerfabrikanten oder auch ein Konsul gaben sich die Klinke in die Hand. 1934 übernahm die Wehrmacht das Anwesen samt Herrenhaus und funktionierte das riesige Areal zum Schießplatz und Munitionslager um. Nach dem Untergang des Dritten Reiches übernahm 1945 die Rote Armee Gut Gentzrode. Deren 112. Garderaketenbrigade wiederum übergab Herrenhaus, Kornspeicher und das gesamte militärisch genutzte Gelände 1991 kampflos an die Bundesrepublik Deutschland.

 

Turmzimmer. Familie Gentz machte ihr Vermögen mit Torf. Schloss Gentzrode trieb sie in den Ruin. Mai 2020

 

Die neue Zeit brachte Gut Gentzrode keine blühende Zukunft. Im Gegenteil. Der Staat ließ das Areal verkommen, verscherbelte es 2000 an einen Baumschulen-Besitzer, der es wiederum 2010 an eine türkische Baufirma weitervertickte. Aus all den großspurigen Plänen für Golf-Resorts, Hotels oder was-sonst-noch wurde nichts. Die Behörden schauten diskret weg. Nach mittlerweile dreißig Jahren Leerstand ist Gut Gentzrode – ein Denkmal von „nationaler Bedeutung“ – am Ende. Nichts als eine ruinierte Schönheit, ein Lost Places. Ein Ort für Träumer, Pilzsucher und Romantiker.

 

„Ungunst und Wechsel der Zeiten zerstörte, was wir geschaffen“. Detail im Turmzimmer.  Mai 2020

 

Das ist die wundersame Geschichte von einem Spuk-Schloss in Dauer-Quarantäne. Aber vielleicht gibt es doch noch ein Happy End?

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1945 – Ein kurzer Sommernachtstraum

Alles neu macht der Mai. Ein beliebter Kinderreim. In diesen Tagen freuen wir uns über jede Lockerung. Vor 75 Jahren war am 8. Mai 1945 ein ganzes Reich untergegangen. In den Ruinen der „Reichshauptstadt“ notierte die Berliner Schriftstellerin Ruth Andreas Friedrich in ihr Tagebuch: „Wie ein Spuk ist das Dritte Reich zerstoben. Mit den Hakenkreuzfahnen ist auch Herr Hitler auf den Abfallhaufen geflogen. Fahr zur Hölle, Führer und Reichskanzler!“ Über die geschundene Stadt legte sich eine bleierne Stille. Kein Geschützlärm mehr, keine Granaten. Aber auch kein Strom, kein Gas oder etwa Wasser aus der Leitung. Merkwürdig nur: Die Nazis waren plötzlich alle verschwunden. Wohin?

Immerhin: Keine drei Wochen nach der Kapitulation – genau am 26. Mai 1945 – blüht in den Ruinen ein erstes kulturelles Pflänzlein auf. Die Philharmoniker bitten zu ihrem ersten Nachkriegs-Konzert in den Steglitzer Titania-Palast. Das Premieren-Programm hat eine klare Ansage: Auftakt mit der Sommernachtstraum-Ouvertüre von Felix Mendelssohn Bartholdy. Dessen Werke waren unter den Nazis zwölf Jahre lang verschwunden, verfemt und verboten. Weiter im Programm folgen Mozart und die Vierte Symphonie von Tschaikowsky. Am Pult steht der 46-jährige Leo Borchard, genannt Andrik. Ein glänzendes Comeback. Das Publikum feiert ihn.

 

Der erste Nachkriegs-Dirigent der Berliner Philharmoniker Leo Borchard. (1899-1945) Foto: Gedenkstätte Deutscher Widerstand

 

Der erste Nachkriegsdirigent der weltberühmten Berliner Philharmoniker ist ein gebürtiger Moskauer. Anfang 1933 dirigierte er als Shooting Star die »Populären Konzerte«. Doch er musste den Dirigentenstab abgeben, wegen »politischer Unzuverlässigkeit«. Leo Borchard tauchte in Berlin ab, lebte fortan gemeinsam mit der Schriftstellerin Ruth Andreas Friedrich im inneren Exil. Er unterstützte still und effektiv die Widerstandsgruppe Onkel Emil, die im südlichen Bezirk Steglitz Verfolgten Schutz bot. Zwölf Jahre lang ein Leben zwischen Bangen, Hoffen und Warten auf einen Neuanfang.

 

Leo Borchard dirigiert Johann Strauß. Eine seltene Aufnahme von 1933.

 

Endlich. Mai 45. Nach Hitlers Ende nehmen die Berliner Philharmoniker Kontakt zu Leo Borchard auf. Er ist ihr Mann für die Zukunft. Andrik steckt voller Pläne, hat tausend Ideen. Noch gilt in Berlin die Ausgangssperre. Am 23. August 1945 bittet der Besatzungs-Offizier Thomas R. M. Creighton Leo Borchard zu einem Abendessen. Der britische Oberst ist ein großer Musikliebhaber. Die Abendgesellschaft plaudert in der Offiziers-Villa im Grunewald über Bach und Mendelssohn. Spät am Abend soll ein Chauffeur den Musiker zurück in seine Wohnung im amerikanischen Sektor bringen. Die damalige Sektorengrenze am Bundesplatz durchfährt der Fahrer ohne anzuhalten. Weisungsgemäß eröffnet der amerikanische Wachtposten das Feuer. Eine Kugel trifft den Dirigenten tödlich. Das tragische Ende eines hoffnungsvollen Comebacks an der Spitze der Berliner Philharmoniker. Die Hoffnung auf einen Neuanfang blieb ein kurzer Sommernachtstraum.

 

 

Diese Mai-1945-Episode findet sich auch in dem sehr empfehlenswerten Buch von Jens Bisky. Berlin. Biographie einer großen Stadt.

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Bis zum letzten Atemzug

Vor genau 75 Jahren. Das Dritte Reich liegt in den letzten Zügen. Der 23. April 1945 ist ein Montag mit typischem Aprilwetter. Sonne folgt auf Regen. Auf der Landstraße von Neuruppin nach Wittstock ist auf einmal das tausendfache Klappern von Holzpantinen zu hören. Elendsgestalten in Blöcken zu jeweils fünfhundert Mann schleppen sich gen Norden. Die SS verfolgt ihren letzten teuflischen Plan. Über dreißigtausend KZ-Häftlinge aus Sachsenhausen sollen zur Ostsee getrieben werden, um dort auf Schiffen versenkt zu werden. Am 29. April 1945 können die Überlebenden in Mecklenburg befreit werden.

 

Reinhold Heinen (1894-1969) überlebte den Todesmarsch von Sachsenhausen Richtung Ostsee.  Foto: Wikipedia

 

Der 51-jährige Reinhold Heinen ist einer der Todeskandidaten. Er quält sich im Block der Politischen seit zwei Tagen über die Chaussee. Teilweise bewacht von ehemaligen Mitinsassen, also eigenen „Kameraden“, denen die SS Knüppel und damit ein Stück Macht übertragen hat. Vier Jahre Konzentrationslager in Sachsenhausen hatte der frühere Chefredakteur des „Aachener Volksfreunds“ überstanden. Der Düsseldorfer will auf keinen Fall noch in den letzten Stunden in einem Straßengraben enden. Heinen hat die Kraft, Tagebuch zu führen. An diesem Montagabend (23. April 1945) notiert er:

„Steif, missmutig, kein Wasser. Kein Kaffee, nichts Warmes. Wir marschieren, machen vor dem Dorf an der Bahnstation Halt, kochen ab und warten. (…) Unsere Gruppe in eine Scheune, sehr eng, aber es geht. Am Nachmittag, der marschfrei ist, kann man sich säubern, rasieren, hinlegen, schlafen. Aber die Enge ist zu groß. Einer muss über den andern klettern. Auf den sechs Kilometern, die wir zurückgelegt haben, zählte ich zwölf Tote im Straßengraben, darunter einen Holländer. Ein Mann lag noch mit dem Genickschuss lebend und verdrehte die Augen, verfolgte unseren Marsch mit seinen Blicken.“

 

April 1945. Eines der vielen Opfer des Todesmarsches von Sachsenhausen. Foto: Gedenkstätte Todesmarsch im Belower Wald

 

Die märkische Landbevölkerung beobachtet den Zug der Todgeweihten aus 18 Nationen eher gleichgültig bis misstrauisch. Nur ganz wenige fassen sich ein Herz und helfen. Als der Elendszug am Pfarrhaus von Rossow (heute Ostprignitz-Ruppin in Nord-Brandenburg) zum Stehen kommt, bietet Pfarrerstochter Edith von Jüchen den völlig Erschöpften etwas Warmes an. „Eine Selbstverständlichkeit.“ Die damals 24-jährige wird diese Stunden nie vergessen: „Wir hörten die Schüsse. Die KZ-Häftlinge wurden bei uns im Hof einquartiert. Der Pfarrhof wimmelte voller Menschen. Wir kochten Pellkartoffeln. Es waren verhungerte Gestalten. Sie umlagerten uns, bedrängten mich voller Hunger und Gier in den Augen. Ich bekam richtig Angst, als ich die Töpfe in den Hof trug. Es waren keine Menschen mehr, sie wirkten wie wilde Tiere. Am nächsten Morgen zogen sie weiter.“

 

Ende April 1945. SS-Angehörige plündern Hilfsgüter des Internationalen Roten Kreuzes. Eine bizarre Besonderheit war, dass es dem Schwedischen Roten Kreuz erlaubt wurde, KZ-Häftlingen auf dem Marsch Nahrungsmittel zur Verfügung zu stellen. Quelle: Gedenkstätte Todesmarsch im Belower Wald

 

Wenig später weiter nördlich in Wittstock. Der sechzehnjährige Werner Zimmermann ist mit einem versprengten Trupp auf wilder Flucht vor der Roten Armee. Alles löst sich auf. Statt vom Endsieg träumt der Volkssturmjunge aus Köpenick nur noch vom Überleben. Der Schüler will kein Kanonenfutter mehr sein, genau wie seine Kameraden. In der Nähe des Flugplatzes Wittstock sieht er plötzlich den Todesmarsch aus nächster Nähe.

„Wir lagerten völlig erschöpft am Straßenrand. Unser Unteroffizier rief: „Keiner steht auf. Keiner rührt sich.“ Wir sahen die Leute. Das nackte Elend. Alle nur Haut und Knochen. Ein Häftling stürzte auf der Straße. Ein SS-Mann mit Hund brüllte: „Auf, aber dalli.“ Der Häftling rührte sich nicht. Dann schoss er mit seiner Pistole. Peng! Den Mann stieß er mit den Füßen in den Graben. Wir waren entsetzt, wollten helfen. Unser Leutnant brüllte: „Kein Aufsehen! Keiner geht hin!“ Wir haben uns dann in die Wälder zurückgezogen. Als wir später die Straße noch einmal passierten, habe ich viele Tote gesehen. Links und rechts von der Straße.“

 

Todesmarsch Belower Wald bei Wittstock. Quelle: BHS-tv 1995

 

Der Düsseldorfer Reinhold Heinen überlebte den Todesmarsch. Der christliche Verleger gründete nach seiner Rückkehr im rheinischen Düren die örtliche CDU. Er ist 1969 verstorben. Pfarrerstochter Edith von Jüchen lebt heute 95-jährig in Schwerin und nimmt weiter hellwach am Geschehen teil. „Nie wieder“ ist ihr Lebensmotto. Hitlerjunge Werner Zimmermann geriet Anfang Mai 1945 im Raum Schwerin in US-Gefangenschaft. Der mittlerweile 91-jährige wohnt wieder in Berlin-Köpenick.

Mehr über den Todesmarsch von Sachsenhausen in So viel Anfang war nie. Notizen aus der ostdeutschen Provinz.

So viel Zukunft war nie

Mein Krankenhaus, in dem ich seit drei Jahren ehrenamtlich mithelfe, ist geschlossen. Im gegenwärtigen Corona-Modus sind ganze Stationen geräumt und isoliert worden. Bisher blieb der große Ansturm aus. Gott sei Dank. Aber was ist mit dem Stammpersonal? Wie geht es den Pflegekräften und der Ärzteschaft? In Nachrichten und Talkshows sind Virologen Dauergäste. Aber Pflegerinnen und Pfleger, Schwestern, Stationsärzte? Fehlanzeige oder ganz seltene Ausnahmefälle. Dabei sind sie hautnah ganz vorne und am intensivsten an Corona-Patienten. Was auf der Hand liegt: Statt Balkon-Beifall für Pflege- und Stationspersonal wären angemessene Löhne und Gehälter eine wirkliche Verbesserung. Ein Schritt in die Zukunft.

Der 23-jährige Alexander Jorde ist einer der wenigen, der offen über die Schwächen im Gesundheitssystem redet. Der Krankenpfleger in Hannover hat sich einmal in einer Wahlsendung mit Angela Merkel angelegt. Da sagte er über den Alltag auf den Stationen: „Die Würde des Menschen wird tagtäglich in Deutschland tausendfach verletzt“. Pfleger, Schwestern, Ärzte sind „systemrelevant“. Wie einst Banken. Diese schlitterten damals in eine selbstverschuldete Krise. Folge ihrer hemmungslosen Zockerei. Sie wurden mit Milliarden Euros gerettet.

 

 

In den Krankenhäusern muss mit den Folgen eines weltweit außer Kontrolle  geratenen Virus ganz alleine gerungen werden. Wie sieht deren Schutzschild aus?  Tja. Es herrschen Atemnot, Improvisation, Stress und manchmal ein wenig Hoffnung auf bessere Zeiten. Gesundheitsminister Jens Spahn setzte als Sofortmaßnahme die Personaluntergrenzen aus. Noch mehr Druck. Dabei liegt der Pflegeschlüssel bereits bei gegenwärtig 13:1. Das heißt eine Pflegekraft versorgt im Schnitt 13 Patienten. Das ist einer der schlechtesten Werte in Europa. Schutzmasken müssen wegen Mangel in vielen Krankenhäusern mehrfach getragen werden. Kollegen fallen wegen Krankheit aus. Es gibt ein hohes Risiko selbst infiziert zu werden. Bei 12% liegt die Rate in Spanien. In Deutschland weiß man es nicht, es wird zu wenig getestet.

 

Vhelalde aus Mailand interpretiert mit ihrer Band einen Klassiker.

 

„Wir haben genügend Betten, wir haben genügend Beatmungsgeräte, wir haben sogar meistens auch genügend Ärzte. Aber wir haben nicht genügend Pflegekräfte“, sagt Pfleger Alexander Jorde. Er hofft, dass in Corona-Zeiten endlich ergebnisorientiert debattiert wird, wer die Gesellschaft am Laufen hält. Zum Beispiel seine Kolleginnen und Kollegen, genau wie die vielen Kassiererinnen, Kuriere, Lkw-Fahrer oder Erntehelfer. Jorde appelliert: „Wir müssen gemeinsam für bessere Löhne und anständige Arbeitsbedingungen kämpfen. Auch nach Corona.“ Ein frommer Wunsch des 23-jährigen aus Hildesheim? Jung und naiv?

 

So sieht Banksy in England die Quarantäne-Zeit. Seine Frau hofft, dass er bald wieder raus kann.

 

Was wird, wenn das Kontaktverbot wieder fällt und wir in den ersehnten Normalmodus zurückkehren? Lernen wir aus der staatlich verordneten Zwangspause? Die Chance ist da. Jetzt. Noch ist die Tür einen Spalt weit geöffnet. So viel Zukunft war nie.

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„Da müssen wir durch“

Leben im Sperrgebiet. Die Sonne strahlt. Kraniche ziehen übers Land. Birken blühen auf. Kröten wandern. Nicht wenige bleiben platt am Straßenrand zurück. Trecker auf Feldwegen wirbeln dickbraune Staubwolken auf. Sie schütten literweise streng riechende Gülle auf ihre Äcker. Es ist eigentlich wie jedes Frühjahr. Die märkische Heide ist im dritten Jahr staubtrocken. Wir warten auf die Störche. Oder gilt für sie auch das neue Einreiseverbot wie für alle Fremden, besonders diejenigen aus Berlin? Das kleine Herzdorf, wie unser Dorf in meinem Buch heißt, befindet sich seit zwei Wochen mitten in der Verbotszone. Der zuständige brandenburgische Landkreis OPR (Ostprignitz-Ruppin) hat ein Betretungsverbot erlassen. Corona führt Regie.

 

Kröten im Sperrgebiet. Mutter Natur hat folgendes arrangiert: das Weibchen trägt den etwas kleineren Kröterich im Huckepack zum Ort der trauten Gemeinsamkeit.

 

Wenige Tage vor Ostern fiel überraschend das Einreiseverbot. Nun dürfen Berliner mit Zweitwohnsitz ihre Feriendomizile wieder betreten. Zwei Berliner hatten sich mit ihrer Klage vor Gericht durchgesetzt. Einer der Kläger ist unser Nachbar. Und die Einheimischen? Sie sind hin- und hergerissen. Sie ziehen sich auf eingeübte Positionen zurück. „Was soll man machen? Die da oben machen sowieso was sie wollen.“ Selbst in schlimmsten Corona-Zeiten wie diesen bewährt sich die gewohnt märkische Sturheit. Manche nennen es Lebensklugheit.

Auf den ersten Blick präsentiert sich das „verbotene Land“ wie immer zu Ostern. In den Vorgärten mit bunten Eiern geschmückte Sträucher. Im Park ein beeindruckender Holzstapel. Doch das Osterfeuer fällt aus. Erstens wegen Waldbrandgefahr. Wie im Vorjahr. Zweitens wegen Corona, natürlich. Dieses Jahr gibt es strafverschärfend weder Bier am Feuerwehrhaus. Noch das Osterkonzert für bildungshungrige Besucher. Kein Reiten für Kinder. Kein Bett über Nacht. Eine Landfrau winkt ab. „Da müssen wir durch. Ist immer noch besser als Krieg. Wir haben zu essen, zu trinken, der Fernseher läuft. Wird schon werden.“ Sie lächelt und geht hinter die Scheune Holz hacken.

 

Frühling 2020 im Corona-Sperrgebiet. Freundlich aber staubtrocken.

 

Die Corona-Krise erinnert die Älteren im Dorf an den ungewöhnlich warmen Frühling 1945. Es waren Monate der Zeitenwende ohne Fernseher, Whatsapp oder Facebook aber mit Durchhalteparolen, Endsieg-Geschrei, Tieffliegern, Rotarmisten auf Panje-Wagen, Wodka, Vergewaltigungen, Kapitulation, Befreiung. Als urplötzlich alle Nazis weg waren und der Hunger zum täglichen Küchenmeister wurde. Als aus Graupen Suppen gezaubert und Katzen zu Delikatessen verarbeitet wurden. Als ein einziges Brot einen ganzen Wochenlohn wert war. Was die Kunst des Erinnerns heute ausrichten kann, ist möglicherweise die Erfahrung, dass uns das Erzählen solcher Situationen wieder zu Bodenhaftung und Demut verhelfen kann. Wenn wir bereit sind zuzuhören.

Aktualisierung: Eine gute Nachricht vom Lande. Der Storch ist seit dem 10. April 2020 wieder da.

Zur Kunst des Erinnerns noch eine spannende viertelstündige Kurzgeschichte von einem gewissen Robert Zimmermann, besser bekannt als Bob Dylan. Er lässt in seinem brandneuen Sprechgesang Murder most foul einen Mann aus hoffnungsvollen Zeiten wiederauferstehen – John F. Kennedy. Es ist Dylans Geschichte zu Ostern 2020.

Seid in diesen Ausnahmezeiten alle digital gedrückt!

 

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Der Brotaufstand von Rahnsdorf

AKTUALISIERT am 5. April 2022

Es ist wieder Krieg in Europa. Diesmal haben die russischen Streitkräfte unter Putin das Völkerrecht gebrochen und die Ukraine überfallen, um sie „zu befreien“. Vor 77 Jahren kamen die Russen tatsächlich als Befreier. Anfang April 1945 kehrte der Krieg  nach Berlin zurück, wo er von Hitler vom Zaun gebrochen wurde. Die Rote Armee setzte zur Entscheidungsschlacht an. Hitler erklärte im Führer-Bunker: „Der Soldat kann sterben, der Deserteur muss sterben.“ Am 1. April 1945 um 20.00 Uhr meldete der neue Sender „Radio Werwolf“: „Lieber tot als rot! – Siegen oder sterben! – Hass ist unser Gebet, Rache unser Feldgeschrei.“ Die allermeisten Berliner wollten nicht mehr kämpfen. Sie versteckten sich in Kellern, hungerten und kämpften ums Überleben. „Reichsverteidigungskommissar für den Gau Berlin“ Joseph Goebbels verfügte eine Sonderbrotverteilung nur noch für NS-Parteigenossen.

 

Die ehemalige Bäckerei Deter in Berlin-Rahnsdorf. NSDAP-Ortsgruppenleiter Hans Gathemann: „Es gibt kein Brot mehr. Nur noch für Parteigenossen!“ Hunderte Menschen versuchten am Vomittag des 6. April 1945 verzweifelt an Brot zu kommen.  Foto: Werner Zimmermann, 1998.

 

Die Nachricht erreicht Berlin-Köpenick am 6 . April 1945. Es ist ein frühlingshafter Freitag. Im Ortsteil Rahnsdorf wird bekannt, dass die Bevölkerung kein Brot mehr erhalten soll. Hunderte Frauen, Kinder und Alte eilen zu den drei Bäckern des Ortes. Zwei verkaufen das Stück zu 50,- Pfennig, bis alles weg ist. Beim zentralen Bäcker in der Fürstenwalder Allee 27 weigern sich die nazitreuen Bäckersleute Brot an die Bevölkerung abzugeben.  Sie alarmieren NSDAP-Ortsgruppenleiter Hans Gathemann.  – „Es gibt kein Brot mehr. Nur noch für Parteigenossen!“ – Diese Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Die Lage eskaliert. Erregt versucht eine vielköpfige Menge den Bäckerladen zu stürmen.  Reinhard Heuback war damals zehn Jahre alt. Der damalige Schüler erinnert sich genau. „Der komische Gathemann stand mit der Pistole in der Hand. Ich durfte noch gehen. Andere wurden verhaftet, in den Knast gesperrt.“

 

Margarete Elchlepp (1899-1945). Mit dem Tischler Max Hilliges als  „Rädelsführer“ enthauptet.  Foto: Familiennachlass Elchlepp

 

Der fanatische Nazifunktionär meldet der Gestapo den Tischler Max Hilliges (53) und die beiden Frauen Margarete Elchlepp (45) und deren Schwester Gertrud Kleindienst (36) als „Aufrührer“. Sie seien „Volksschädlinge“, würden sich widersetzen. Hilliges ist im Laden mit Reparaturarbeiten beschäftigt. Er liefert sich mit dem NS-Mann, der mit der Waffe herumfuchtelt, ein Wortgefecht: „Gib doch den Frauen Brot, sie wollen es ja nicht für sich, sondern für ihre Kinder.“ Dann setzt Hilliges nach: „Es dauert ja nicht mehr lange, dann musst du deinen braunen Rock auch ausziehen.“ Noch am gleichen Tag gegen 18 Uhr wird der Tischler in seiner Wohnung verhaftet. Die Gestapo nimmt insgesamt 15 Personen fest, die zum Polizeigefängnis am Alexanderplatz gebracht werden. Ein Standgericht verurteilt den Tischler und die beiden Schwestern Margarete und Gertrud am nächsten Tag als „Rädelsführer“ zum Tode.

 

Hier starben Max Hilliges und Margarete Elchlepp in der Nacht vom 7. auf den 8. April 1945 – drei Wochen vor Kriegsende. Sie gehörten zu den letzten Opfern in Plötzensee. Quelle: Gedenkstätte Plötzensee

 

Keine drei Stunden nach dem Todesurteil werden Max Hilliges und Margarete Elchlepp in der Nacht des 7. April 1945 gegen 0.45 Uhr in der Haftanstalt Plötzensee enthauptet. Die dritte als „Rädelsführerin“ zum Tode verurteilte Gertrud Kleindienst, Mutter von drei Kindern, wird  von Gauleiter Goebbels in letzter Sekunde zu acht Jahren Zuchthaus begnadigt. Hitlers Propagandaminister notiert in seinem Tagebuch am 8. April 1945: „So muss man vorgehen, wenn man in einer Millionenstadt Ordnung halten will. Und die Ordnung ist die Voraussetzung der Fortsetzung unseres Widerstandes.“ Am Tag darauf werden die Hinrichtungen „unter Trommelwirbel“, so Augenzeuge Heubeck, auf dem Bismarckplatz vor der Bäckerei verkündet. „Zur Abschreckung“ kleben NS-Genossen Flugblätter mit der Nachricht mit den vollzogenen Todesurteilen an Laternen und Bäume.

Keine zwei Wochen später marschiert am 21. April die 1. Weißrussische Front der Sowjetarmee im Berliner Vorort Rahnsdorf ein. NS-Ortsgröße Gathemann taucht in den Wirren unter. Für immer. Gerüchte besagen, er und seine Familie seien im Müggelsee „ins Wasser gegangen“ Tatsächlich führen die Spuren nach Moskau. Nach einem bislang unbestätigten Aktenfund soll Gathemann „zum Tode durch Erschießen“ verurteilt worden sein. Wann und wo, ist unklar. Eine Anfrage zum Verbleib Gathemanns ist beim zuständigen Militärstaatsanwalt in Moskau auf dem Wege. Gertrud Kleindienst aber überlebt. Sie wird am 2. Mai 1945 aus dem Gefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel befreit. Im September 1945 kehrt sie nach Rahnsdorf zurück.

 

Diese erste (fehlerhafte) Gedenktafel wurde 1998 an der ehem. Bäckerei Deter angebracht. Sie verschwand vor einigen Jahren spurlos. Tatsächlich wurden drei Todesurteile verkündet, zwei davon vollzogen.

 

Nach 1945 wird es viele Jahrzehnte still. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang gerät die Geschichte vom Brotaufruhr der Frauen in Vergessenheit. Selbst die Angehörigen der Opfer halten sich bedeckt. Dietrich Elchlepp lebt in Denzlingen bei Freiburg. Er gehört zur Familie der hingerichteten Margarete Elchlepp: „Ich erinnere mich noch sehr genau, wie die Familie allerdings nur sehr leise darüber sprach, mit einem gewissen Erschrecken auch im Gesicht. Aber es wurde nicht ausführlich über diese Ungeheuerlichkeit gesprochen. Man wollte es und konnte es anfänglich gar nicht glauben, was geschehen war. Das wohl der Hintergrund für das Schweigen“,  Der heute 83-jährige Ministerialdirigent i. R. über den tragischen Tod seiner Tante: „Ich war bei Kriegsende acht Jahre alt. Von meinem Onkel Walter (dem Witwer) weiß ich nur, dass er sagte, sie sei wegen einer Nichtigkeit kurz vor Kriegsende hingerichtet worden“.

Was wurde aus dem fanatischen NS-Mann Gathemann? Über ein dreiviertel Jahr ließ das angefragte Moskauer Justizministerium auf eine Antwort warten. Ende 2021 teilte der russische Militärstaatsanwalt auf unsere ZDF-Anfrage mit, dass NS-Ortsgruppenführer Gathemann am 1. August 1945 hingerichtet wurde. Er habe sich an „Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit“ schuldig gemacht. Das bedeutet: Auch der Denunziant Gathemann war nach Kriegsende denunziert worden.Wo genau das Urteil „Tod durch Erschießen“ vollzogen wurde, teilte die russische Justiz nicht mit.

1998 organisierten einige couragierte Bürger eine Gedenktafel am Ort des schrecklichen Geschehens. Die ehemalige Bäckerei wurde mittlerweile verkauft, das Haus vorbildlich renoviert, nur die Tafel verschwand. Seit 2016 versucht der Verein Bürger für Rahnsdorf  wieder eine Gedenktafel am Haus anzubringen. Der neue Hausbesitzer weigerte sich. Nach nun mehr als sechs Jahren Debatten, Petitionen und anschließendem Berliner Behördenbingo soll jetzt tatsächlich „noch in diesem Jahr“ eine neue Gedenk-Stele vor der ehemaligen Bäckerei aufgestellt werden. Diesen Informationsstand teilte der Bürgerverein Rahnsdorf mit. Stand: Anfang April 2022.

 

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Bruderliebe

Es sind Dokumente ohnmächtiger Wut. Botschaften an den Bruder. – „Die Person“. „Unser Wüterich.“ „Der raubgierige Mensch.“ „Der Hanswurst.“ „Der größte Schmutzfink und Geizhals.“ „Die gemeinste Bestie, die Europa hervorgebracht hat.“ „Der garstigste und boshafteste Dummkopf.“ „Der Tyrann.“ – Reicht´s? Ich denke ja. So bezeichnet ein ehrwürdiger Prinz seinen vierzehn Jahre älteren Bruder. Objekt der Verwünschungen: Der preußische König Friedrich II. Genannt „Friedrich der Große.“ Volkstümlich besser bekannt als „Alter Fritz“.

Der Unglückliche? Sein kleiner Bruder. Prinz Heinrich von Preußen. Zeitgenossen nannten ihn den „König von Rheinsberg“. In der idyllischen Provinz fernab von Macht und Hofstaat lebte 46 Jahre lang der ewige Zweite im Preußenstaat. Der vergessene Monarch. Dabei war Heinrich ein Mann von Charme, Format und Charakter. Heinrich der Kleine war kunstsinnig, europäisch und auch eine Prise schwul.

 

In vollem Ornament. Friedrich Heinrich Ludwig von Preußen. (1726-1802) Der kleine Bruder vom „großen“ Friedrich. Der ewige Zweite im Preußenreich und vergessene Monarch.  Quelle: Wikipedia

 

Sein Pech. Er war das dreizehnte von vierzehn Kindern aus dem Hohenzollern-Clan. Eine reelle Chance auf den Thron hatte er nie. Sein großer Bruder Friedrich II stand ihm zeitlebens im Wege. Heinrich durfte als Offizier auf den Schlachtfeldern die Kastanien aus dem Feuer holen. Er war ein hochangesehener Feldherr. Beliebter bei seinen Soldaten als der sagenumwobene Alte Fritz, weil er im Gegensatz zu seinem Bruder nicht ständig seine Untergebenen schikanierte. Heinrich rettete als Diplomat in Verhandlungen mit der russischen Zarin Katharina der Großen die Zukunft des Preußenstaates. Alles im Auftrage seines poltrigen Bruders.

All sein Geschick, all seine Fähigkeiten nutzten Heinrich nichts. Im Gegenteil. Friedrich II stellte ihn in mit der Schenkung von Schloss Rheinsberg kalt, zwang ihn zu heiraten, obwohl er dies nicht wollte. Heinrich grollte fortan in der Provinz. Doch er machte aus der Not eine Tugend. In der märkischen Einöde von Rheinsberg organisierte er im Sommer Hoch-Kultur mit Theater, Oper und rauschenden Festen. Ein Erbe, das bis heute währt. Als sein kauziger missgelaunter Bruder 1786 starb, hoffte er vergeblich auf die Thronfolge. Intrigen am Berliner Hof verhinderten seinen Zutritt zur Macht. So blieb ihm nur beleidigte Zurückgezogenheit. Aus Feigheit? Oder war es doch die Klugheit eines uneitlen, bürgernahen Weltbürgers aus Rheinsberg?

 

Friedrich der Große hat den Hut auf. Mit dabei: Prinz Heinrich, der jüngere Bruder und Neffe Friedrich Wilhelm II. Er beerbt seinen Onkel, den „Alten Fritz“ 1786. Heinrich geht leer aus.    Quelle: CC-BY-NC-SA @ GLEIMHAUS Museum der deutschen Aufklärung

 

Sein älterer Bruder Friedrich II verspottete ihn am Ende nur noch zynisch. „Ich bin es müde über Sklaven zu herrschen.“ Was wurde aus Heinrich? Er gestaltete seinen Zufluchtsort Rheinsberg mit Theater und Park, Obelisk und Pyramide. Ganz nach seinen Vorstellungen. Nach seinem Tode 1802 wurde der kunstsinnige Prinz rasch vergessen. Der raubeinige Haudegen Friedrich II hingegen schaffte es zum Mythos – bis heute. Auf seine Grabplatte an der Pyramide von Rheinsberg ließ Heinrich folgende Inschrift eingravieren.

„Wanderer! Erinnere dich, dass Vollkommenheit nicht auf Erden ist. Wenn ich auch nicht der beste der Menschen habe sein können. Wenigstens gehöre ich nicht zu der Zahl der Bösen.“

Sein Vermächtnis verfasste Prinz Heinrich keineswegs im zeitgemäß preußischen Deutsch. Der kleine Bruder Friedrich Heinrich Ludwig wählte in Zeiten der Revolution das für ihn passendere Französisch. Die Kultur, die er so liebte.

 

 

 

Hinweis

Wer das schöne Rheinsberg in diesen Tagen besuchen will, muss sich gedulden. Der zuständige Landkreis hat am 23. März 2020 in einer Allgemeinverfügung „Reisen aus privatem Anlass zu touristischen Zwecken“ untersagt. Das Potsdamer Verwaltungsgericht hat das Betretungsverbot für Zweitwohnungsbesitzer mittlerweile gekippt. Für alle Touristen gilt die Verordnung weiter. In gutem alten DDR-Deutsch bedeutet das über Ostern: Einreiseverbot.

Das Schloss

Die Lage ist traumhaft. Hoch über dem Bodensee. Blick auf die Insel Reichenau. Gesichert durch Zäune versteckt sich Schloss Eugensberg hinter hohen Hecken im Kanton Thurgau, diskret wie ein Schweizer Nummernkonto. Ein Paradies auf Erden. Viele Millionen Franken wert. Sechs komfortable Wohnräume im Empire-Stil, elf Schlaf- und fünf Badezimmer. Pool, ein Tempel und selbstredend ein eigener Tennisplatz. Das Schloss hat eine sehr spezielle Geschichte. Zu berichten ist von stetem Aufstieg und Fall. Dieses Schloss verschlingt seine Bewohner.

 

https://youtu.be/xgsMdHVa_Go

 

Anfangs residierte der Hochadel, später der europäische Geldadel. Eugène de Beauharnais, Stiefsohn Napoleons und Vizekönig von Italien, ließ das klassizistische Schloss zwischen 1819 und 1821 errichten. Er vermachte aus Krankheitsgründen das Anwesen seiner Tochter Eugénie, der das Schloss gleichfalls wenig Glück brachte. Sie musste verkauften. Später erwarb ein Augsburger Geschäftsmann das Schweizer Traumschloss. Der Deutsche hatte sein Vermögen „mit Balsam und Lebensessenzen“ gemacht. Auch er erkrankte wie der Bauherr schwer, verkaufte es weiter an eine Gräfin Amelie von Reichenbach-Lessonitz.

Nach ihrem Tod verkaufte die Tochter das Schloss an den Schweizer Großindustriellen Hippolyt Saurer aus Arbon. Dieser modernisierte das hochherrschaftliche Anwesen in der Zeit des I. Weltkrieges. Er blieb immerhin bis 1936 alleiniger Schlossherr. Nach Jahren der Ungewissheit im II. Weltkrieg wurde das Schloss 1948 für 850.000 Franken an die Diakonie verkauft. Vierzig Jahre lang diente das Schloss als Ferien- und Erholungsheim. Eine schöne Zeit für Familien mit Kindern, völlig ohne Skandale, Spekulation und Pleiten.

 

Schloss Eugensberg. Napoleons Stiefsohn ließ 1819 bis 1821 Schloss und Park an der Südseite des Bodensees anlegen.

 

Doch das Anwesen wurde der Diakonie zu teuer. 1990 schlug der Schweizer Autohändler Hugo Erb zu. Ein tüchtiger Patriarch alter Schule. Erb hatte sein Milliarden-Imperium mit Auto- und Kaffeehandel aufgebaut. In Glanzzeiten beschäftigte er über 5.000 Mitarbeiter. Die DDR wurde sein Verhängnis. Der Selfmade-Mann aus Winterthur verspekulierte sich in den Goldgräberjahren der Nachwendezeit. Er kaufte ostdeutsche Immobilien, die sich als Reinfall erwiesen. Sein Imperium mit sechzig Firmen stürzte ab.

Sohn Rolf Erb, ein gelernter Kunsthistoriker, übernahm den Konzern, konnte die Pleite aber nicht verhindern. 2.4 Milliarden Franken Schulden bedeuteten 2007 das Aus. Das Schicksal nahm seinen Lauf. Patriarchensohn Rolf wurde wegen Betrug, Urkundenfälschung und Gläubigerschädigung zu sieben Jahren Haft verurteilt. Vergeblich beteuerte er seine Unschuld. Ende März 2017 entschied das Gericht, der 65-jährige müsse hinter Gittern. Acht Tage später wurde er tot im Dachzimmer des Schlosses aufgefunden. Das Herz.

 

Seit 2019 residiert auf Schloss Eugensberg der deutsche Internetmillionär Christian Schmid. Foto: Wikipedia

 

Jahrelang stand das Schloss leer. Nun zieht ein Deutscher mit seiner Schweizer Gattin ein. Kaufpreis über 36 Millionen Franken. Die wahre Summe bleibt Geschäftsgeheimnis. Der neue Mann auf Schloss Eugensberg heißt Christian Schmid, stammt aus Tübingen und ist 39 Jahre alt. Das Internet hatte ihn reich gemacht. Gegen seine einstige Datenspeicherfirma «Rapid-Share» laufen zwar ein paar Klagen wegen Urheberrechtsverletzungen. Geschenkt. Das kinderlose Schlosspaar will das Anwesen „erhalten“. Der Rest spielt sich – wie seit genau zweihundert Jahren – hinter blickdichten Hecken und hohen Zäunen ab.