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Willkommen in Thüringen

Thüringen. Land der Chancen. Land der Extreme. Hier kann man mit 5%-Stimmenanteil für drei Tage Ministerpräsident werden. Danach musste FDP-Mann Kemmerich zwar zurücktreten, kann aber im September bei der nächsten Wahl wieder als Spitzenkandidat antreten. „Einmalig in Deutschland“, findet das Stern-Autor Martin Debes in seinem Buch: „Deutschland der Extreme“. Thüringen ist für ihn ein Land zwischen Weimar und Buchenwald. Ein Land, in dem vor genau hundert Jahren die erste bürgerliche Regierung durch eine völkische Partei toleriert wurde. Mit 2.1 Millionen Einwohnern ist Thüringen im Herzen Deutschlands eher unbedeutend, aber ein kleines Land mit großer Geschichte.

 

Ein Paar in Berka. Foto: Ludwig Schirmer. Vater von Ute Mahler, ein Müller. Er dokumentierte das Alltagsleben in seinem Dorf ab 1950.

 

Alles vereint sich im wunderschönen, bergigen Thüringer Wald. Weimarer Republik. Hitlers Muster-Gau. Erster Sturm auf eine Stasi-Zentrale, der erste linke Ministerpräsident der Bundesrepublik. Bodo Ramelow, seit zehn Jahren Chef der einzigen Minderheitsregierung Deutschlands, betont unverdrossen: Thüringen sei das Land der Chancen. 92 Weltmarktführer, darunter der größte Pizzaofen der Welt. Thüringen sei ein Land mit Geschichte. Hier wurde Martin Luther zum Mönch, übersetzte die Bibel. Johann Sebastian Bach komponierte seine ersten Fugen. Goethe und Schiller dichteten sich in den Literatenhimmel. Jena eroberte als rebellischer Ort Freiheit und deutsche Frühromantik. Deutschland vom Feinsten. Hier agiert nun mit Björn Höcke ein hessischer Geschichtslehrer, der erster AfD-Premier werden will.

 

Berka. 1977/78. Foto: Werner Mahler

 

Wer Thüringen besser verstehen will, sei eine beeindruckende Arbeit des Fotografen-Paars Ute und Werner Mahler empfohlen. Sie beobachteten gemeinsam mit Ute Mahlers Vater Ludwig Schirmer über sieben Jahrzehnte ihr Heimatdorf, das kleine thüringische Berka. „Ein Dorf 1950-2022“, heißen Buch und Ausstellung. Eine Entdeckung, die sich lohnt. Einblicke auf Schwarz-Weiß, die erklären, wie sich das Land verändert hat. Bilder zum Staunen, Lachen und Wundern. Nicht umsonst wurde der Kulturpreis der Deutschen Gesellschaft für Photographie an die Mitbegründer der legendären Berliner Ostkreuz-Schule Ute und Werner Mahler vergeben: „Für die Vermittlung von ostdeutschen und heute gesamtdeutschen Perspektiven, stilprägenden, einzeln und gemeinsam realisierten fotografischen Arbeiten“.

 

„Himmel und Hölle“. Ein Mädchen hopst die Straßen in Berka entlang und stopert. 1978. Foto: Ute und Werner Mahler.

 

In klaren, überraschenden Momentaufnahmen beschreiben sie aus nächster Nähe Wende und Wandel, dokumentieren Rückzug und Resignation. Werner Mahler in einem ZEIT-Interview: „Plötzlich hatten alle diese geschlossenen Tore vor den Häusern. Alles passierte dahinter, in den Familien.“ Ute Mahler: „Ja, es ist diese große Scham, es nicht geschafft zu haben. Und diese Scham sollte auf keinen Fall bemerkt werden. Nach außen versucht man, den Schein zu wahren. Man hörte ja nur von den Wende-Gewinnern. Die waren laut und ließen es jeden mitbekommen. Die anderen zogen sich zurück.“ Die Mahlers halten fest, wie sich Thüringen allmählich in AfD-Land verwandelt. Werner Mahler: „Und dann kommt heute ein Höcke und sagt, ihr habt verloren, weil die etwas falsch gemacht haben, und da er das auch ziemlich gut verpackt, sind einige der Meinung, okay, das ist mein Mann. Der spricht mir aus der Seele.“

 

Das Fotografen-Paar Ute und Werner Mahler. 2023. Foto: Tobias Kruse

 

Die Ausstellung „Ein Dorf“ in der Kunsthalle Erfurt zeigt eindrucksvoll, wie eine geschlossene Welt die Stürme der neuen Zeit erlebt. Mit der Freiheit zur absoluten Entfaltung und der ungebremsten Freiheit zum Scheitern. Die Berkaer selbst sind stolz auf Ausstellung und Bilder aus ihrem Dorf. Ute Mahler erklärt, warum: „Sie fühlen sich wahrgenommen, auch mit Respekt. Sie fühlen, dass sie jetzt Teil eines großen Projekts sind“.

Ausstellung Kunsthalle Erfurt. Bis 26. Mai 2024. „Ute Mahler, Werner Mahler & Ludwig Schirmer. An seltsamen Tagen über Flüsse in die Städte und Dörfer bis ans Ende der Welt“.

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Wer ist Dylan Thomas?

“And you are not Dylan Thomas. I´m not Patti Smith. This ain´t the Chelsea Hotel. We are two idiots”, singt Taylor Swift in ihrem neuen Song The Tortured Poets Department. Eine Hommage an Rockikone Pati Smith, die sich wiederum geehrt fühlt in einem Atemzug mit dem Poeten Dylan Thomas genannt zu werden. Aber wer um alles in der Welt ist Dylan Thomas? Millionen Swifties rätseln und googlen den Namen des Walisers. Hier ein paar Infos für alle, die Geschichten von genial-kreativen Menschen kennenlernen möchten, die sich allzu häufig selbst im Wege stehen. Dylan Thomas, das ist ein weltberühmter Unbekannter. Ein Dichterfürst, der mit 39 Jahren in New York kurz nach der Premiere von „Unter dem Milchwald“ starb. Viel zu früh, nach drei durchzechten Nächten.

 

 

Dylan war ein begnadeter Lyriker des 20. Jahrhunderts, ein gefallener Engel und genialer Trunkenbold, Schürzenjäger und Verseschmied. Zwanzig Jahre feilte er an seinem Hauptwerk Unter dem Milchwald. Dylan erzählt von einem Tag im fiktiven walisischen Fischerdorf Llaregub – vom Morgengrauen bis in die Abenddämmerung. „Anfangen, wo es anfängt: Es ist Frühling, mondlose Nacht in der Kleinen Stadt. Sternlos und bibelschwarz, die Kopfsteinpflasterstraßen still und der geduckte Liebespärchen- und Kaninchenwald humpelt unsichtbar hinab zur schlehen-schwarzen, zähen, schwarzen krähenschwarzen fischerbootschaukelnden See. (…) Die Zeit vergeht. Horch, die Zeit vergeht.“

 

Dylan Thomas. (*27.10.1914- 9.11.1953) Der Dichter wurde nur 39 Jahre alt. Sein Bild hängt noch heute in der New Yorker Kultkneipe White Horse Tavern. Hier feierte Dylan drei Tage lang den Premierenerfolg seiner szenischen Lesung „Milchwald“. Dann verabschiedete er sich von dieser Welt. Das Stück mit über siebzig Personen hat er nie auf der Bühne gesehen.

 

Llarregub bedeutet rückwärts gelesen Bugger all = rein gar nichts. Die Nichtsnutze. An der Dorfkneipe steht: „Drink till late“. Was sollte man auch sonst tun? Ein Frühlingstag begrenzt das Spiel. In einer mondlosen Nacht beginnt alles. Stunden, in denen selbst die Toten sprechen oder die Ertrunkenen. Schon bald melden sich die Einsamen und Liebenden in ihren Betten zu Wort. Es ist nur ein Tag von vielen, dem andere vorausgegangen sind und andere folgen werden. Kneipenwirt Sindbad verzehrt sich liebeskrank nach der spröden Schullehrerin Gossemer Beynon, die auch will, aber sich nicht traut. Briefträger Willy Nilly kann den Empfängern erzählen, was drinsteht, weil seine Frau alle Briefe aufdampft. Beim schnell aufbrausenden Metzger Beynon gibt´s manchmal Katze. Den blinden Käptn Cat besuchen seine ertrunkenen Seeleute. Alle machen mit: von der Hafenhure Rosi Probert bis zum Bachliebenden Organ-Morgan.

 

Wer ist Dylan Thomas? Viel Erfolg beim Googeln. Noch besser: seine Gedichte und seinen großen Wurf „Unter dem Milchwald“ lesen.

 

Originalton Dylan Thomas: „Nur du kannst die Häuser schlafen hören, in den Straßen, in der langsamen, tiefen, salzigen, schweigenden, schwarzen bindenumhüllten Nacht. Nur du kannst in den vorhangblinden Schlafzimmern die Kämme sehen, die Unterröcke über den Stuhllehnen, die Krüge und Becken, die Gläser mit falschen Gebissen, an der Wand das „Du sollst nicht“ und die vergilbenden Bitte-recht-freundlich-Bilder der Toten. Nur du kannst hören und sehen, hinter den Augen der Schläfer: die Fahrten und Länder, Labyrinthe und Farben, Bestürzungen und Regenbogen, Melodien und Wünsche; und Flug und Fall und Verzweiflungen, und die großen Seen ihrer Träume.“

 

Dylan Thomas ist bei uns nahezu unbekannt. Aber er hat weltweit unzählige Fans und mit seinen Versen viele beeinflusst: Bob Dylan hat sich nach ihm benannt. Igor Strawinsky, die Stones und die Beatles lieb(t)en ihn. Die Schauspielerin Catherine Zeta Jones, selbst Waliserin, nennt ihre eigene Produktionsfirma „Milchwald“. Van Morrison und John Cale haben Songs und Suiten nach Thomas-Versen komponiert. Elke Heidenreich, Corinna Harfouch und Wolf Biermann verehren den Waliser.

Nun auch Pop-Lady Taylor Swift. Was würde der weltberühmte und doch unbekannte Waliser wohl sagen? Ach, lassen wir ihn selbst mit seinem Milchwald sprechen:

„Unsere Stadt, die unterm Milchwald ruht/die ist nicht ganz schlecht, und auch nicht ganz gut/Und Du, o Herr, ich weiß, bist der erste/der es für uns leicht macht, und nicht prüft uns aufs schwerste. Oh, lass uns den morgenden Tag noch sehen/ich bitte Dich, lass uns die Nacht überstehen/und wir neigen uns vor deiner Sonnen Pracht/und sagen Lebewohl, aber nur für heute Nacht!“

 

 

Für Dylan Thomas-Fans im Großraum Berlin und alle, die es werden wollen: „Unter dem Milchwald“ im Rahmen von  Theatersommer Netzeband. 21./22./28./29. Juni 2024.

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„Menschen glücklich machen“

„Scheiße, wir steigen auf“, hieß es 2019 auf einem Fan-Banner im Stadion an der Alten Försterei. Fünf Bundesligajahre später nach einem unfassbaren Fußball-Märchen bis ganz nach oben muss der Köpenicker Traditionsverein gerade aufpassen, nicht wieder abzusteigen. Aber bei Union zählt sowieso etwas anderes: Mit dabei sein, dazu gehören. Von der vierten Liga mit Auswärtsspielen gegen Torgelow oder Falkensee-Finkenkrug ging es über Bayern München bis in die Königsklasse gegen Real Madrid in der Champions-League. Die Allerwenigsten hätten Union, dem Underdog aus der Berliner Wuhlheide, diesen Aufstieg zugetraut. Was ist das Erfolgsrezept? Wer sind die Menschen hinter den Kulissen der Ost-Legende? Wer kümmert sich im Maschinenraum um die paar Dutzend Profis und die 64.466 Mitglieder, die den Traditionsverein aus der Wuhlheide zum größten Berliner Sportverein haben werden lassen?

 

 

Annekatrin Hendels Dokumentarfilm „UNION – die Besten aller Tage“ erzählt in gut zwei Kinostunden unaufgeregt eine Erfolgsgeschichte des Ostens. Von der vierten Liga bis in die Königsklasse. Zwei Jahre lang hat die Regisseurin den Club begleitet, von der Wäschefrau bis zum Präsidenten. Ein klassischer Fußballfilm ist es nicht geworden. Vielmehr eine Geschichte über die Balance zwischen Profigeschäft und Bodenhaftung. Über die vielen namenlosen Menschen hinter den Kulissen, die erzählen wie es der Arbeiter- und Traditionsverein immer wieder schafft, „Menschen glücklich zu machen, wenigstens eine Woche lang“, so Präsident Dirk Zingler. Bald wird klar: Das Geheimnis des Erfolges lautet: Teamleistung. Union-Urgestein Christian Arbeit, Stadionsprecher und Stimme des Vereins, verrät das Erfolgsrezept: Zusammenstehen und gemeinsam Dinge anpacken.

 

Nina Hagen singt die Union-Vereins-Hymne. Quelle: Wikipedia

 

Ohne Übertreibung: Union ist eine der wenigen Antworten auf das Auseinanderdriften der Gesellschaft. Zudem ein Club mit legendärer Berliner Schnauze, wo gibt es das im Fußballkommerz noch? Der legendäre „12. Mann“ sind die Fans. Vom Werkzeugschlosser bis zur Ärztin, vom Müllfahrer bis zur Professorin. Sie stehen für Leidenschaft, Gesänge und Choreos. Die legendären Fans („Eisern! – Union!“) haben das Stadion selbst ausgebaut, das Weihnachtssingen aus der Taufe gehoben, für ihren Verein Blut gespendet, sich um Benachteiligte gekümmert. Vor dem Spiel ertönt Nina Hagens Hymne, in Halbzeitpausen werden Namen verstorbener Mitglieder verlesen. Selbst nach schlimmen Niederlagen singen die Fans in der Alten Försterei, als gebe es kein Morgen. Der Fußball-Gott muss seinen treuesten Anhang auf den 18.395 von den Mitgliedern selbst gebauten Stehplätzen haben. Nur viertausend Menschen können im kleinen Stadion bequem sitzen. Gerade hier kann Sport Brücken bauen. Union kann die Mauern zwischen gesellschaftlichen „Blasen“ überspringen. Noch. Und wenn es nur für ein Spiel ist, aber immerhin.

 

Union Berlin. Die Jungs müssen den Ball ins Tor schießen. Aber wer sorgt dafür, dass der Laden läuft? Die Dokumentarfilmerin Annekatrin Hendel hat hinter die Kulissen geschaut und gibt überraschende Antworten. Quelle: Media Office.

 

Annekatrin Hendel: „Ich wollte die Leute im Verein nicht erklären, sondern erleben. Da kann jeder neue Tag der schönste aller Tage sein. Oder auch der Schlimmste.“ Was ist ihr Eindruck vom typischen Innenleben der Unioner: „Woche für Woche Ergebnisdruck, Siege, Niederlagen, Spielglück, Verletzungen. Immer sind alle am Limit – wie fangen die Leute das ab? Die Antwort ist: Zusammenhalt.“

 

Union Berlin lebt den Mythos von Kameradschaft und Zusammenstehen. Diese Tugenden sind wieder gefragt nach dem rasanten Aufstieg bis in die Königsklasse und dem – derzeit noch – drohenden Absturz in die Zweitklassigkeit,

 

In der Männerdomäne Fußball ragen bei Union einige Frauen heraus. Zum Beispiel Susanne Kopplin, von allen nur Susi genannt. Sie ist offiziell Mannschaftsleiterin. Eine Allrounderin, die „gute Fee“, die einzige Frau im zwölfköpfigen Profi-Trainer- und Funktionsteam. Die mittlerweile 61-jährige ist die Mutter der Kompanie, das „berühmte Mädchen für alles“. Gelernt hat sie Elektromontiererin für Fernsehelektronik, nach der Wende sattelte sie auf Bau- und Möbeltischlerin um. Seit 2016 ist die Ur-Berlinerin Zeugwärtin und Teammanagerin bei Union. Sie liest den Profis jeden Wunsch von den Lippen, schleppt Kisten, platziert die passenden Trikots in der Kabine, dirigiert den Busfahrer, kümmert sich um verlorene Seelen, tröstet in den bitteren Minuten der Niederlage. Bis in den Schlaf verfolgt Susi die Sorge, es könne etwas schief gehen. Susanne Kopplin gehört wie Präsident Zingler oder Stadionsprecher Christian Arbeit zu den Säulen von Union. Alle drei können keine Tore schießen, das müssen die Profis schon selbst leisten. Aber was wären die Kicker ohne die stillen Helden im Hintergrund? „Ohne Susi keine Bundesliga!“

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Zauber der Kunst

Die Karten gehen weg wie warme Semmeln. Die verwöhnte Kunstszene der Hauptstadt hat dieses Jahr einen echten Hingucker. Caspar David Friedrich. Seit Mitte April stürmt eine riesige Besucherschar „Unendliche Landschaften„, die Ausstellung über den pommerschen Kauz zu seinem 250. Geburtstag. Achtung Romantik! So viel Aufmerksamkeit für einen  Einzelgänger überrascht. Für einen, der am liebsten Kanarienvögel und Neurosen züchtete. Ein Frömmler, fernab vom etablierten Kunstbetrieb seiner Zeit. Zu Lebzeiten reichte das Einkommen gerade für Farbe und Leinwand. An der Dresdner Akademie wurde seine Bewerbung als Dozent 1820 abgelehnt. Begründung: er sei zu altmodisch. Jetzt pilgern Kunstfans aus aller Welt zu dem rothaarigen Mann, der zu Lebzeiten verarmt und vergessen und jetzt geehrt und gefeiert wird. In der Berliner Alten Nationalgalerie ist im Rahmen der großen Geburtstagsfeiern eines seiner kühnsten Bilder zu sehen. Der Mönch am Meer.

 

Der Mönch am Meer. 1810. Goethe war entsetzt.

Für Autor Florian Illies ist der Mönch der „Urknall der Romantik“, weil das Werk tiefe Gefühle auslöse. „Hier wird etwas ausgedrückt, was auch unserer Sinnsuche, was unserer Sehnsucht nach Geborgenheit, was unserer tiefen Sehnsucht nach Trost entspricht.“ Keine Frage: Romantik tut der Seele gut. In Zeiten, in denen die höchsten Ausgaben für Militär getätigt werden, der Hunger als Massenphänomen zurückgekehrt ist – und die Hoffnung schwindet, dass die Regierenden der Welt außer der Logik des Krieges noch kreative Kraft aufbieten könnten, die Dinge wieder ins Lot zu bringen.

Der einsame Mönch von 1810. Caspar David Friedrich quälte sich damit, übermalte es vielfach. Das Bild wurde immer dunkler. In dieser Zeit hatte der gebürtige Greifswalder seine Schwester und den Vater verloren. Goethe war entsetzt, als er Friedrich in seinem Dresdner Atelier besuchte.  Der Mönch sei viel zu schwermütig, mache den Betrachter depressiv. Florian Illies nennt den sturen Sonderling in seinem Buch Zauber der Stille einen Superstar der Romantik. Friedrich sei jedoch weder Nationalheiliger noch Heile-Welt-Maler, vielmehr ein Pionier des Naturschutzes.

 

Der Kreidefelsen auf Rügen. 1818. Das Bild malte er lange nach seiner Hochzeitsreise mit Caroline später in Dresden.

 

Weltberühmte Motive wie Der Kreidefelsen auf Rügen oder Auf dem Segler malte Friedrich 1818 nach seiner Hochzeitsreise mit Caroline Bommer. Die erste Frau, die der menschenscheue Kauz im Alter von vierundvierzig Jahren küsste. Vierzig Jahre malte der Landschaftsmaler in Dresden. Erfolglos. Von Ruhm keine Spur. „Meine Bilder sind leider in Verschiss“, notierte er in sein Tagebuch. Nach einem Schlaganfall malte er ein letztes, düsteres Bild: Meeresufer bei Mondschein. Nach seinem Tod 1840 wurde er rasch vergessen.

 

Wanderer über dem Nebelmeer. Die berühmte Rückenansicht. Die Hamburger Schau – Auftakt zum Caspar-David-Friedrich-Jahr – machte dieses Bild zu ihrem Motiv.

 

Erst im 20. Jahrhundert wird er wiederentdeckt. Der Maler, der Natur ein- und Kunst ausgeatmet hat, so Illies. Wir können ihn jetzt in der Berliner Alten Nationalgalerie auf der Museumsinsel erleben, später in Dresden und Greifwald. 2025 in New York. Kümmern Sie sich um Tickets. Sie werden im Museum sehr viele Rücken sehen, bis sie zum Meister der Rückenansicht vorstoßen. Friedrich malte die Menschen von hinten, weil Gesichter nicht seine Sache waren. Caspar David Friedrich hatte Probleme mit der Physiognomie. Geschickt verwandelte er seine handwerkliche Schwäche in ein Konzept und in eine überraschende Einladung: Jeder und Jede kann in seine Bilder eintreten und mit den Augen der Porträtierten ungestört in die Ferne schweifen. Mehr Sehnsucht geht nicht.

 

So sah er sich selbst. Caspar David Friedrich. Geboren am 5. September 1774 in Greifswald, stirbt am 7. Mai 1840 Dresden.

 

Caspar David Friedrich. Unendliche Landschaften. Alte Nationalgalerie. Bis 4. August 2024

Caspar David Friedrich. Wo alles begann. Albertinum Dresden, 24. August 2024 bis 5. Januar 2025

Caspar David Friedrich. The Soul of Nature. Metropolitan Museums in New York. Ab 8. Februar 2025 bis 11. Mai 2025

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Hunger auf Leben

Neunzig … und kein bisschen leise. Das ist Jean Ziegler. Sein Motto: „Empört Euch, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.“ Der große alte Mann aus Thun ist ein wahres Schweizer Gesamtkunstwerk. Bürgerschreck. Kämpfer gegen den Hunger. Soziologe und Publizist, dreißigfacher Buchautor, millionenfach verkauft und gelesen. Streitbar wie umstritten. Unermüdlich im Kampf gegen Hunger und Armut. Er sagt: Die Weltlandwirtschaft könnte problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren. Momentan leben rund acht Milliarden auf unserem Planeten. „Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet.“

Seine Schweizer Botschaft:  Hunger ist unerträglich. Ein lebenslanger Aufreger: Alle fünf Sekunden verhungere ein Kind unter zehn Jahren, wettert er, während fast alle anderen Menschen wegsehen. „Der Massenmord auf einem Planeten, der von Reichtum überquillt, ist der absolute Skandal unserer Zeit.“ Ziegler, langjähriger UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung attackiert, provoziert und nervt bis heute. Als Wanderprediger gegen Kapitalismus, Globalisierung und Rendite-Gier, gegen die Gleichgültigkeit der EU, gegen Machtinteressen von USA und gegen das System-Putin („Ein Massenmörder“). Dieses eidgenössische „Enfant Teribble“ hat weltweit viele Freunde und genauso treue Feinde. Ziegler unverdrossen: „Was wir jetzt brauchen, ist ein Aufstand des Gewissens, der Staaten zwingt, die nötigen Reformen durchzusetzen.“

 

Hans alias Jean Ziegler. *19.04.1934 in Thun. Schweizer Sohn eines Gerichtspräsidenten. Groß geworden in der Schweiz, der „Schatzkammer der Reichen“, „einem Land gewordenen Tresor“ (Süddeutsche Zeitung) Unermüdlicher Streiter gegen Armut, Hunger und Ungerechtigkeit.  Foto: Wikipedia

 

Wer ist dieser Mann, der mit seiner Frau – „Meine absolute Leidenschaft, eine beinharte Trotzkistin und Professorin für mittelalterliche Kunstgeschichte“ –im kleinen Winzerdorf Russin lebt und dort den weiten Blick hat: Auf den Mont Blanc und die noch höheren Problemberge dieser Welt. 1934 als Sohn eines calvinistischen Gerichtspräsidenten geboren, war sein Leben vorgezeichnet. „Mein Leben erschien mir wie ein Betongefängnis: studieren, Notar in Thun werden, heiraten, sterben. Eine Horrorvorstellung.“ Als Gymnasiast erlebte er eine «dramatische Pubertät», eine «Revolte mit unglaublicher Heftigkeit». Ein Schlüsselerlebnis prägte ihn. Er sah, wie Verdingkinder, Kinder armer Bauern auf dem heimischen Thuner Marktplatz an Wohlhabende „verscherbelt“ wurden. Wie Sklaven. Manche Kinder wurden als Zugochsen auf dem Feld eingesetzt. Ziegler: «Wenn mir Armut begegnete, war ich fassungslos.»

 

„Verdingkinder“ in der Schweiz.

 

Der junge Ziegler wollte nur noch von zu Hause weg, um am besten gleich die ganze Welt zu retten. Er ging nach Paris. Dort lernte er Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre kennen. Sie redigierte seine ersten Artikel und änderte im Pariser Café de Flore seinen braven Vornamen Hans („Wie langweilig!“) in Jean. In den 60ern chauffierte  Soziologe und Publizist Ziegler den berühmten Revolutionär Che Guevara zwölf Tage durch Genf. Abends schauten sie von der Terrasse auf die glitzernde Genfer Bucht. Der argentinisch-kubanische Freiheitskämpfer Che: „Siehst Du diese Stadt? Hier ist das Gehirn des Monsters. Hier bist Du geboren – hier musst du kämpfen.“ Ziegler folgte ihm nicht, sonst wäre er sicher längst tot. Er entschied sich für „den Weg der subversiven Integration“, wie er es ausdrückt,  „in die Institution eintreten und deren Kraft benutzen, um die eigenen Überzeugungen durchzusetzen.“

 

 

Sein subversiver Integrationsmarsch führte Ziegler bis in höchste UNO-Ämter. Er schaffte es zum obersten Armutsbekämpfer der Vereinten Nationen. Er musste erleben, wie zugleich mächtig-ohnmächtig eine solche Aufgabe Menschen werden lässt. Die Amerikaner wollten ihn absetzen, weil er Landbauern in Guatemala zu sehr aufgewiegelt habe. „Der ist Kommunist, der muss weg.“ UN-Generalsekretär Kofi Annan hielt zu ihm. Im Laufe der Jahre legte sich der unbequeme Schweizer in Reden, Handeln und in seinen Büchern mit Banken, Konzernen und Lobbyisten an. Ziegler wurde mehrfach wegen Ehrverletzung, Beleidigung, Ruf- und Kreditschädigung verklagt. Viele Prozesse kosteten ihn Millionen für Anwälte, Gerichte und Personenschutz. Nichts konnte ihn aufhalten.

 

Jean Ziegler liebt Mercedes Sosa. Sólo le pido a Dios. „Nur das Eine erbitte ich von Gott, dass das Leiden mich nicht gleichgültig lasse.“

 

Kaum zu glauben: Am 19. April 2024 feiert Jean Ziegler seinen neunzigsten Geburtstag. Hat sich sein lebenslanger Kampf gelohnt? Ist die Welt eine bessere geworden? Hungert niemand mehr? Die aktuellen Zahlen sind deprimierend, aber statt großer Reden legt Ziegler lieber auf drei Dinge Wert: Schuldenerlass für arme Staaten. Ende der Spekulation mit Nahrungsmitteln. Reform der UN und Abschaffung des Vetorechts. Das wären erste, wichtige Schritte. Ziegler: „Müssen wir verzweifeln? Nein, Was uns von den Opfern trennt, ist der Zufall des Ortes unserer Geburt. Hunger ist menschengemacht. Er kann morgen beseitigt werden.“ Letzte Frage: Wie lange will er eigentlich noch gegen Armut und Not streiten? Da bemüht er lächelnd seinen Haus- und Hofphilosophen, den Schriftsteller Victor Hugo: «Ich will lebend sterben.“

Wer mehr über Jean Ziegler erfahren will: Wie kommt der Hunger in die Welt? (2024)

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Soljanka für alle

Man nehme: Jagdwurst geschnitten. Ketchup. Gewürzgurken mit Brühe. Paprikaschoten Farbe egal. Zwiebel oder Schalotten. Passierte Tomaten. Wasser nach Bedarf. Salz und Pfeffer. Paprikapulver. Ausreichend Würfel Gemüsebrühe. Etwas Zucker. Saure Sahne. Zubereitungszeit eine gute Stunde. Für rund 250 Portionen bedarf es vieler helfenden Hände. So gelingt der ostdeutsche Klassiker, deutlich feiner als vor der Wende. Keineswegs jedermanns Sache. In heutigen fleischarmen Zeiten eher verschmäht. Aber: Es ist ein nahrhaftes Hauptgericht. Preiswert, schnell und lecker. Soljanka – das Festmahl zum 33. Geburtstag der Suppenküche Pankow, der größten Armenküche der Hauptstadt. Der Wunsch von Ehrengast Wolfgang Thierse, einst Bundestagspräsident. Die Soljanka wird in einem Kloster in Pankow serviert, kurz vor der früheren Mauer. Sitz der Franziskaner. Die Wollankstraße: Eine gute Adresse.

 

„Arm zu überleben ist eine Kunst. Wir helfen den Künstlern.“ Motto der Suppenküche Pankow. Quelle: Franziskaner

 

„Hast Du nicht etwas zu essen für uns?“ Das wurde Schwester Monika Anfang der neunziger Jahre gefragt. Sie war gerade aus dem Thüringer Eichsfeld in das frisch vereinte Berlin gezogen. Sie wollte helfen. So fing sie bei den Franziskanern im kleinen Kloster an der Wollankstraße an, für Menschen in Not eine warme Mahlzeit zu kochen. Guten Appetit! Die neue kostenlose Anlaufstelle sprach sich in Windeseile herum. Bis zu fünfhundert Menschen verharrten zur Mittagszeit im Hof der Franziskaner in langen Schlangen: Bei Wind, Wetter und Kälte. Der Sozialismus hatte seine Kinder in die neue Freiheit des Kapitalismus entlassen. Viele, zu viele kamen mit dem ruckartigen Wandel nicht klar. Der Andrang zur Armenspeisung nahm von Woche zu Woche zu. Das Motto der Suppenküche: „Arm überleben ist eine Kunst. Wir helfen den Künstlern.“

 

Täglich, außer Montags Suppe für alle. Quelle: Franziskaner

 

Dieses Willkommen gilt bis heute. Jeden Tag. Punkt 12.45 Uhr. Wenn die Glocke läutet, startet die Essensausgabe. Seit nunmehr dreiunddreißig Jahren. Eine warme Suppe für die Ärmsten der Armen. Bis zu 150.000 Portionen pro Jahr. Umsonst. Niemand wird nach einem Sozialausweis gefragt. Ein Segenswunsch gehört zur Tradition. In der Schlange wartet beispielsweise Alex: „1990 wurde mir die Arbeit genommen, weil eben diese Scheiß-Einheit kam. Die Suppenküche ist meine zweite Heimat.“ Sein Nachbar mit Schiebermütze pflichtet bei: „Pech gehabt. Arbeit verloren. Krank geworden. Frau gestorben. Nun bin ich allein. Zuhause kochen lohnt sich nicht für mich. Ja. Das Essen hier ist wunderbar.“ Zurzeit kommen täglich über zweihundert Menschen. Ihre Gründe: Wohnungskündigung, Firmenpleite und Obdachlosigkeit. Scheidung, Schulden oder karge Altersrente. Alkohol, Krankheit und Depression. In der Suppenküche wird niemand nach dem Warum gefragt.

 

Suppenküche Pankow. Seit 2004 mit neuem Anbau. Quelle: Franziskaner

 

Die Suppenküche erhält keinen einzigen Cent Steuer-oder Kirchengelder. Die Franziskaner wollen unabhängig bleiben. Das kleine Wunder ist gelungen. Rein auf Spendenbasis finanzieren sie Essensausgabe, Kleiderkammer und sozial-medizinische Versorgung. Franziskaner-Bruder Rudolf: „Ich habe selbst zehn Jahre in einer Obdachlosen-Siedlung gewohnt, im Ruhrgebiet. ich habe 25 Jahre bei psychisch Kranken in Psychiatrien gearbeitet. Das heißt: Wir Franziskaner sind gerne bei den Menschen am Rand.“ Die Suppenküche wird zu hundert Prozent aus Spenden finanziert. Das große Glück der Franziskaner: Ihnen wird weiter geholfen. Trotz Krieg, Krise und Inflation. Freiwillig, mit Geldspenden oder Kleidung. Über 150 Ehrenamtliche gehören zum Team. Ukrainische Frauen helfen in der Küche. Nicht wenige Ehren- und einige der Hauptamtlichen sind selbst ehemalige Notleidende.

 

Ein Beitrag im heute journal vom 22.12.2022

Was kann ich tun? Bernd Backhaus, Leiter der Suppenküche antwortet: „Wer kann, möge spenden. Jeder Euro zählt“. Und die anderen? „Ach“, ergänzt der baumlange Chef, „es reicht schon, die vielen Obdachlosen wahrzunehmen, anzuschauen. Nicht wegsehen. Wie wäre es mit einem Lächeln?“ Das sei ein erster Schritt. Wer mehr unternehmen möchte, könne  jederzeit ehrenamtlich mitmachen. Suppenküchen-Gründerin Monika gehört nicht mehr zum Team. Doch die Pionierin bleibt aktiv: „Ist doch klar. Ich kümmere mich jetzt um Frauen in Not. Schwangere, Alleinerziehende, Wohnungslose. Da habe ich mehr als genug zu tun. Ich komme kaum hinterher.“ Letzte Frage: Kann die Armenspeisung in Pankow eines Tages überflüssig werden? Zwei ältere Stammgäste mit Einkaufsporsche schütteln den Kopf: „Das werden wir nicht mehr erleben. Höchstens da oben im Himmel. Dort, wo das Paradies sein soll.“

Suppenküche Pankow. Wollankstraße 18. 13187 Berlin. Tel. 030/488 396 60. Geöffnet von Dienstag bis Sonntag, jeweils von 9:00 bis 11:30 und von 12:45 bis 14:30 Uhr.
Die Suppenküche hat auch an Feiertagen geöffnet, außer Ostermontag und Pfingstmontag.

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Jule

Wenn ich meine Augen schließe, um zu träumen, schwebe ich eine alte Chausseestraße mit alten, knorrigen Bäumen entlang. Irgendwann hinter der letzten Abbiegung treffe ich auf einer Wiese am Wald Familie und Freunde. Alle packen aus, was sie mitgebracht haben. Ein paar Köstlichkeiten, Käse, Trauben, ein Stück Brot zum Teilen, guten Wein. Dann packt eine junge Frau ihre Gitarre aus, stimmt kurz die Saiten, lächelt in die Runde. Sie konzentriert sich. Die Gitarristin beginnt zu spielen. Ihre Stimme setzt ein. Die Plaudereien verstummen. Gemeinsam träumt die Runde von Glück und Gemeinschaft. Mein Vater gab mir mit: Freunde und Musik. Das sind die beiden Dinge, auf die es im Leben ankommt.

 

Wenn Gitarre, dann Jule Malischke. Foto: www.julemalischke.de

 

Jule Malischke bringt Menschen zum Träumen. Der Gitarristin gelingt das Kunststück mit ihrer Musik zu verzaubern. Ihre Lieder sind ab den ersten Riffs aufregender als jeder kuschelige Lagerfeuer-Sound. Die Sing-a-Songwriterin beherrscht eine wunderbare Mischung aus Überraschung, Leichtigkeit und Tiefgang. Ihre folkigen Arrangements erinnern an Joni Mitchell. Kein Wunder, mit „A Case of You“ covert sie bravourös einen der berühmten Songs der großen, alten Dame des Folk-Jazz. Wie eine Möwe schwebt Jule mit ihrem neuen Album „Seagull“ eine dreiviertel Stunde lang über Alleen, Wiesen, Wälder, Flüsse und Seen. Sie vertreibt Einsamkeit, Trübsal und tristen Alltagsblues.

 

 

Jule Malischke stammt aus dem kleinen Dorf Söhnstetten bei Heidenheim in Baden-Württemberg. Ihre Mutter brachte ihr als musizierende Erzieherin erste Lieder bei. Die Musikerlaufbahn zog sie einer möglichen Tenniskarriere vor. Keine schlechte Idee. Ihren Gitarren gibt Jule Namen. Sie legt Wert auf einfühlsame, kluge Texte, widmet ihren neuen Titelsong „He waited“ dem älteren Paar Richard and Colleen, das nach langer Trennung wieder zusammenfindet. Wie oft im Leben verpasst man den richtigen Zeitpunkt?

 

 

Ihr großes Talent zeigt sie bei einer Coverversion ihres Lieblingskomponisten Ralph Towner. In „If“ zieht Jule alle Register. Egal, ob Konzert-, Klassik-, Bariton- oder Jazzgitarre, sie teilt ihr Können nicht nur auf der Bühne. Seit einigen Jahren unterrichtet sie an der Musikhochschule Carl Maria von Weber in Dresden. Der britische Gitarrenvirtuose Clive Carroll schreibt begeistert: „The future of acoustic guitar is safe in the hands of a player like Jule Malischke. She has great technique, but this never overshadows the quality of the songwriting.”

 

 

Lust auf eine Reise in neue musikalische Regionen? Auf geht´s, einsteigen bei Jule Malischke. Ihr neues Album Seagull erscheint am 5. April 2024.

Bei uns in Berlin ist Jule Malischke am 13. Juni 2024 im Künstlerhof “Spätsünder” in Charlottenburg live zu erleben.

Ich wünsche allen: Frohe und Friedvolle Ostern. Mit Freunden und guter Musik.

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Leipziger Allerlei

Regen peitscht aufs Kopfsteinpflaster. Ein einsamer Pianist trotzt der Nässe. Er intoniert Evergreens vor der Leipziger Nikolaikirche. Dort, wo 1989 die friedliche DDR-Revolution ihren Ausgang nahm. Wenige Passanten eilen vorbei. Es ist Buchmesse, die Stadt gerade leergefegt. Spiel´s noch einmal, Sam. Das Lied trägt mich weiter. Dabei ist Leipzig die ganzen Tage über voll. Rund 300.000 Buchfreaks oder Cos-Player in Manga-Kostümen bevölkern Messehallen. Abends stürmen Heerscharen abertausende Veranstaltungen in der Innenstadt. Von queerer Literatur in Sachsen bis zur probiotischen Quarkherstellung ist alles dabei. Die Veranstalter kloppen bei ihrer Bilanz in die Marketingtasten. „Besucherplus. Das Buch wird gefeiert. Ein Fest der Demokratie.“ Tatsächlich feiert Leipzig nach vier verunglückten Pandemiejahren ein Comeback. Erfreulich: Es gibt immer noch genügend Menschen, die schreiben und noch viel mehr Publikum, das zuhört.

Der Trend? Die längsten Schlangen finden sich an Ständen, die New Romance oder New Adult feilbieten. Ganz einfache Geschichten von der Suche nach dem Märchenprinzen. Das sind die diesjährigen Renner. Titel wie Infinity Falling, Save me, save you, save us gehen bei der jungen weiblichen Zielgruppe weg wie warme Semmeln. Die 28-jährige Sarah Sprinz vom Bodensee verkauft bis zu 750.000 Exemplare pro Herz/Schmerz-Titel. Die Medizinerin Sprinz und ihre Kolleginnen legen großen Wert auf Gendern und Diversität. Keine Gruppe oder Minderheit dürfe sich durch irgendetwas ausgegrenzt oder beleidigt fühlen. Dafür sind bis zu fünf Sensitivity-Readers im Einsatz. Jedes Wort wird gecheckt.

 

Mehr Gefühl im Gewühl der Leipziger Buchmesse. New Adult und New Romance-BookToks sind die Bestseller der Saison. Herz/Schmerz geht immer.

 

In der neuen Romantik-Wohlfühl-Kuschelwelt sind Warnhinweise obligatorisch. Da heißt es vorab: „Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Diese sind: Tod, Verlust, Trauer und Trauerbewältigung, Substanzmissbrauch und Abhängigkeit. Bitte lest dieses Buch nur, wenn ihr euch momentan emotional dazu in der Lage fühlt.“ Zur Sicherheit folgt die Nummer der Telefonseelsorge. So bleibt die reale Welt mit Krieg, Krisen und Klimakatastrophen oder Armut, Not und Elend – draußen vor der Tür. Mehr echtes Gefühl, weniger Müll. Das geht vorzüglich. So verdienen renommierte Verlage mit New-Romance-BookToks ihre Brötchen.

 

Omri Boehm. Der deutsch-israelische Philosoph glaubt an universelle Werte und die Kraft von Freundschaft. Nur so könne „Licht ins Dunkel zwischen Israelis und Palästinenser“ gebracht werden. Foto: Wikipedia

 

Was gibt es für alle diejenigen, die keinen Prinzen oder Prinzessin suchen? Natürlich finden sich zeitlose Helden wie Dr. Kafka (100. Todestag) oder die neuen Lieblinge der Feuilletons wie Barbi Mirkovic („Minihorror“) und Iris Wulff („Lichtungen“). Der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm ist einer der Stars des 2024er Jahrgangs. In Zeiten von Multikrisen und allgemeinem Missvergnügen lockt der Preisträger des Buchpreises zur Europäischen Verständigung die Massen magisch an. Böhm predigt gegen Rückzug, Identitätsblasen und Eskapismus. Sein Zauberwort: Freundschaft. Wie bei Lessings Nathan den Weisen, Immanuel Kant oder Hannah Arendt. Aufklärung und Menschlichkeit sind für ihn der einzige Maßstab, der zählt. Eine Ansage gegen den Zeitgeist, der da heißt: Jeder für sich in seinem Zirkel. Gegen nationale Alleingänge, Säbelrasseln und die Zersplitterung in zahllose Identitäten. Vor allem aber gegen den Hass als Motor der Internet-Gesellschaft.

 

 

Was für ein Traum! Das Vertrauen in das Menschliche wiedergewinnen. Dafür braucht es Kitt, sagt Omri Boehm, der im Turbo-Kapitalismus verloren zu sein scheint: Freundschaft. Plus den Willen zur offenen Kommunikation. Wahre Freundschaft zeige sich eben darin, dass man sich die Wahrheit sagen könne. Ohne Verletzung oder an den Pranger gestellt zu werden und – ohne die Salven unserer aufgedreht-hysterischen Debatten sofort abzufeuern: … „das ist jetzt aber faschistisch/rassistisch/antisemitisch etc.“

Wäre doch ein Ziel? Ach, sagt mir die Manga-Truppe auf der Messetreppe. „Wenn Du Dich als Cos verkleidest, wirst du gleich ein anderer Mensch. Jedenfalls hier in Leipzig.“ Kann es sein, dass sie hinter ihren Masken lächeln?

 

Cosplayer in Leipzig. Sie feiern ihr zehntes Jubiläum auf der Messe. Kleider machen Leute. Auch 2024!

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Wie ein Vulkan

Als Halldor Gudmundsson seine große Island-Geschichte aufschreibt, tobt die Natur. In unmittelbarer Nachbarschaft bricht ein Vulkan unweit von Reykjavik fünfmal aus. Der Himmel verfärbt sich rot, die Erde öffnet sich nordöstlich des Berges Sylingarfell und spukt kilometerweit rotglühende Lava aus. Ein faszinierend-beängstigendes Naturspektakel, während Gudmundsson an seinem Manuskript feilt. So entsteht „Im Schatten des Vulkans“, eine Reise durch die Literatur Islands. Seit Menschengedenken prägt die Kraft der Natur mit Erdbeben, Vulkanausbrüchen und eiskalten Winternächten die kleine, große Wikingerinsel hoch oben im Norden. Der Sylingarfell-Vulkanausbruch der letzten Monate blieb bislang ohne schwerwiegende Folgen – zum Glück.

 

 

Island ist die größte Vulkaninsel der Welt. Regelmäßig brodelt und explodiert die Erde. Gudmundsson notiert: Naturgewalten prägen Menschen. Existenzkämpfe und „die raue Schönheit beeinflusst unsere Literatur“ grundlegend. Abenteuerlust, Überlebenskampf und unerklärliche Naturphänomene liefern reichlich Stoff für Sagen, Märchen und Legenden. So liegt für ihn der Schluss nahe, dass die Isländer zu den besten Geschichtenerzählern der Welt zählen.

Bereits im 13. Jahrhundert sprudelten in Island Saga-Geschichten und Edda-Lieder wie explodierende Geysire. Zu dieser Zeit produzierte  das kleine Land insgesamt elftausend Seiten erzählende Prosa. Vom skandinavischen Nachbarn Schweden sind sieben Seiten, aus Dänemark keine einzige Zeile überliefert. Die Isländer sind Pioniere der Sprache. Die Wikinger-Nachfahren lieben das Wort und vor allem: eine gute Geschichte.

 

Der Autor im Schatten des Vulkans. Halldor Gudmundsson hat mir versichert, dass die Aufnahme fünfzig Meter von seinem Haus in Reykjavik entfernt entstanden und 100% echt sei. Alle weiteren Fragen bitte direkt an Halldor Gundmundsson.

 

Gudmundsson führt in seinem Buch elegant durch acht Jahrhunderte einzigartige Literaturgeschichte. Er erzählt von Heldenmut und Hungersnöten, von Wal- und Fischfang und vom ersten Nobelpreisträger seines Landes Halldor Laxness. Gudmundsson hat ihm eine wichtige Biografie gewidmet. Der 68-jährige Schriftsteller Gudmundsson übersieht nicht isländischen Größenwahn wie beim Finanzcrash 2007/08. Er beschreibt, wie sich die gebeutelte Insel als Tourismus-Hotspot erholt, wie das einst abgeschottete Eiland in den letzten Jahren Migration und damit neue Impulse für die Literatur erlebt. Die Menschen in Island sind bekannt für ihre Kreativität und Weltoffenheit. Die Vulkaninsel hat weltweit eine riesige Fangemeinde.

 

 

Im Schatten des Vulkans. Erscheint am 20. März 2024

 

Halldor Gudmundsson erzählt, warum es in Island-Krimis mehr Morde in Fjorden als im wirklichen Leben gibt. Zur Erinnerung: Island hat so viele Einwohner wie Bielefeld. Allein Bestsellerautor Arnaldur Indriason hat mit seinem kauzig-schusseligen Polizisten Erlendur mehr als 18 Millionen Krimis verkauft. Auch wenn in Island mittlerweile weniger gelesen wird: Die Literatur lebt, nun als E-Book. Der Streaming-Dienst Storytel zählt über fünfzigtausend Abonnenten, bei 300.000 Einwohnern. Fast jedes dritte Buch erreicht die Leserschaft über den Kopfhörer. „Dank Podcasts sind wir wieder bei der mündlichen Überlieferung gelandet“, schmunzelt Gudmundsson, „von Ohr zu Ohr, wie es einst für die klassische Literatur so wichtig war.“ Geschichten werden heute weitergegeben wie im 13. Jahrhundert, als in Island alles anfing. Im Vulkan-Reich der Wikinger, Sagas, Edda-Lieder, Elfen und Trolle.

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Hinterm Zaun

Der siebzehnjährige Yaser aus Afghanistan schafft es aus seiner Heimat über den Iran in die Türkei. Beim elften Versuch gelingt ihm die gefährliche Mittelmeer-Passage nach Griechenland. Der Junge, ein echter Filmfreak und Quentin Tarantino-Fan, landet auf Lesbos. Seine neue Heimat: Moria, 2020 das größte Flüchtlingslager der EU. Ausgelegt für dreitausend Menschen. Bis zu 22.000 Bewohner kampieren auf einem ehemaligen Militärgelände in glühender Sonne, umzäunt von Maschendraht. Der junge Afghane will Regisseur werden. Er hat Glück und ergattert einen Platz an der Filmschule im Lager. Das „ReFOCUS MediaLab“ wird von dem US-Dozenten Douglas und seiner Lebenspartnerin Sonia aus Polen geleitet. In dieser Filmschule lernt die Schauspielerin Katja Riemann unter anderem Yaser kennen.

Sechzehn Jahre lang war Riemann UNICEF-Botschafterin. Von 2020 bis 2023 bereiste sie nun Flüchtlingscamps wie Moria und Lipa (Bosnien-Herzegowina) oder Hotspots in Calais und in der spanischen Afrika-Enklave Ceuta. Orte, an denen niemand freiwillig ist. Schauplätze, die fast nur negativ in den News sind. Warum? Riemann: „Flüchtlinge sind zu allen Zeiten lästig“.

Katja Riemann. Bekannte Schauspielerin und „Reporterin“ im Auftrag der Menschlichkeit. Neues Buch: Zeit der Zäune. Orte der Flucht“.

 

Als „Reporterin ohne festen Auftrag“ erlebt die prominente Schauspielerin im Camp von Moria anrührende Gastfreundschaft. Sie wird im „Dschungel“ von mittelosen Familien mit Tee und Ashak bewirtet. Ashak sind mit Porree gefüllte Teigtaschen, dazu Bohnen und Minzsauce. „Wir wurden beschenkt von Menschen, die alles verloren hatten. Scham und Ohnmacht reichten sich die Hand.“ Sie lernt eine junge Frau aus Afghanistan kennen, die fließend Englisch spricht und ausgebildete Bankerin ist. Humor sei die stärkste Waffe, schreibt Riemann in ihrem neuen Buch „Zeit der Zäune“, nur so könne das Elend ertragen werden. Die Zeit in Lagern ist ein Leben im Interim, ein Hoffen und Bangen, der Wunsch nach Zukunft. Dieser Wartezustand interessiert Riemann. Über Hundert Millionen Menschen sind derzeit (UNHCR von 2022) auf der Flucht. So viele wie noch nie.

140 Millionen Euro hat die EU für neue Zäune in der spanischen Enklave Ceuta ausgegeben, so Riemann. Insgesamt drei Stacheldrahtverhaue wurden errichtet. „Todesstreifen“ mit eingebauten Push-Back-Türen. Die EU-Außengrenze sehe aus wie ein Hochsicherheitstrakt. „Humanitäre Arbeit ist ganz konkret“, betont die Schauspielerin. Oder doch eher kriminell? Helfen ist gefährlich. Unterstützer werden bedroht, schikaniert und kriminalisiert. Riemann: „Ich glaube, man sucht sich den schwächeren Feind. Es ist einfacher Volontäre, die Seenotrettung machen, oder Humanitäre, die Distribution für Flüchtende leisten, zusammenzuscheißen, vor Gericht zu ziehen und mit Hass zu überziehen.“

 

 

Griechenland beispielsweise klagt Aktivisten und Helfer wie Staatsfeinde an: Die Vorwürfe: „Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Unterstützung von Menschenhandel, Beihilfe zur illegalen Einreise, Geldwäsche, Urkundenfälschung, illegale Nutzung von Funkfrequenzen, Spionage“. Bis zu zwanzig Jahre Haft drohen. Auch die Filmleute Douglas und Sonia bekommen den Druck zu spüren. Erst brennt ihre ReFocus-Filmschule für Studierende aus zwölf Nationen in Moria nieder, dann wird Douglas des Landes verwiesen. Sein „Exil“ hat der US-Amerikaner mittlerweile mit Sonia in Warschau bezogen. Dort erteilen die beiden weiter Online-Kurse für Geflüchtete.

 

 

Das 445-Seiten-Buch von Katja Riemann ist eine echte Überraschung. Sie sieht dort hin, wo die meisten wegschauen. Sie wagt einen vorurteilsfreien Blick hinter Zäune, die in unserem Namen errichtet werden. Sie spricht mit Beteiligten statt über sie. Vielen Namenlosen gibt sie eine Stimme. So findet Riemann den passenden Ton in einer Zeit, in der Europa sich massiv abschottet und Wutbürger lautstark eine viel härtere Gangart fordern. Ihre Reportage in die Hinterhöfe Europas ist keine Verklärung des Flüchtlingsdramas. Nüchtern stellt Katja Riemann fest: „Die Anzahl der Arschgeigen ist in jeder Gruppe gleich groß, auch unter Humanitären.“

Katja Riemann. Zeit der Zäune. Orte der Flucht. S. Fischer Verlag. 2024.