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Der alte Mann und die neue Literatur

Es ist kalt. Die Straßen sind voller Schnee, Eis und Matsch. Kein Mensch treibt sich freiwillig herum. Besuch bei einem alten Herrn. Ein Büchermensch alten Schlages, der sein Leben lang an die Wirkung des Wortes geglaubt hat. Sein Name: Achim Roscher. Gründungsmitglied eines kleinen Literaturmagazins über das der Mantel des Vergessens geworfen wurde. Das ist schade. Denn die „Neue Deutsche Literatur“ – abgekürzt NDL – hat viel zu erzählen.

Es wird  in seiner kleinen Neubauwohnung am Rande Berlins ein lehrreicher Winternachmittag. Der gebürtige Sachse ist ein kluger Erzähler, voller Anekdoten und Geschichten. Ein lebendes Lexikon. Der 83-jährige berichtet aus über fünf Jahrzehnten deutsch-deutscher Literaturgeschichte.

Es geht um die ganz Großen, die Gescheiterten und die schönen Beine der Sekretärin, die den jungen Marcel Reich-Ranicki fast um den Verstand gebracht hätte. Reich-Ranicki lobte Ende der fünfziger Jahre die „Formgestaltung der modernen Möbel“, die ihm in der engen Redaktionsstube unterm Dach der Französischen Straße in Ost-Berlin ungewöhnlich reizvolle Einblicke verschaffte.

 

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Ein Stück vergessene Literaturgeschichte. Hier eine Ausgabe aus dem Jahre 1966. Mit Autoren wie Walter Ulbricht und Martin Walser.

In der NDL schrieben ein knappes halbes Jahrhundert lang Autoren von Rang und Namen. Die ganz Großen und die Unbekannten. Nobelpreisträger und Debütanten. Einzige Bedingung: Die Texte mussten neu sein. Unveröffentlichte Prosa, Essays und Gedichte erblickten in der Monatszeitschrift das Licht der Welt. „Kein Heft, worin nicht irgend etwas Lehrreiches, Reizvolles, zum Nachdenken Anregendes sich mir dargeboten hätte.“ So wohlwollend urteilte Thomas Mann im April 1955.

Zentralbild-TBD/Sturm-Wittig 15.5.1955 Schillerehrung vom 8.-15. Mai 1955 in Weimar 14. Mai 1955 Beim Festakt im Deutschen Nationaltheater in Weimar hielt Thomas Mann die Festansprache. Der Dichter wurde Ehrenmitglied der Akademie der Künste. Minister Dr. h.c. Johannes R. Becher überreichte Thomas Mann die Ehrenurkunde. UBz: Die Anwesenden, besonders seine Tochter, gratulieren Thomas Mann zu der Würde eines Ehrenmitglieds der Akademie der Künste. [links hinter Th. Mann: Viktor Klemperer]

Nobelpreisträger Thomas Mann (Mitte) am 14. Mai 1955 in Weimar. Kurz vor seinem Tode besuchte er die DDR.

Achim Roscher berichtet von aufgeregten Debatten, Eitelkeit und zäher Zensur. Natürlich habe die Literatur in der DDR stets unter staatlicher Gängelung gelitten. Aber die Freiheit des eigenen Gedankens habe sich immer wieder „zwischen den Zeilen“ durchsetzen können. Im »Real­sozialis­mus« wie später auch im »Realkapitalismus« sei viel abverlangt worden. Ja, es waren enge Grenzen, gibt er zu, an manchen scheiterten Autoren und Redaktion. Stets mit besten Absichten, betont er.

Prominente Autoren veröffentlichten ausgesprochen gerne. Bert Brecht, Christa Wolf oder Günter Grass und Martin Walser. So entwickelte sich das Heft zu einem stillen aber genauen Kompass deutscher Trennungs- und Vereinigungsgeschichten. Nach 554 Ausgaben wurde das Blatt Anfang 2004 eingestellt. Aus finanziellen Gründen. Die Auflage war dramatisch gesunken. Achim Roscher hat dieses vergessene Stück neuer deutscher Literatur akribisch und kenntnisreich wieder wachgeküsst.

 

In einem Nachruf hieß es:

„Die von der Wand genommene Uhr

hinterläßt

im Raum eine Lücke

obwohl

die Zeit als solche geht weiter.“

 

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Nach 554 Ausgaben war Schluss. Auflagenschwund. Zu wenige Leser, entschied Verleger Bernd Lunkewitz.

Irgendwann sitzen wir in seinem Arbeitszimmer in völliger Dunkelheit. Ich sehe Achim Roscher nicht mehr. Er erscheint mir nur noch als schemenhafte Gestalt wie aus einer anderen Welt. Roscher schaltet kein Licht ein, redet einfach weiter. Aber kommt es am Ende nicht doch viel mehr aufs Zuhören an?

 

Hier das Buch: Achim Roscher. In den Heften und zwischen den Zeilen. Edition Schwarzdruck 2015.

Ach, Europa

Ach, das sind dreißigstellige Kontonummern und kleinkarierte Gurken-Verordnungen. Ein bürokratisches Monster, überreguliert und handlungsunfähig. Ein Riese, dem die Kräfte schwinden. Für Vordenker Hans Magnus Enzensberger steht schon länger fest: Das „Brüssel-Europa“ wird am Eigensinn der Nationen scheitern. Behält er am Ende Recht? Zerbricht das EU-Europa an Gleichgültigkeit oder gar an Gewalt?

Längst ist der alte Kontinent im Dauer-Krisenmodus. Die Briten stimmen in diesem Jahr über einen möglichen EU-Austritt ab. Ungarn und Polen überbieten sich an nationalen Aufwallungen und schotten sich weiter ab. Im Süden stöhnen Italiener und Spanier über Schulden und Wirtschaftskrise, kämpfen Griechen trotz drei milliardenschwerer Rettungspakete ums Überleben. Im Norden schließen die Dänen Grenzen und wollen immer mehr Finnen den Euro abschaffen. Und alle – von Helsinki bis Lampedusa stöhnen über Flüchtlinge. Aufnehmen soll sie – wenn überhaupt – nur der Nachbar.

Droht ein böses Erwachen? Schreitet Geschichte nicht mehr in mühsamen aber unumkehrbaren Schritten voran – einer besseren Zukunft entgegen? Scheitert das Projekt der Vereinigten Staaten von Europa an Vorurteilen und nationalen Egoismen? Ist der alles entscheidende Wille zu Ausgleich und Kompromiss verloren gegangen? Folgt man den vielen Kassandra-Rufern in Politik und Medien, könnte man es fast glauben.

 

Gegen Apathie und geistigen Durchfall hilft ein kurzer Blick in alte Texte, die plötzlich brennend aktuell werden. Erich Kästner schrieb über den I. Weltkrieg vor hundert Jahren: „Der Tod setzte den Helm auf. Der Krieg griff zur Fackel. Die apokalyptischen Reiter holten ihre Pferde aus dem Stall. Und das Schicksal trat mit dem Stiefel in den Ameisenhaufen Europa.“ Kästner und viele andere träumten auf den Schlachtfeldern den Traum eines geeinten und friedlichen Europas. Erst nach dem II. Weltkrieg wurde dieser Wunsch Wirklichkeit. Und heute?

 

Es gibt einiges zu tun in diesem neuen Jahr.

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Die Türme von China

Eine kühne Vision. Atemberaubend. Schwindel erregend. Zwischen verstopften Magistralen und endlosen Platten-Burgen ragt die Zentrale des chinesischen Staatsfernsehens CCTV in den Himmel über Peking. Ein Bauwerk, das alle Dimensionen sprengt und Besucher zum Staunen bringt. „Sitzende Hose“ nennen die Chinesen das gigantische Gebäude. Eines von vielen Beispielen moderner Hochhausarchitektur, die in China wie Pilze aus dem Boden schießen.

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CCTV-Tower in Peking. Das Wahrzeichen des chinesischen Staatsfernsehens. Architekten: Rem Kohlhaas und Ole Scheeren.

2002 erhielten der Niederländer Rem Koolhaas und sein deutscher Partner Ole Scheeren den faszinierenden wie heiklen Auftrag. Sie entwarfen für die boomende Hauptstadt Peking ein gigantisches Medienzentrum, das alles in den Schatten stellt. Ein Bau für die Propagandazentrale des zentral gelenkten Fernsehens, das als Wahrzeichen für den Fortschritt des Landes verstanden werden soll.

Das Ganze ist in eine Form des Hochhauses gepackt, die noch nie ausprobiert wurde. Alles ist schräg, kippt über die Kanten, taumelnde Türme. Es gab keine Vorbilder. Niemand zuvor hatte so etwas Komplexes geplant. Alle Produktionsstätten, die Studios, die Werkstätten, die Technik, die gesamte Verwaltung – alles unter einem Dach. Eines der größten Gebäude der Welt, ein Turm von Babylon des 21. Jahrhunderts. Der winkelförmige Querriegel ist so lang wie eine ganze Berliner Häuserzeile.

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„Galaxy Soho“ in Peking. Entwurf von Zaha Hadid, irakisch-britische Architektin.

Das CCTV-Hauptquartier des Staatsfernsehens ist ein öffentlich zugängliches Haus mit Restaurants, einsehbaren Studios und ein Medienmuseum. Ganz oben im 76. Stockwerk, eine Überraschung. Nicht die übliche Chefetage, sondern der größte öffentliche Platz, der je in einem Hochhaus errichtet wurde. Die Botschaft: Die obere Etage gehört allen. Statt der Büros der Direktoren, ein Glasloch, das in den Abgrund schauen lässt.

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Höher, größer, weiter. Neubauten in China. Bei unserer Aufnahme war der Himmel über Peking blau. Eine seltene Aufnahme im Winter.

China will an die Spitze, um jeden Preis. Größer, höher, mächtiger als je zuvor. Hochhäuser sind Monumente dieses neuen Selbstbewusstseins. Der CCTV-Tower des Staats-Fernsehens hatte Vorbildfunktion. Viele weitere beeindruckende Bauten sind in kürzester Zeit entstanden. Ob der Mut auch reicht, einen klaren Blick auf das Alltagschina mit Korruption, Schulden und neuer Armut zu werfen, ist eine andere Frage. An vielen Tagen im Jahr sind die gigantischen Kathedralen der Moderne nur noch schemenhaft zu erkennen. Sie versinken schlicht und einfach im Smog. Da hilft auch keine Klimaanlage mehr.

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Engel auf dem Dach

Das Leben besteht aus vielen kleinen und großen Schritten. Manchmal stolpern wir, manchmal kommen wir sogar zur Ruhe. Bis es uns wieder weitertreibt. In diesem Sinne: FROHE WEIHNACHTEN. Erholsame Feiertage und einen langen Atem für das Neue Jahr 2016. Wer in den nächsten Tagen Langeweile hat, dem kann geholfen werden. Bilder der Ausnahme-Fotografin Gundula Schulze Eldowy sind in einer Leipziger Ausstellung zu empfehlen.

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Foto: Gundula Schulze Eldowy.

Gundula Schulze Eldowy ist so eine Art Diane Airbus des Ostens. In ihren Bildern hat die gebürtige Thüringerin Freaks und Außenseiter des verschwundenen Deutschlands porträtiert:  Trinker und Eckensteher, Ausgegrenzte und Verstummte. Menschen, die es nach offizieller Lesart in der DDR nicht gegeben hat. Gundula Schulze Eldowy zeigt „Menschen auf außergewöhnlich intime Weise, mit einer Offenheit, die kein Tabu und keine falsche Scham kennt“, heißt es.

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Foto: Gundula Schulze Eldowy.

Die Porträts und Bilder der heute 61-jährigen Wahl-Berlinerin  sind eine Entdeckung. Zu sehen sind sie im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig. „Zuhause ist ein fernes Land. Fotografien von Gundula Schulze Eldowy“ bis 14. August 2016.

Ewige Jugend

Was ist, wenn der tägliche Tropfen zum Höhepunkt wird? Nicht der gute Tropfen, den man trinkt sondern der quälende den man lässt? Was, wenn man nicht mehr weiß, ob mit der großen Jugendliebe mehr als Händchenhalten war? Ach, wie hieß sie noch einmal? Zwei alte Freunde hängen ihren Erinnerungen nach. Ewige Jugend heißt ein stiller, melancholischer Film, der die letzten großen Sehnsuchts-Fragen aufwirft.

Zwei alte Knaben, gespielt von Michael Caine und Harvey Keitel stecken in einem biederen Schweizer Berghotel fest. Der Zauberberg lässt grüßen. Ein goldener Käfig voller Narren und skurriler Gäste. Über Geld reden die Insassen nicht, das hat man einfach und gibt es im Luxusresort gleich wieder aus. Massagen, Geigenstunden und Kletterübungen bestimmen den Tagesablauf. Das abendliche Dinner im Speisesaal wird schweigend eingenommen während sich Tischnachbarn gegenseitig belauern.

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Das Berghotel Schatzalp in Davos, früher ein Lungensanatorium. Es soll Thomas Mann als Vorlage für den Zauberberg gedient haben.

 

Die modernen Zauberberg-Bewohner eint der Wunsch nach Erfüllung ihrer Sehnsüchte. Im Mittelpunkt stehen zwei alte Freunde: Ein Dirigent im Ruhestand und ein Drehbuchautor, der nicht loslassen kann. Sie reden über Lust, Liebe und die Kunst des Wasserlassens. Das kann nicht lange gut gehen, zumal Jane Fonda als ewige Diva ihren großen Auftritt hinlegt und alles in Bewegung bringt.

Regisseur Paolo Sorrentino hält wieder einmal dem Bildungsbürgertum den Spiegel vor. In berührend schönen wie verstörenden Bildern erweckt er eine Welt, die zeitlos morbide und faszinierend zugleich ist. So gelingt ihm eine Tragikomödie zum Gruseln – es ist das Gruseln über die eigene spießige Begrenztheit. Ewige Jugend hat gerade den Europäischen Filmpreis 2015 gewonnen. Gut so. Denn Sorrentinos Geschichte ist ein bitterböser Abgesang auf das alte Europa. Traumhaft schön inszeniert! Trotz Überlänge keine Minute zu lang.

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Eine Stadt am Limit

„Berlin – eine Erfolgsgeschichte so verkündet es eine funkelnagelneue Werbebroschüre des Berliner Senats. Auf dem Titel ist das Brandenburger Tor zu sehen und im Inhalt leuchten die Superlative. Berlin ist hip, top und voller Aufschwung, heißt es. Die deutsche Hauptstadt sei „attraktiv“ und „lebenswert“. Berlin habe „alles, was man braucht“. Ein „gut vernetzter“ Treffpunkt, „für alle da“, er „biete Chancen“ und zeuge selbstredend „von Weltrang“.

Natürlich fehlt der Flughafen, auf den die Stadt seit über 1290 Tagen wartet. Keine Rede ist vom Chaos am weltweit bekannten neuen Checkpoint LaGeSo. Keine Silbe ist zu finden über Bürgerämter, die für einfachste Dinge wie einen Pass verlängern Monate brauchen. So ist das eben in einer wachsenden Boom-Stadt. Mehr als einhunderttausend Neubürger zählt Berlin in diesem Jahr. Pioniere, Hipster, Glücksucher,  Flüchtlinge, Gestrandete. Es sind Gründerzeiten. Glanz und Elend wohnen dicht an dicht. Die einen im Dachgeschoss, andere parterre links, zweiter Hinterhof. Wie vor über hundert Jahren.

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Nachdenken über Häuser, Straßen, Plätze. Genauer hinschauen auf Menschen, Moden, Macken, Trends. Karl Scheffler wagte sich mit 51 Jahren an die große Hass-Liebe Berlin.

 

Berlin sei „dazu verdammt: immerfort zu werden und niemals zu sein“. Dieses Bekenntnis meißelte 1910 der Architekturkritiker Karl Scheffler in den Berliner Gründerstein. Er verfluchte Berlin als ein Stadtschicksal. Der Text liest sich als wandere er noch heute durch Straßen und über Plätze, als hätten drei Systeme, zwei Kriege, Mauern und Marschparaden nie stattgefunden. Scheffler sieht in Berlin eine ewige Kolonialstadt für Abenteurer, Flüchtlinge und Glücksritter. Scheffler: „Freiwillig wählte diese Stadt nicht leicht Jemand zu dauerndem Aufenthalt, der im Mutterland sein Auskommen finden konnte.“

Und die Bewohner? Scheffler, der Beobachter notiert: „Die Berliner sind ein verwegenes Geschlecht, wie Goethe sagte, sind nüchtern, praktisch, materiell und schwer einzuschüchtern; die neue Stadtbevölkerung, die die statistischen Ziffern ruckhaft in die Höhe schnellen machte, ist jung, rücksichtslos und unternehmend. Es fehlt das Pathos, das falsche, aber auch das echte, und damit fehlt die Fähigkeit, sich schön dazustellen.“

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Kudamm. Ecke Uhlandstraße. Der alte Westen leuchtet. Alles eine Frage des Lichts.

Florian Illies ist mit der Entdeckung von Karl Schefflers DNA-Analyse über Berlin wieder ein echter Wurf gelungen. Die Geschichte einer faszinierenden Zeitreise. Erzählt am Beispiel  einer wendischen Fischersiedlung, die zur mächtigen Millionenstadt emporschoss, „voller Hässlichkeit“ und Großmäuligkeit, verloren „im endlosen Ostland“ manchmal ganz deftig kleinkariert. Das Büchlein „Berlin ein Stadtschicksal“ ist knallrot umrahmt und passt unter jeden Weihnachtsbaum.

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Ein Brief an Freund Hitler

Die Adresse lautet. An „Herr Hitler, Berlin, Germany“. Am 23. Juli 1939, knapp sechs Wochen vor Ausbruch des II. Weltkrieges setzt sich ein Mann im fernen Indien an seine Schreibmaschine. „Lieber Freund“, beginnt er freundlich, er müsse diese Botschaft jetzt schicken, die Zeit sei reif. Ein Krieg müsse unbedingt verhindert werden. Der Absender? Mahatma Gandhi.

Wörtlich schreibt der vielgepriesene gewaltlose Verfechter der indischen Unabhängigkeitsbewegung und bekennende Pazifist:

„Lieber Freund.

Bekannte haben mich gedrängt, Sie im Namen der Menschlichkeit anzuschreiben. Lange bin ich dieser Bitte nicht nachgekommen, weil ich glaubte, ein Brief von mir könnte als anmaßend empfunden werden.

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Gandhis Brief vom 23. Juli 1939 an Adolf Hitler.

Offenbar sind Sie unter allen Menschen allein in der Lage, einen Krieg zu verhindern, der die Menschheit in den Zustand der Barbarei zurückwerfen würde. Müssen Sie unbedingt diesen Preis für Ihr Ziel bezahlen, und wenn es Ihnen noch so erstrebenswert erscheint? Wollen Sie nicht auf einen Menschen hören, der nicht ohne beachtlichen Erfolg die Methode des Krieges immer abgelehnt hat? Sollte ich mich in Ihnen getäuscht haben, bitte ich Sie um Verzeihung für dieses Schreiben.“

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Im Dezember 1940 schrieb Gandhi einen zweiten Brief an Hitler. Auch dieser wurde von der britischen Regierung abgefangen.

 

Aus heutiger Sicht mutet das Schreiben vom Juli 1939 mehr als naiv an, wie ein grotesker Irrtum der Weltgeschichte. Gandhi, die berühmte Ikone der Gewaltlosigkeit, im  unterwürfigen Ton und dem Versuch den deutschen Diktator von einem Krieg abzuhalten. Gandhi täuschte sich gewaltig. Und „Freund“ Hitler musste auf seine Versuche nicht antworten. Der Brief hatte ihn nie erreicht. Er wurde vorher abgefangen – von der indischen Regierung im Auftrag Londons.

 

Veröffentlicht wurde der Gandhi-Brief in dem deutschsprachigen Sammelband: „Letters of Note – Briefe, die die Welt bedeuten“. Herausgeber Shaun Usher hat 125 ungewöhnliche Briefwechsel der Weltgeschichte veröffentlicht.

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Helden der Straße

„Haste mal paar Groschen?!“ Arme, Bettler, Betrunkene, Junkies, Obdachlose, Illegale und Flüchtlinge werden sichtbar. Auf Bahnhöfen, in Fußgängerzonen, vor Supermärkten. Sozial Bedürftige in Konkurrenz. In den Städten und besonders in Berlin sind sie überall zu sehen. Menschen mit gescheiterten Biografien und tragischen Lebensläufen. Sie öffnen in Banken die Türen, putzen an roten Ampeln Windschutzscheiben, musizieren in Bahnen, verkaufen Straßenzeitungen, sitzen an Straßenkreuzungen. Sie knien auf schmutzigem Asphalt, flehen Vorbeiziehende an.

 

Ihr Arbeitsgerät: ein Pappbecher. Mal ein traurig-bittender Mitleids-Blick. Mal zerschlissene Kleidung. Manchmal ein Hund. Das steigert die Spenden-Bereitschaft. Diese Bürgersteig-Desperados sind Botschafter der Armut. Sichtbar, überall, nervend. Der Passant zieht den Kopf ein, beschleunigt den Schritt. Mit schlechtem Gewissen und dem Gefühl, es werden immer mehr. Gedanken brennen sich ein: Ich kann doch nicht die ganze Welt retten! Und: Gibt es kein Ende? Oder: Wird es nicht mehr besser?

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Uwe P. Er ist 61 Jahre alt. Sein Markenzeichen: die Pfeife. „Sie darf nicht ausgehen.“

 

„95% der Obdachlosen sind an ihrem Schicksal selbst schuld.“ Das sagt Uwe. Der Mann mit dem Rauschebart sitzt vor einer S-Bahnstation, solange Tageslicht ist. Er ist jetzt 61 Jahre alt. Hat alles hinter und nur wenig noch vor sich. Jobverlust, Spielsucht, Scheidung, Alkohol, Einsamkeit, Schulden, Obdachlosigkeit. Jetzt lebt Uwe von 430 Euro Grundsicherung. Den Rest zum Überleben erbettelt er sich. „Wenn es kalt ist, geben die Leute mehr. Besonders Frauen.“ Uwe zieht an seiner Pfeife. Der gelernte Landwirt hat Probleme mit dem Herzen. Es flattert. „Meine Pumpe will nicht mehr so“.

 

Was sich in letzter Zeit geändert habe, will ich wissen. „Die Zeiten sind härter geworden. Seit kurzem fragen mich die Leute, ob ich Deutscher bin, bevor sie etwas geben. Das ist neu.“ Uwe hat noch eine winzige Wohnung. Die will er nicht verlieren. „Heute schimpfen alle auf Merkel. Sie muss weg. Ich will den Bayern. Den Horst (Seehofer).“ Mit den Pegida-Leuten will er nichts zu tun haben. Da seien zu viele Braune dabei. Er hebt seine Stimme: „Damit eines klar ist: Ich bin Deutscher, kein Faschist.“

 

Eine Frau steckt ihm ein Schokoladen-Croissant zu. Sie lächelt Uwe kurz an. „Sollst auch was Süßes mal haben. In diesen harten Zeiten.“ Uwe streicht sich durch den Bart. Schnurrt zufrieden zurück. Sie eilt weiter. Manchmal gibt es Momente, die das Leben noch lebenswert machen. Tja, sagt sein Blick. So sieht es aus, mein Leben. Das können sich die meisten überhaupt nicht vorstellen. „Tapfer bleiben. Haltung bewahren“, sagt Uwe noch. Willkommen ganz unten!

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Ein Fest fürs Leben

Den Kragen hochgeschlagen, die Schritte beschleunigt. Wer ist derjenige, der mir gerade entgegenkommt? Ein Blick. Ein Zögern. Dieses Misstrauen. Wann ist es wieder verschwunden? Wo führt die Reise hin? Trotzig steckt sich ein Passant seine Zigarette an. Ein Mopedfahrer knattert die enge Straße entlang. In der Ferne ertönt eine Polizeisirene. Es beginnt zu regnen.

Alle, die in den letzten Tagen in Paris waren, berichten von kleinen, unmerklichen Nuancen. Von einem Gefühl der verlorenen Unschuld, obwohl der Verstand nicht müde wird, das Denken in Richtung Stolz und Unerschütterlichkeit zu lenken. Ernest Hemingway war in seinem Leben zweimal für längere Zeit in Paris. Als es keine Selbstmordattentäter, Terrorkommandos oder Drohnen gab. Er schilderte eine große, fremde Stadt zwischen Lebensgier und Melancholie.

1956 kehrte der US-Schriftsteller für einige Zeit an die Seine zurück. Aus dem Keller des Hotels Ritz ließ er sich alte Koffer voller Notizen, Tagebücher und Aufzeichnungen bringen. Sein persönliches Hab und Gut aus den Zwanzigern. Er wühlte in den Papieren, setzte sich in die Cafés, beobachtete das Leben, und begann zu schreiben. Daraus wurde eine hinreißende Liebeserklärung an die französische Hauptstadt. Eine kleine Kostprobe:

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Robert Doisneau. La ballata di Pierrette d’Orient, 1953

 

EIN GUTES CAFÉ AN DER PLACE SAINT-MICHEL

 

„Dann begann das schlechte Wetter. Es kam eines Tages, als der Herbst vorbei war. Nachts musstest du wegen des Regens die Fenster geschlossen halten, und der kalte Wind streifte das Laub von den Bäumen auf der Place Contrescarpe. Die Blätter lagen durchnässt im Regen, und der Wind trieb den Regen gegen den großen grünen Autobus an der Endstation, und das Café des Amateurs war überfüllt, und drinnen beschlugen die Fenster von Wärme und Rauch.

Es war ein trauriges, schlechtgeführtes Café, Sammelplatz der Trinker des Viertels, und da es dort nach schmutzigen Leibern und den säuerlichen Ausdünstungen der Trunkenheit roch, hielt ich mich fern davon. Die Männer und Frauen, die regelmäßig ins Amateurs kamen, waren immer betrunken, oder jedenfalls immer, wenn sie es sich leisten konnten; hauptsächlich von Wein, den sie halbliter- oder literweise kauften. Viele Aperitifs mit seltsamen Namen wurden angepriesen, aber die konnten sich nur wenige Leute leisten, höchstens als Fundament, auf das sie ihren Weinrausch bauten. Die Trinkerinnen nannte man Poivrottes, was so viel wie weibliche Schnapsnasen bedeutet. (…)

EH 7314P Ernest Hemingway, Paris, March 1928. Photograph by Helen Pierce Breaker, in the Ernest Hemingway Photograph Collection, John F. Kennedy Presidential Library and Museum, Boston.

Der junge Ernest Hemingway in Paris. März 1928. Kennedy Presidential Library and Museum, Boston.

 

Ich ging am Lycée Henri Quatre und der alten Kirche Saint-Étienne-du-Mont vorbei, überquerte die windgepeitschte Place du Panthéon, bog schutzsuchend nach rechts ein, gelangte schließlich auf die Leeseite des Boulevard Saint-Michel und kämpfte mich dort weiter voran, vorbei am Cluny und dem Boulevard Saint-Germain, bis ich an der Place Saint-Michel ein gutes Café erreichte, das ich kannte.

Es war ein angenehmes Café, warm und sauber und freundlich, und ich hängte meinen alten Regenmantel zum Trocknen an die Garderobe, legte meinen abgewetzten verwitterten Filzhut auf die Ablage über der Bank und bestellte einen café au lait. Der Kellner brachte ihn, und ich nahm ein Notizbuch aus der Manteltasche und einen Bleistift und begann zu schreiben. Ich schrieb über die Gegend oben in Michigan, und da der Tag wild und kalt und stürmisch war, war auch in der Geschichte so ein Tag. Das Ende des Herbstes hatte ich bereits als Kind, Jugendlicher und junger Mann kommen sehen, und an einem Ort konnte man besser darüber schreiben als an einem anderen.

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Robert Doisneau. Eine Frau in den dreißiger Jahren.

 

Sich verpflanzen nennt man das, dachte ich, und das kann bei Menschen genauso notwendig sein wie bei anderen wachsenden Dingen. Doch in der Geschichte tranken die Jungen, und davon bekam ich Durst, und so bestellte ich mir einen Rum St. James. Der schmeckte herrlich an diesem kalten Tag, und ich schrieb weiter, fühlte mich prächtig und spürte, wie der gute Rum aus Martinique meinen Körper und Geist durchwärmte.“

 

 

Mehr bei Ernest Hemingway. Paris – ein Fest fürs Leben. Rowohlt. 2014.

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„Sprechen Sie mal lauter!“

Natürlich hatte ich Herzklopfen. Was frage ich wann und wie? Womit beginne ich? Was, wenn er mir sein Missfallen im berühmt-berüchtigten Oberlehrerton kurz und knapp überbrät? Mich korrigiert, zurechtstutzt, in Einzelteile zerlegt. Der Feldwebel, der Macher, kurzum der Mann mit der gefürchteten Schmidt-Schnauze. Schon zu Lebzeiten eine Legende. Helmut Schmidt. Bundeskanzler, Welterklärer, Bach-Liebhaber und leidenschaftlicher Raucher.

Als Schmidt im noblen Hotel Vierjahreszeiten an der Hamburger Binnenalster zum Interview im Rollstuhl vorgefahren wurde, zogen die feinen Hotelgäste den Hut, raunten, blieben ehrfürchtig stehen, grüßten. Einige verneigten sich wie vor einem leibhaftigen König. Das Personal hatte an jeder möglichen Ecke überdimensionale Steh-Aschenbecher postiert, obwohl im 5-Sterne-Hotel allen Sterblichen die Ausübung des Nikotinlasters streng untersagt ist. Allein im Interviewraum waren zwei Groß-Aschenbecher platziert worden.

Der Hamburger Genosse und die feine Hanseatenaristokratie. Hier passten die beiden Welten vortrefflich zusammen. Geld und Gewissen. Mir imponierte an Schmidt vor allem ein einfacher aber bestechender Kerngedanke. „Der Sozialstaat ist die größte Errungenschaft des 20. Jahrhunderts.“ Unsere Generation hat vom gezähmten Kapitalismus profitiert wie keine andere zuvor und möglicherweise danach. Auch wenn ich mich gerne an der Schmidtschen Weltsicht gerieben habe, war er für mich glasklar ein politischer Leitstern.

Die Tatsache, dass ich den Zuschlag für ein längeres Interview zum Thema Verantwortung in der Politik erhalten hatte, machte mich nicht nur aufgeregt sondern auch ungemein stolz. Mehr geht nicht. Natürlich wollte ich cool und abgeklärt auftreten, sicher und souverän wirken. Also plauderte ich los. Helmut Schmidt hob den Kopf, nachdem er seine Zigarette angezündet hatte und sagte als erstes: „Tun Sie mir einen Gefallen, junger Mann. Sprechen Sie lauter!!!“

 

Was sich nach dieser Ermahnung im Sommer 2010 entwickelte sehen Sie hier.