Fliegende Teppiche

Die Fabrik am Stadtrand von Maknes mitten in Marokko wirkt unscheinbar. Halle und Hof sind von großer Ordnung und ungewöhnlicher Sauberkeit. Der Bus kippt seine Fracht Touristen aus. Zügig strömen die Senioren zum Eingang, betreten eine Art Teppichwerkstatt. Frauen sitzen an Webstühlen und knüpfen Knoten. Bis zu dreitausend am Tag, heißt es.

Die Gruppe wartet verlegen im Vorführraum. Plötzlich öffnen sich zwei Schwingtüren und ein gegelter Marokkaner stürmt in die Mitte. Der Mittvierziger stellt sich als Aladin vor, „meine Wunderlampe zeige ich Ihnen später“. So eröffnet der Ölprinz sein Programm in bestem Marketingdeutsch und erklärt ungefragt: „Ich bin nicht, was Sie denken. Ich bin kein Teppichverkäufer. Wir sind Teppichhersteller. Hier gibt es kein Kaufzwang!“

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„Unsere Engel“. Das sagt Aladin über die Knüpferinnen im Teppich-Kollektiv von Maknes.

Die Gruppe atmet erleichtert auf. Diese Firma sei etwas Neues, eine Art Kollektiv, führt der Mann in edlem Outfit fort. Alle Standards der WHO würden eingehalten. Mindestlohn. Sozialversicherung. Krankengeld. „Wir geben arbeitslosen Frauen Arbeit. Lohn. Brot. Hoffnung. Zukunft.“ Die Touristen staunen beeindruckt. Die marokkanische Frauen verstehen nichts, lächeln hilflos in Handys, die blitzen. „Das alles haben wir unserem König zu verdanken“, ergänzt Saladin und verweist auf das große Porträt, das im Empfangsraum an prominenter Stelle hängt.

Flugs wird die Gruppe in den nächsten Präsentationsraum weitergeleitet. Dort gibt es Tee und junge Männer, die auf Anweisung Aladins Kelims, Berber und Teppiche aller Art in atemberaubender Geschwindigkeit ausrollen. Der Verkäufer, der keiner sein will, gerät in Hochform. Er zeigt kleine Tricks, wie Teppiche auf Echtheit überprüft werden können und deutet an, jedes Stück sei zu einem Vorzugspreis frei Haus nach Deutschland lieferbar.

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„Der Kunde ist König.“ Aladin, der Teppich-Experte kniet vor seinen Kunden. Kurz danach fällt das böse Wort – alles nur Show!

Plötzlich verfinstert sich Aladins Wunderlampe. Aus dem gesetzten Publikum war leise ein Satz zu hören, der besagt, das sei doch nur die übliche Show. Aladin wird rot, seine Stimme explodiert: „Das ist hier keine Show! Wir zeigen Tradition und marokkanische Kultur. Unsere Kultur! In fünf Minuten ist die Veranstaltung zu Ende.“

Die Gruppe schweigt betreten. Aladin tritt ab. Seine Mitarbeiter stürzen sich auf die Touristen. Trotz des Eklats scheinen die Geschäfte mit kurzer Verzögerung in Gang zu kommen. Mindestens fünf der dreißig Besucher erwerben einen Teppich. Der Besuch hat sich gelohnt. „Unsere Teppiche haben eben Qualität“, lächelt einer von Aladins Verkäufern.

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König Mohammed VI ist überall. Gütig wacht er im Vorführraum über die Teppichgeschäfte seines Landes.

 

Der König, der so viel kann

Die islamische Welt ist in Aufruhr. Überall fließt Blut. Überall Aufstände, Attentate, Bürgerkriege, Hinrichtungen, Massenmorde. Einfach unvorstellbare Gewalt im Namen Allahs. Es gibt derzeit nur wenige friedliche Inseln. Marokko ist so ein Hoffnungsträger. Zwischen Casablanca und Marrakesch, zwischen Tanger und Sahara scheint das Zusammenleben von Orient und Okzident zu funktionieren. Von westlicher Lebensweise und islamischer Gottesgläubigkeit. Woran liegt´s?

„Das liegt an unserem klugen König“, antwortet spontan Hamed, ein Reiseleiter, dem es dank der zahlreichen deutschen Touristen gut geht. „Der König sorgt für Brot, Lohn, Arbeit, Hoffnung und Zukunft“, sagt Teppichverkäufer Aladin aus Maknes. „Der König modernisiert das Land und alle haben etwas davon“, sagt der Teehändler in Casablanca. „Schauen Sie, wir haben eine hochmoderne Straßenbahn. Gerade ein Jahr alt. Wir verdanken das dem König.“

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Ein glücklicher Bürger Marokkos. Der Mann verkauft auf dem Gauklermarkt in Marrakesch gebrauchte Gebisse und sich selbst. Das Foto kostet 20 Dirham, das sind zwei Euro.

Dieser König muss ein wahrer Supermann sein. Er heißt Mohammed VI, ist 51 Jahre alt, verfügt über zwei Kinder und 17 Königspaläste, hat in Frankreich studiert und ist im Volk offenbar sehr beliebt. Mohammed VI eröffnet permanent Kindergärten und Schulen, baut Brücken, Flughäfen und moderne Kulturpaläste. Er hängt in jeder Amtsstube und hinter jeder Hotelrezeption. Der König ist überall.

Reiseleiter Hamed, ein zurückgekehrtes Gastarbeiterkind aus Frankfurt am Main ist überzeugt, der arabische Frühling sei in Marokko völlig überflüssig gewesen. Denn das Land lebe längst eine moderne Demokratie. Minderheiten würden akzeptiert. Muslime, Christen und Juden könnten friedlich und unbeschwert miteinander klarkommen. Es wird in seiner Reiseleiter-Welt klar, dass in seiner Heimat Marokko nur Milch und Honig fließen.

 

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Der Orient in Abendstimmung. Die Sahara bei Erfoud im Süden Marokkos. Eine Touristenattraktion mit Jeeps, Kamelen und weiblichen Rallye-Fahrerinnen.

 

Natürlich trügt dieses Bild. Auch in Marokko gab es Proteste, mit insgesamt neun Toten, so offizielle Quellen. Aber das Land blieb stabil. Es produzierte keine neuen Generationen von Fanatikern und Heilsbringern, ausgestattet mit dem Koran, Kalaschnikows und Bombengürteln. „Die Armut muss bekämpft werden. In den Slums entsteht der Terror“, erklärt Hamed und rückt seine Sonnenbrille zurecht. „Und der König kümmert sich bei uns um die Habenichtse“, schiebt er lächelnd nach.

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Auf nach Marrakesch! Das islamische Marokko ist ein friedlicher Gegenentwurf zu Syrien, Jemen, Libyen, Somalia, Irak, Afghanistan, Mali, Nigeria, Kenia…

 

Ein König für die Armen! Ein orientalisches Märchen? Hamed glaubt fest daran, dass es genau so und nicht anders ist.

Wo bitte geht´s zum Paradies?

Vielleicht kennen Sie die Carnegie-Hall in New York? Ein Konzertsaal der Extraklasse. Gestiftet vor über 130 Jahren von einem Mann, der viel Geld hatte und noch mehr Bereitschaft, sein Vermögen mit anderen zu teilen. Der Spender hieß Andrew Carnegie. Ein gebürtiger Schotte aus ärmlichen Verhältnissen. Sohn eines Webers. Er wanderte 1848 in die USA aus und wurde dort zum reichsten Mann seiner Zeit.

Sein Vermögen machte er mit Stahl. Im Raum Pittsburgh betrieb er mehrere hochrentable Werke. Der Eisenbahnbau ließ ihn unvorstellbar reich werden. Im Alter von 64 Jahren setzte sich der Stahl-Tycoon zur Ruhe und veröffentlichte 1889 sein „Evangelium des Reichtums“. Darin forderte er, dass jeder Mensch einen Großteil des Vermögens bereits zu Lebzeiten spenden sollte. Sein Leitsatz: „Wer reich stirbt, stirbt in Schande.“

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Filmheld und reichster Mann seiner Zeit. Andrew Carnegie.

Carnegie gründete Hilfsorganisationen für notleidende Bergbauretter, finanzierte Stiftungen für internationale Friedensarbeit, unterstützte Bibliotheken und soziale Projekte. Seiner schottischen Heimatstadt Dunfermline stiftete er einen Bürgerpark mit Botanischem Garten. Carnegie war der einzige Großunternehmer, der für die American Anti-Imperialist League offen gegen Kolonialkriege eintrat.

Seinem Vermächtnis folgend, haben sich mittlerweile 115 Superreiche in der Initiative „The Giving Pledge“ dazu verpflichtet, mindestens die Hälfte ihres Vermögens an die Allgemeinheit abzugeben. Mit dabei: Bill und Melinda Gates, Warren Buffet und als einziger deutscher Milliardär in diesem exklusiven Spendenverein: der SAP-Mitbegründer Hasso Plattner.

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So sahen US-Karikaturisten Andrew Carnegie 1903.

Ein abschreckendes Beispiel für das, was Reichtum auch anrichten kann, sind die 24 Rockefeller-Erben. Allesamt reiche „Prinzen und Prinzessinnen“ der vierten Generation. Die Multi-Millionäre führen einen verbissenen Kampf um und gegen ihr eigenes Erbe. Jeder klagt gegen jeden. Ein glückliches Leben? Weit gefehlt. Gewinner sind in jedem Fall deren Anwälte. Eigenartig: manche der Rockefellers wirken wie Prinzen und Prinzessinnen, die sich danach sehnen, arm zu sein. Wie Getriebene, die ihren Reichtum verfluchen.

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Deutschland 1945 – Bis zum letzten Atemzug

Mit dem Scheitern der letzten deutschen Großoffensive in den Ardennen im Januar 1945 war der von Deutschland sechs Jahre zuvor begonnene Krieg für alle unwiderruflich verloren. Doch anstatt zu kapitulieren, setzte Hitler den Krieg fort – „bis zum letzten Blutstropfen“. Den Tod von unschuldigen Menschen und die totale Zerstörung des eigenen Landes nahm sein Regime bewusst in Kauf.

Im schwäbischen Brettheim nahe der Kreisstadt Crailsheim wollten Anfang April 1945 Hitlerjungen ihr Dorf gegen die herannahende US-Armee verteidigen. Der Bauer Friedrich Hanselmann entwaffnete die vier Jungs, schickte sie nach Hause und warf die Schießeisen in den Teich. Die Tat wurde verraten und Hanselmann vor das Standgericht gestellt. Als sich NSDAP-Ortsgruppenleiter Wolfmeyer und Ortsbürgermeister Leonhard Gagstetter weigerten das Todesurteil zu unterzeichnen, rastete SS-General Max Simon völlig aus.

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SS-Generalleutnant Max Simon. (1899 – 1961) Herr über Leben und Tod in Brettheim.

Wütend ließ der SS-Mann den Bauern und die beiden Beisitzer wegen „Wehrkraftzersetzung“ an einer Linde aufknüpfen. Tagelang baumelten ihre Leichname am Zugang zum Friedhof von Brettheim. Die SS hatte den Männern Schilder umgehängt. „Ich bin der Verräter Hanselmann“. Und: „Ich habe mich schützend vor den Verräter gestellt.“

Genau eine Woche später, am 17. April 45 befreiten die Amerikaner Brettheim von der Schreckensherrschaft des Herrn SS-Generalleutnants Simon. Da die Brettheimer nicht kapitulierten und keine weißen Fahnen gehisst hatten, wurde in dem kleinen Dorf bis zuletzt erbittert gekämpft. Das Dorf wurde zu drei Viertel zerstört. Weitere achtzehn Einwohner verloren ihr Leben. Bilder vom Vormarsch der 10. US-Panzer-Division im Raum Crailsheim, aufgenommen am 21. April 1945.

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Die drei Männer von Brettheim. Sie wollten das Dorf vor Zerstörung retten. Für ihren Mut bezahlten sie im April 1945 mit ihrem Leben.

 

In drei langwierigen Nachkriegsprozessen wurde ein einziger Schuldiger der Tragödie von Brettheim verurteilt. Alle anderen blieben unbehelligt. Der verantwortliche Kommandeur des XIII. SS-Armeekorps und Gerichtsherr Max Simon indes wurde für diese Tat nie verurteilt. Simon hatte es bei Kriegsende sogar noch fertig gebracht, einen Wehrmachtssoldaten fünf Stunden nach der Kapitulation zum Tode zu verurteilen.Er starb 1961 in Lünen, Nordhrein-Westfalen.

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Durchhalteparolen 1945.

 

Die kleine Ausstellung „Deutschland 1945 – Die letzten Kriegsmonate“ zeigt weitere erschütternde Beispiele vom Untergang des Dritten Reiches, führt vor Augen, wohin Verblendung und Fanatismus führen kann. Die Ausstellung ist noch bis zum 25. Oktober 2015 in Berlin zu sehen.

 

Topographie des Terrors

Niederkirchnerstraße 8

10963 Berlin-Kreuzberg

 

Täglich 10 bis 20 Uhr

Eintritt frei

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Vierzig Jahre Geschwister Braun

Seit vierzig Jahren porträtiert der amerikanische Fotograf Nicholas Nixon jedes Jahr seine Frau Bebe und ihre drei Schwestern. Die Spielregeln für dieses künstlerisch ungewöhnliche Langzeitprojekt sind denkbar einfach: Die vier Frauen kommen zu einem Gruppenbild zusammen, bei dem lediglich die Abfolge ihrer Aufstellung sowie das Negativformat konstant bleiben.

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Sisters Brown. 1984.

 

Vierzig Jahre sind eine biblische Größe. Moses führte in dieser Zeitspanne sein Volk ins Gelobte Land. „Als vierzig Jahre vergangen waren, erschien ihm in der Wüste beim Berg Sinai ein Engel im Feuer eines brennenden Dornbusches.“ So manches Reich blieb genau über diesen Zeitraum am Leben. Der legendäre Gründer Roms, Romulus herrschte vierzig Jahre. So auch Pandion über Athen, ähnlich wie die Regentschaft des Priamos über Troja. Die DDR gab nach genau vierzig Jahren auf, viele andere Regime auf der Welt wie das der Apartheid in Südafrika scheiterten an dieser magischen Marke.

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Sisters Brown. 1999.

Vierzig Jahre sind viel Zeit und doch wie im Fluge vorbei. Das zeigen die Geschwister Braun. Stehend erfasst, manchmal auch als Ganzkörperbild, werden die Schwestern in einem eng begrenzten Bildausschnitt eingefangen. Sie schauen direkt in die Kamera. Über einen Zeitraum von vierzig Jahren hat Nicolas Nixon (*1947) dokumentiert, wie Zeit und Vergänglichkeit die sich immer wieder wandelnden Beziehungen der Schwestern prägen. Zu sehen in der Pinakothek in der Moderne in München.

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Sisters Brown. 2014.

 

 

Nicholas Nixon

THE BROWN SISTERS. 40 JAHRE

20. März bis 5. Juli 2015

PINAKOTHEK DER MODERNE

Barer Str. 40 . 80333 München

Wer hat Angst vor dem Wolf?

Der Wolf ist unterwegs. Er reißt Schafe, Ziegen, Hühner, Damwild, sogar kalbende Kühe. Bauern und Kleintierzüchter sind in heller Aufregung. Binnen weniger Tage schlugen Wölfe in mehreren brandenburgischen Wildtiergehegen zu. Die Jäger wollen den Wolf zur Strecke bringen. Sie setzen auf Schrot und Blei für den Konkurrenten. Die Wolfsmanager hingegen beschwichtigen, regulieren Schäden und legen Zahlen vor.

Im 21. Jahrhundert wurden von 2000 bis zum Februar 2015 im Wolfs-Land Brandenburg insgesamt 126 Attacken von Meister Isegrim amtlich registriert. Für 484 Nutztiere – zumeist Schafe – zahlten die Behörden Entschädigung, so das Wolfsmanagement. Anfang April soll es intensive Gespräche mit Bürgern und Landwirten geben. Denn: die Angst vor dem Wolf geht wieder um.

Manche Wolfshasser greifen mittlerweile zu drastischen Mitteln. In der Nähe von Bautzen liquidierten Unbekannte einen Rüden, sein Körper war von Dutzenden Kugeln durchsiebt. Im Elbe-Elster-Kreis wurde ein Wolf erschossen, skalpiert und der Rumpf am Straßenrand zurückgelassen. Waren die Täter skrupellose Trophäenjäger? Die Polizei ermittelt. Die allermeisten Wölfe jedoch verenden auf Bundesstraßen. Sie werden einfach überfahren.

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Im Sommer 2011 tappte der Wolf in die „Fotofalle“. Der Einzelgänger auf Deutschlands größtem ehemaligen Bombenabwurfplatz „Bombodrom“ zwischen Neuruppin, Rheinsberg und Wittstock, nördlich von Berlin.

 

Zuletzt lebten in Brandenburg nach Angaben des Landesumweltamtes noch etwa 14 Wolfsrudel und einige Einzeltiere, so auf dem Gelände des ehemaligen Bombodrom in der Wittstocker Heide. Die meisten Wölfe kommen im Süden Brandenburgs vor. Wolfsrudel brauchen Reviere bis zu 350 Quadratkilometer, ziehen ruhelos umher durch Wälder, alte Manövergebiete und aufgegebene Militärplätze.

Wölfe sind hervorragende Auf- und Abräumer von kranken Wildbeständen, holen sich aber auch Schafe und räubern gerne in Hühnerställen. Viele Landbewohner sind verunsichert bis verärgert. Seit Menschengedenken bestimmen Angst und Aberglaube unser Verhältnis zum Wolf. „Der Mensch ist des Menschen Wolf“, stellte der Dichter Titus Plautus fest. Das war vor 2.200 Jahren. So viel zur Lernfähigkeit des Menschen im 21. Jahrhundert.

Das Leben des André

Gegen die Zumutungen des Lebens versucht jeder Einzelne, sich auf vielerlei Weise zu wappnen. Mit Mauern, Trutzburgen, Therapeuten, Versicherungen, Rauschgiften oder Religionen aller Art. Oder man nimmt das Leben wie es ist. So wie André Herzberg. Schüler, Soldat, Musiker, Poet und seit kurzem Autor einer beeindruckenden Biografie. Seiner eigenen. Er nennt seine Geschichten Alle Nähe fern.

Der Großvater war deutsch-national. Der Vater streng kommunistisch. Und der Sohn? Er schlägt aus der Art, wird statt linientreuer Kämpfer für die Sache Sänger der Ost-Berliner Kult-Band Pankow. Nichts Vernünftiges also, scharf betrachtet durch die Brille der Väter. Herzbergs Familiendrama umfasst drei Generationen, zwei Weltkriege, dazu zwei Diktaturen und zwei deutsche Länder, die sich in inniger Hassliebe gegenüberstehen. Nur mit viel heiterem Trotz kann es gelingen den Widrigkeiten des Lebens zu widerstehen. Denn die Herzbergs sind eine jüdische Familie – und was für eine.

Der Ost-Berliner André Herzberg erzählt das Auf und Ab seiner Familie mit fremdgehendem Vater, strenger Mutter und ignoranten Parteistatthaltern leicht, locker und souverän. Da geht dann mal eben ein ganzer Staat unter. Und der Neue hält nicht, was er verspricht. Klar, das Leben kann bitter und gallig genug sein.

 

Herzberg überlegt: „Das bist du, du bist der Verlierer, weil du Jude bist. Man kann dich an deiner Nase und deinen Locken erkennen, so hat es mir Mutter beigebracht. Der verräterische Höcker muss weg, es sollte wie eine Stupsnase aussehen. Das Wort Jude hat ein Echo, das haben wir bis zur Vergasung gehört“. Wie der mittlerweile fast 60-jährige Pankower damit umgeht und das manchmal zum Verdauen nur noch einen Kurzer hilft, liegt auf der Hand. Wer Kummer hat, hat auch Likör.

 

Was Geld macht

William Henry Gates ist 59 Jahre alt. Der Amerikaner gilt als reichster Mann der Welt und ist zweifelsfrei der führende Mäzen der Menschheit. Der Microsoft-Mann, besser bekannt als Bill Gates, will den Globus vor Armut, Krankheit und Hungertod retten. Seit 2008 ist er hauptberuflich Wohltäter und gibt seitdem mit rund tausend Mitarbeitern mehr als 4 Milliarden Dollar im Jahr aus.

Die üppigen Spendengelder fließen weltweit in Arzneimittel, Impfstoffe, Saatgut und Verhütungsmittel. Seine Motivation ist sein Streben nach „Gleichheit“, nur so könne ein Überleben auf dieser Erde gesichert werden. Der Philanthrop will gemeinsam mit seiner Frau Melinda die Kinderlähmung abschaffen und dafür sorgen, dass sich Afrika in fünfzehn Jahren selbst versorgt. Ein Traum? Ein neues Leben als reicher Supermann, der die Armen dieser Welt von Not und Elend erlöst?

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„Changes everything“ – Dieser Mann ändert alles. Gesehen in Berlin-Mitte, nahe Regierungsviertel.

Das Ehepaar Gates gehört zu den 115 Superreichen des exklusiven Milliardärs-Club „The Giving Pledge“. Deren Mitglieder haben sich verpflichtet und geschworen, die Hälfte ihres Reichtums abzugeben. SAP-Gründer Hasso Plattner ist der einzige Deutsche in diesem diskreten Spendenverein. Das Vorbild dieser Männer und wenigen Frauen ist der US-Stahl-Baron Andrew Carnegie. Er verfasste vor gut hundert Jahren sein Evangelium des Reichtums.

Im kommenden Jahr ist der historische Punkt erreicht, an dem das berühmte ein Prozent der Weltbevölkerung mehr an Reichtum und Vermögen besitzt als alle restlichen 99% zusammen. Die Weltgesellschaft bewegt sich in rasendem Tempo zurück zu ihren Anfängen. In eine feudale Zeit, in der einige ganz viel, die Allermeisten aber nur wenig bis nichts besitzen. Make a better world! Der reiche US-Stahlmagnat Carnegie zog übrigens am Ende seines Lebens folgendes Fazit: „Wer reich stirbt, stirbt in Schande.“

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Es wird Frühling

Alle Jahre wieder schwärmen im Frühjahr Bücherfreunde aus, um in Leipzig das Richtige, das Passende, kurzum: das Beste von allen Büchern des neuen Jahres für sich zu entdecken. Die Leipziger Buchmesse beginnt am 12. März 2015 und wird nach vier Tagen am 15. März ihre Pforten wieder schließen.

Ist was dabei? Wen oder was sollte ich kennenlernen? Wie aktuell, wie nah an den Menschen ist der neue Jahrgang? In Monaten wie diesen mit Kriegen, Finanzkrisen, Flüchtlingströmen, Pegida-Anhängern und selbsternannten Gotteskriegern. Mit blühenden Weltverschwörungstheorien, neuen Konflikten und alten Feindbildern. Eigentlich sind solche Umbruchzeiten gute Zeiten für Autoren. Hier gedeiht der Stoff für starke Stoffe.

 

In Leipzig stelle ich dieses Jahr folgende Bücher vor:

Nicolas Kulish/Souad Mekhennet.  Dr. Tod.

Michael Lüders. Wer den Wind sät.

Lamya Kaddor. Zum Töten bereit.

Thomas Aders. Allah ist groß, die Hoffnung klein.

Rainer Hermann. Endstation Islamischer Staat?

Julia Friedrichs. Wir Erben.

Günter Grass/Per Ohrgaard. Freipass.

André Herzberg. Alle Nähe fern.

 

Sehen wir uns?

Good Bye, Fritz! – „Mein Lebenshorizont ist ausgeschritten“

Das Alter ist ein Massaker, konstatierte Marcel Reich-Ranicki kurz vor seinem Tod. Irgendwann ist Schluss. So wie sein konservativer Gegenspieler, dem er in herzlicher Feindschaft verbunden war, fühlte sich zuletzt auch Fritz J. Raddatz. Der Autor und Essayist wollte sein Leben bis zum letzten Tag würdig gestalten. In einem Interview nahm er kürzlich Abschied von seinen Lesern. Ihm fiele nichts mehr. Die Aufgeregtheiten des Tages interessieren ihn nicht mehr. Es sei genug! Fritze Raddatz nahm sich am 26. Februar in Zürich das Leben. Einen Tag, bevor sein letztes Buch erscheint „Jahre mit Ledig“.

Sein Leben war ein einziger Roman. Geboren 1931 in Berlin, wechselte er mit neunzehn Jahren von West- nach Ostberlin, „voller Hass auf das Adenauer-Globke-Deutschland und voll Abscheu vor der Bürgerwelt, deren Teil ich war und geblieben bin“, denn „mir gefielen die Gesichter im Osten besser.“ Der junge aufmüpfige Raddatz stieg zum stellvertretende Cheflektor im Verlag Volk und Welt auf, bis er die ständige Bevormundung, Zensur und DDR-Piefigkeit satt hatte.

1958 ging Raddatz zurück in den Westen. Erich Kästner vermittelte das große Talent an den Kindler-Verlag. Ab 1960 stand er mit an der Spitze des Rowohlt-Verlags und ab 1977 leitete er das Feuilleton der ZEIT. Raddatz stürzte sich zeitlebens furchtlos in alle Debatten. Streitbar, gebildet, scharfsinnig, hochmütig, verletzend und verletzbar. Er war „Torero und Stier zugleich“. So der Titel seiner Autobiografie.

 

Der literaturbesessene Raddatz nannte sich einen „Hochmutstrottel“. Lebte ein Leben voller glanzvoller Höhepunkte und tiefen Abstürzen. Offen bekannte er sich zu seinen homosexuellen Affären mit Allen Ginsberg oder dem Tänzer Rudolf Nurejew. Er liebte das Bordell, den Champagner – überhaupt wurde in seinem Leben viel getrunken – und den Luxus. Raddatz fühlte sich Klaus Mann sehr nahe, in den er sich während eines Vortrages auch verliebt hatte, ohne dass Klaus Mann je davon erfuhr.

Seine Hausgötter waren Kurt Tucholsky, Rainer Maria Rilke und Heinrich Heine. Er liebte literarische Duelle, legte sich mit jedem an, der ihm einigermaßen satisfaktionsfähig erschien. Seinen journalistischen und gesellschaftlichen Kosmos beschrieb er in den legendären Tagebüchern. Sie eröffneten einen unverstellten Blick hinter die Kulissen des aufgeregten plappernden Literaturbetriebes. „Ich, ich, ich – Peinlich sind immer die anderen, Freunde, das ist ein heikler Plural“, lächelte der Homme de Lettre zwischen den Zeilen.

Fritz J. Raddatz verabschiedete sich im Alter von 83 Jahren. Schon zu Lebzeiten verkörperte der „Revoluzzer im Maßanzug“ einen Typus Journalisten, den es längst und leider nicht mehr gibt: Ein gebildeter Zeitgenosse, mit brillanter Intellektualität und Lebensklugheit, Größenwahn und scharfzüngig formulierter Haltung. Er wird fehlen – im dahinplätschernden Mahlstrom der Mittelmäßigkeit unseres heutigen Kulturbetriebes.