Archive for : August, 2017

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Guten Morgen, Berlin

„Guten Morgen!“ Er grüßt freundlich, wünscht einen guten Tag und lächelt auf seinem Stammplatz am Berliner Savignyplatz. Einer der vielen Bettler in der Hauptstadt. Die Menschen eilen an ihm vorbei durch die Passage von oder zur S-Bahn. Ich bleibe stehen, frage endlich einmal, wie er heißt. Zu oft habe ich ihn schon gesehen, ab und zu eine Münze in den Blechnapf geworfen, um dann weiter zu hasten. Gefragt hatte ich ihn noch nie. Der Mann antwortet. „Ciprian!“ – Mmh. Wie? – „Ciprian. Schöner Name. Kommt in meiner Heimat häufig vor“, sagt der Mann auf der Decke.

 

Morgens am Savignyplatz. Das Herz des vornehmen Berliner Westens.

 

Heimat? Wo das sei, frage ich nach. „Rumänien.“ Jeden Morgen grüßt er mich an der gleichen Stelle. Er ist da wie der Bäcker und der Kiosk nebenan mit seinen bunten Boulevard-Schlagzeilen. Ciprian hat wache offene Augen, die Hand bereit zum Gruß. Vor ihm eilen Menschen zur Arbeit, neben ihm liegt eine Krücke, hinter ihm ist ein feines katalanisches Delikatessengeschäft. Dessen Jalousien sind noch geschlossen. Meistens trägt Ciprian eine Pudelmütze und einen grünen dicken Parka, auch im August. In seiner Hand eine Tasse aus Blech. Sein Arbeitsgerät.

 

Ciprian ist ohne Obdach. Einer von mindestens 6.000 Menschen in der Hauptstadt.

 

Ciprian mag Mitte vierzig sein, vielleicht auch jünger. Er ist schwer zu schätzen. Tatsächlich ist er Anfang dreißig, verrät er mir. Das Leben hat sein Gesicht gezeichnet. Der freundliche Mann vom Savignyplatz erzählt mir nun mit Händen und Füßen von Pitescht. Ich verstehe ihn nicht richtig. Ich google den Namen später. Es muss wohl Pitesti sein. Eine Provinzstadt mitten in der Walachei. 160.000 Einwohner. Ciprian schaut mich fragend an. „160 Kilometer von Bukarest entfernt. Kennst Du Bukarest –unsere Hauptstadt.“ Was ihn nach Berlin verschlagen hat, will er nicht sagen. Er winkt ab. Was zählt, dass er jetzt hier sei. Ciprian ist EU-Bürger. Wie ich. Und doch trennen uns Welten. Zum Abschied lächelt er – wie jeden Morgen und wünscht einen „Guten Tag!“

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Glückskind

„Der Mensch ist frei, und würd´ er in Köthen geboren“, spottete einst Heinrich Heine. Michael Naumann erblickte genau dort das Licht der Welt, in der verträumten Kleinstadt in Sachsen-Anhalt. Von Köthen zog er in die Welt hinaus. Er kam bis nach New York, als erfolgreicher Verleger. Oder ins Kanzleramt, als erster Kulturstaatsminister der Ära Gerhard Schröder. Nun hat er sein Leben aufgeschrieben. Keine Frage: Seine Memoiren sind nicht unbescheiden. Eine Berufskrankheit sei diese verdammte Eitelkeit, zwinkert er. Aber Naumann das Glückskind aus Köthen hat viel zu erzählen. Anekdotenreich, süffisant und so manches Mal mit überraschendem Mehrwert.

Michael Naumann schlüpfte in seinen 75 Jahren in viele Rollen. Er war Journalist, Politikwissenschaftler, Kulturstaatsminister, ZEIT-Chefredakteur. Lobbyist. Am Ende mühte er sich als einer von zehntausend Türöffnern auf dem Berliner Hauptstadtparkett. Allerdings mit kulturellem Auftrag und einem vorzeigbaren Ergebnis. Naumann fungierte als intellektueller Bauleiter für den schicken neuen Pierre-Boulez-Saal. Er diente als Macher und Manager seinem Hausherrn Daniel Barenboim. Eine Erfolgsgeschichte.

 

Michael Naumann. Seit 2015 Gründungsdirektor das Barenboim-Said-Akademie in Berlin.

 

In seinen Glücks-Memoiren schaut Naumann ausführlich zurück auf prominente Zeitgenossen. Dichter, Minister, Schauspieler beiderlei Geschlechts kommen zahlreich vor. Aber er lässt auch Unbekanntes aufscheinen. Von schwarzen Listen des Verfassungsschutzes in den siebziger Jahren erzählt er. Vom Elend von Bochum: Die Ruhr-Universität. Ein Komplex, der „in alle Ewigkeit als Monument von Großmannssucht, bildungspolitischer Protzerei, architektonischem Brutalismus“ eingehen wird. Scharf rechnet mit der liberalen Zeit ab. Das Hamburger Magazin sei ein „Konsensblatt“ geworden, „ein wenig schrill war nur das bunte Layout“.

Gnadenlos geht er mit seiner Generation, den 68ern ins Gericht. Als sie am Kabinettstisch saßen, wurden sie „pragmatisch – bis zum Rand der Selbstverleugnung.“ Rot-Grün hätte nur erreicht, dass man oben reicher wurde, „in der Mitte bescheidener und unten ärmer.“ Das macht ihn wütend. 23,6 Milliarden Euro habe Rot-Grün den Banken geschenkt. Finanzminister Hans Eichel erließ die Körperschaftssteuer für Banken und Versicherungen. Urheber „dieser strategischen Großmutsregelung“ sei ein ehemaliger Steuerabteilungsleiter der Bayer AG“ gewesen, klagt Naumann. „Eine linke Regierung subventionierte also das deutsche Großkapital“. Da sei selbst Kohl sozialer gewesen.

 

Naumann: „Unsicher und eitel? Das passt zusammen, aber die journalistische Berufskrankheit der Eitelkeit hatte ich im Verlag überwunden“.

 

Michael Naumann kann sich mit seinen 75 Jahren noch so herrlich erregen wie einstweilen der zornige junge Mann von 1968. Sein größtes Glück sei übrigens gewesen, dass er bei der Blockade der Auslieferung der Bild-Zeitung in München in jenen Tagen nicht erwischt wurde, erzählt er beiläufig. Seine Freunde seien allesamt geschnappt worden.

Michael Naumann. Glück gehabt. Hoffmann und Campe 2017.

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Letzte Ruhe

Ein Sonntagmorgen im August. Heinz werkelt im Hof des kleinen Anwesens. Ein einfaches Büdnerhaus im Brandenburgischen. Hinterm Schuppen ein paar Hühner, auf der Wiese einige Ziegen. Ich rufe ihm zu und frage, wie es der Frau Mutter gehe. Missmutig nähert sich der Anfang Sechzigjährige. „Sie ist tot.“ – Wie, frage ich ahnungslos nach. Heinz knurrt: „Ja, lieste keine Zeitung?!“

Dann erzählt er, seine Mutter sei im Dezember letzten Jahres hier im Haus verstorben. Er habe sie bis zum Schluss gepflegt. „Das Herz wollte nicht mehr. Ein Vierteljahr war sie im Krankenhaus. Dialyse und all der Quatsch. Sie wollte nicht mehr. Nur noch nach Hause.“ Heinz fixiert mich. Dann geht sein Blick ins Leere. „Nach Steinwehrsruh, nach Hause wollte sie immer noch einmal hin. Aber wie denn? Wir haben doch kein Geld!“

 

Louis Busman 1997

 

In So viel Anfang war nie beschreibe ich die einfache Landfrau Marie. Mutter von acht Kindern. Ein Flüchtlingskind. Mit 15 Jahren vertrieben aus ihrer Heimat. Ihr Zuhause war rund zweihundert Kilometer weiter östlich. 1945 musste sie mit nichts als einem guten Willen komplett neu anfangen. Geblieben waren ihr ein Bündel mit wenigen Habseligkeiten und ein Sack voller Erinnerungen. Ich traf Marie im August 2010 in ihrer kargen Küchenstube. Im Buch heißt es:

 

„Die Küchenuhr tickt. Marie Herres wirkt müde und erschöpft, aber eines will sie doch noch loswerden. Das Leben habe es nicht gut mit ihr gemeint. Vielleicht sei sie nicht die beste Melkerin gewesen, aber sie habe acht Kinder großgezogen. Ihr Mann konnte einen Hof nicht führen, sei ein Totalausfall gewesen. Ständig litt er an Krankheiten, trank, verlor ein Bein und starb früh. Marie Herres atmet tief durch. Über sechzig Jahre sei sie nun hier und fühle sich doch so fremd.

 Ich will es kaum glauben. So ein Dorf hat eigene ungeschriebene Gesetze. Wer hier neu anfängt, lernt sie eines Tages kennen. Meist ist das sehr schmerzhaft. Einheimisch wirst du vielleicht in der zweiten oder dritten Generation, meint Marie Herres. Am Ende antwortet sie kurz und knapp: „Ich bin nicht freiwillig hier. Wir hatten ein so schönes Haus in Steinwehrsruh. Dort ist mein Zuhause. Dort will ich begraben werden.“

 

Maries letzte Reise.

 

Marie liegt nun auf dem Friedhof gleich nebenan. Dort hat sie ihre letzte Ruhe gefunden, neben ihrem Mann. Obwohl sie viel lieber in ihrer Heimat begraben sein wollte. Sohn Heinz verschränkt die Arme. „Nun ist es eben so!“ Wie es ihm gehe, frage ich noch. Er brummt, von „der Euro-Rente“ könne er nicht leben. „Lausig. Kannste Vergessen!“ Grundsicherung. Zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben. Seinen 45er hat er noch. „Den lass ich mir nicht nehmen. Der ist versteckt, dass er nicht geklaut wird.“ Es ist sein Moped-Kleinwagen, mit dem er nicht schneller als 45 Km/h fahren kann. Was wird, will ich wissen. „Mist. Was soll das Ganze noch?“ Heinz zuckt mit den Achseln. Dann zieht er sich zurück über den Hof in sein kleines Haus.

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Großes Kino

Der letzte Schauer ist gerade übers Land gezogen. Eine feuchte Wiese am Ende der Welt. Am Rande steht ein knallrotes Magirus-Feuerwehrauto, dazu ein kleines Zelt, ein paar Bänke. Das Wanderkino ist da. In Warnkenhagen – im Niemandsland zwischen Lübeck und Wismar. In der Ferne rauscht die Ostsee. Ein privater Gastgeber hat sein Gelände geöffnet. Es gibt selbstgebackene Pizza, einheimisches Bier und über Hundertjahre alte Filme. Stummfilme in Schwarz-Weiß mit kleinen und großen Helden.

 

Das Wanderkino braucht eine kleine Wiese, gutes Wetter und eine stabile Stromversorgung. Dann kann es losgehen!

 

Bei Einbruch der Dunkelheit hat sich eine große Schar Interessierter eingefunden. Das Publikum trotzt dem nassen Regensommer. Einheimische und Urlauber. Kinder, Opas, ganze Familien. Der Eintritt ist frei. Alle sind blitzgespannt. Dann eine kurze Ansprache des Gastgebers. Es kann losgehen. – Doch als würde aus heiterem Himmel ein Blitz von oben herabsausen, fällt der Strom aus. In Sekundenschnelle herrscht Dunkelheit. Dann Ratlosigkeit. Schließlich emsige Suche nach den Ursachen. Plötzlich flackert das Licht wieder. Der Generator springt an. Jetzt geht es wirklich los. Das Wanderkino in Warnkenhagen.

 

Es kommt Leben auf die nächtliche Wiese. Die kleinen Strolche ziehen los, um ihre Streiche zu spielen. Charlie Chaplin ist der Abenteurer von 1917, immer auf der Flucht vor den Gesetzeshütern. Harald Lloyd balanciert in atemberaubender Höhe. Unentwegt auf der Suche nach dem kleinen und großen Glück. Den Sound liefern Tobias Rank am Piano und Gunthard Stephan auf der Violine. Besser als jedes youtube-Mäusekino. Ein herrlicher Sommerspaß. Großes Live-Kino auf der Wiese. Am Ende prasselt der Beifall in den Augusthimmel. Jeder kann spenden so viel er will. Die Büchse füllt sich.

 

 

Noch bis Oktober ist das Leipziger Wanderkino unterwegs. Von der Ostsee bis zum Weißwurstäquator. Die Kinowandergesellen treten bevorzugt in Dörfern und Kleinstädten auf. Einzige Station in der Nähe von Berlin ist am 26. August 2017 in Erkner vor dem Gerhard Hauptmann-Museum. Wenn es trocken bleibt und der Generator durchhält, heißt es dann wieder: Film ab!

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Flieg, Engel, flieg

Jeder ambitionierte Gitarrenspieler kennt das Intro. Viele haben sich daran versucht. Ganze Generationen von Garagen- und Hinterhofmusikern. Little Wing. Diese Ballade von Jimi Hendrix gehört zu den Jahrhundertsongs. Geschrieben, komponiert und aufgenommen in einem New Yorker Studio. Unzählige Male gecovert und variiert. Von Amateuren und Profis. Eric Clapton. Santana. Sting. Toto. Pearl Jam. Steve Ray Vaughan. Nigel Kennedy, The Corrs. Und vielen anderen. Ein Song zum Abheben. Little Wing wird nun genau fünfzig Jahre alt. Am 25. Oktober 1967 lernte der Engel das Fliegen.

 

Jimi Hendrix. 1943-1970.

 

Jimi Hendrix spielte das Lied im Rahmen seines Albums Axis: Bold as love ein. Da war der hochtalentierte Linkshänder 24 Jahre alt. Ein Meisterstück der Balladen für Stratocaster, Bass, Glockenspiel und Schlagzeug. Eine Hommage an engelsgleiche Gestalten, die einem das Überleben im tristen Alltag erleichtern. Möglicherweise war es aber auch ein Liebeslied für seine damalige schwedische Freundin Katharina. Who knows? Sein letztes Konzert gab Jimi Hendrix am 6. September 1970 auf der Ostseeinsel Fehmarn. Wenige Tage später starb das Gitarren-Genie im Alter von 27 Jahren. Jimi Hendrix zählt zum fiktiven Club 27. Deren Devise lautet „live fast, love hard, die young“.

Drei in Deutschland eingespielte Coverversionen zum 50. Geburtstag von Little Wing will ich vorstellen. Randy Hansen in Solingen, der seit Jahrzehnten in seine Fußstapfen getreten ist. Der Jazz-Gitarrist Nguyên Lê in einer Live-Version, aufgenommen in Leipzig. Und eine äußerst gelungene Studio-Version junger Leipziger Hendrix-Fans.

 

 

Little Wing

„Well she’s walking through the clouds
With a circus mind that’s running ‚round.
Butterflies and zebras, fairy tales,
That’s all she ever thinks about.

When I’m sad she comes to me
With a thousand smiles she gives to me free.
Said, „It’s all right, take anything you want,
Anything you want, anything.“

 

 

Well she’s walking through the clouds
With a circus mind that’s running ‚round.
Butterflies and zebras, fairy tales,
That’s all she ever thinks about.

When I’m sad she comes to me
With a thousand smiles she gives to me free.
Said, „It’s all right, take anything you want,
Anything you want, anything.“

Fly on, little wing.“

 

 

Noch ein Tipp. Lohnenswert ist das Museum „Handel & Hendrix in London“ im Stadtteil Mayfair. Das neue Museum umfasst zwei Häuser, in einem wohnte Hendrix, gleich nebenan im 18. Jahrhundert der deutsche Komponist Georg Friedrich Händel.