Archive for : August, 2019

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Flieg, Amsel, flieg

Abheben, Fliegen, Frei sein. Paul McCartney packte in seine zwei Minuten und zwölf Sekunden Blackbird alles, was ihn bewegte. Er verdichtete das wilde Jahr 1968 in wenige Zeilen. Aufbruchstimmung. Protest. Hoffnung. Ausrufezeichen einer Generation, die unbeschwert an ein besseres Morgen glaubte. Blackbird fly into the light. Musikalisch inspiriert durch Johann Sebastian Bachs Bourée griff McCartney die alltägliche Diskriminierung der schwarzen Minderheit in den USA auf.

Die Amsel verkörpert für ihn eine Frau, die sich schlimmsten Attacken ausgesetzt sieht. Nur wegen ihrer Hautfarbe. „Anstatt konkret zu werden und von einer ‚schwarzen Frau in Little Rock‘ zu singen, wurde diese Frau zum Vogel, ein Symbol, das die Zuhörer dann auf ihr spezielles Problem beziehen konnten“, schrieb damals Beatle Paul und damit gelang ihm ein kleines Stück Musikgeschichte. Ein stiller Song, voller Kraft, Poesie und Zuversicht. Trotz gebrochener Flügel nicht aufgeben, nicht einmal in der dunkelsten Nacht.

Blackbird ist vielfach gecovert und neu interpretiert worden. Von Crosby, Stills, Nash & Young in Woodstock über Alicia Keys bis Jacob Collier. Genauso zahlreich sind die Deutungen. Doch der Ur-Song ist es, der berührt und überzeugt. The Beatles at its best.

 

 

Der Song Blackbird bleibt zeitlos aktuell. Die Amsel muss weiterfliegen – trotz gebrochener Flügel. Mit einer neuen, indigenen Cover-Version des Beatles-Hits sorgt in diesem Sommer die 16-Jährige Emma Stevens für einiges Aufsehen. Die Nachfahrin kanadischer Ureinwohner nahm das Lied in ihrer traditionellen Sprache Mi’kmaq auf. Als wäre alles beim alten geblieben. Als hätte sich die Welt in den letzten fünfzig Jahren nicht bewegt. Amsel, flieg.

 

 

Blackbird singing in the dead of night

Take these broken wings and learn to fly

All your life

You were only waiting for this moment to arise

Blackbird singing in the dead of night

Take these sunken eyes and learn to see

All your life,

You were only waiting for this moment to be free

Black bird fly, black bird fly Into the light of the dark black night

Blackbird singing in the dead of night

Take these broken wings and learn to fly

All your life

You were only waiting for this moment to arise

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Nichts müssen

„Nichts machen, nichts wollen, nichts müssen! – Einfach sein.“ Was für ein einfacher, bestechender Gedanke. Einmal die Woche zählt nur diese Erfahrung – für eine Viertelstunde. Entspannen. Loslassen. Abtauchen. Keine Termine, keine Hektik. Keine Konkurrenz, keine Konflikte. Keine bange Frage – wie schaffe ich das nur? Dann weckt die Yoga-Lehrerin ihre versammelten Zöglinge mit der Klangschale. Runter von der Matte. Zurück ins Leben. Auf zu neuen Taten.

John Metcalfe kommt vom anderen Ende der Welt. Geboren und aufgewachsen in Neuseeland, fand er in London eine neue Heimat. Der 55-jährige Komponist sucht den richtigen Ton. Für sich und seine Zuhörerschaft. Der Bratschist entdeckt mit Hilfe der Musik die Welt, wandert durch das Labyrinth des Lebens, immer auf der Suche nach innerer Ruhe und äußerer Gelassenheit. Er arbeitet als Produzent mit Größen wie Peter Gabriel oder Simple Minds. Zwei seiner Alben sind mir aufgefallen. Appearance of Colour aus dem Jahre 2013. In diesem Sommer legt Metcalfe seine neueste Produktion vor. „Absence“. Es ist seine fünfte Veröffentlichung.

 

 

Das Kernthema von „Absence“, so erzählt John Metcalfe, bildet ein imaginäres Gespräch zwischen ihm und seinem verstorbenen Vater. In seinem zentralen Stück „Solitude“ geht es um den Verlust. Die Frage „Was wäre wenn?“ beschäftigt den Neuseeländer bis heute. Übersetzt in Klänge und Soundeffekte verarbeitet er den schmerzlichen Schicksalsschlag in berührende, melodiöse Songs. Doch bei allem Schmerz, allen Klagen und aller Trauer vermittelt seine Musik am Ende verlässlich Hoffnung: „I dream / Open the door“.

Metcalfe will uns auf behutsame Weise daran erinnern, dass nichts für immer währt, dass sich alles in wenigen Momenten ändern kann. Wir seien es unseren geliebten Verstorbenen schuldig, meint er, dass wir weiterkämpfen und „unser Leben leben – ihnen zu Ehren“. So ist es. Mitten hinein ins Leben. Bis zur nächsten Entspannung, wenn es heißt: „Nichts machen, nichts wollen, nichts müssen! – Einfach sein.“ Und danach staunen und zuhören, was uns die Welt bietet.

 

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Schiller. Punkt!

„Der ist allein glücklich und groß, der weder zu gehorchen noch zu befehlen braucht, um etwas zu sein.“ Stimmt das noch? Über zweihundert Jahre sind diese Worte alt. Damals gab es weder Trump, Twitter, Selbst-Optimierungsstrategen und digitalen Pranger. Die Gedanken sind frei, hieß es vielmehr. So einfach formulierte es dieser schwäbische Freigeist. Schiller sein Name. Er mochte das Pathos, liebte die Freiheit, kämpfte für seine Ideale. Als er 1805 starb, sollte er bald auf Berlins schönsten Platz – den Gendarmenmarkt – befördert werden.

Doch das dauerte. Noch zu seinem hundertsten Geburtstag im Jahre 1859 verboten die Preußischen Behörden einen geplanten Straßenumzug – aus Angst vor Unruhen. Dennoch wurden Zehntausende Taler für ein Denkmal des Dichters gesammelt und bereitgestellt. Aber erst 1861 konnte ein Wettbewerb ausgeschrieben werden. Den gewann der Bildhauer Reinhold Begas. Es war sein erster großer Auftrag. Den jugendlichen Schiller mit Locken stellte er auf einen Marmorsockel, ihm zu Füßen platzierte er vier Musen. Eine schöner als die andere: die Lyrik, die Philosophie, die Tragödie und die Geschichte.

 

Im April 1986 reiste Schiller visafrei aus Westberlin in die DDR-Hauptstadt ein. Die Aufnahme zeigt den Transport in der Elsenstraße im Bezirk Berlin-Treptow. 1988 stand Schiller wieder am ursprünglichen Standort vor dem Schauspielhaus. Quelle: Bundesarchiv

 

Die Einweihung war 1871. Zehn Jahre nach Planungsbeginn. So viel zum berühmten Berliner Bau-Tempo. Danach stand Schiller ein halbes Jahrhundert unerschütterlich in Berlins Mitte – bis die neuen Machthaber von der NSDAP den Schillerplatz (heute Gendarmenmarkt) zum militärischen Aufmarschplatz umfunktionierten. Das Schiller-Denkmal wurde abgeräumt, dabei beschädigt und im Westen der Stadt am Lietzensee notdürftig zwischengelagert.

Im Zweiten Weltkrieg fiel auch der Platz in Trümmern und mit ihm das Schauspielhaus. Die DDR taufte das Areal Platz der Akademie, restaurierte in den achtziger Jahren mit großer Sorgfalt das von Schinkel errichtete Schauspielhaus. Dann stellte die DDR Schiller wieder 1988 auf seinen angestammten Platz, um ein Jahr später selbst abzutreten. Endlich ist die Herrschaft, die nicht auf freiem Denken basiert, hätte Schiller wohl geraunt.

 

Friedrich Schiller am Gendarmenmarkt. Mit Punkt. Versteht sich.

 

Wer sich nun heute das Marmor-Denkmal für Friedrich Schiller (1759-1805) genauer anschaut entdeckt eine Besonderheit. Es geht um einen kleinen Punkt hinter dem Namen. Die Legende erzählt, darauf habe der preußische König Wilhelm I bestanden, um die jahrelange Debatte über das richtige Denkmal mit dem richtigen Helden zu beenden. Da kommt Schiller hin. Punkt, verfügte er. Am Ende mussten die widerspenstigen Berliner parieren. So steht Schiller heute noch genauso auf seinem Sockel – mit Punkt. Versteht sich.

 

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Zimmer frei

Anfang 1990. Ein Mecklenburger steht am Gartentor. Zigarillo im Mund. Er fixiert den Fotografen. Auf den ersten Blick wirkt der Mann misstrauisch-skeptisch. Dabei versprechen seine Schilder das pure Gegenteil: Gastfreundschaft und ein warmes Bett. „BRD-Bürger. Übernachtung kostenlos.“ Dreißig Jahre später lächeln wir über seine Offerte. Beim Nachdenken spüren wir wie sich die Zeiten geändert haben. Ob jemals ein Bürger aus der BRD das Angebot angenommen hat, wissen wir nicht. Was heute dominiert, das wissen wir wohl. Geschäftssinn statt Gastfreundschaft. Fremdeln mit allem Fremden, so tickt der Zeitgeist.

Zimmer frei? – Umsonst? – Für Fremde? – Wer ein Nachtquartier sucht, der bekommt es heute nur für Zahlung im Voraus. Dreißig Jahre Einheit hat die Menschen verändert. Die Wende hat allen Festreden und Statistiken zum Trotz offenbar – gefühlt – mehr Verlierer als Gewinner hervorgebracht. Die Einheit empfinden viele nicht als freundliche sondern feindliche Übernahme. Das Trauma Treuhand bedeutet für zahllose Familien Enttäuschung und Kränkung. Die Verletzung von Biografien und Seelen. Die Flüchtlingsfrage entwickelt sich zur Sollbruchstelle für die liberale Demokratie westlicher Prägung. Vereint? Von wegen. Integriert doch erst mal uns, heißt es trotzig.

 

Mecklenburg, Anfang 1990. Quelle: Robert Havemann-Gesellschaft

 

Ohne uns! So lautet die andere Botschaft. Längst existiert eine Parteiendemokratie ohne Mitmacher. In Sachsen lautet die magische Zahl aller Parteimitglieder 0,8% gemessen an der wahlberechtigten Bevölkerung. Somit sind die Sachsen Spitzenreiter, tragen die Rote Laterne. Parteimitgliedschaft? Nein, danke. Im Westen pendelt die Quote zwischen 1 und 2%, im Saarland immerhin bei über 4%. Alle sächsischen Parteien zusammen haben nur etwas mehr Mitglieder als der Fußballverein Dynamo Dresden. (rund 20.000). Parteiendemokratie heißt in Sachsen von 0,8% regiert zu werden.

 

Gesehen in Berlin am Bahnhof Friedrichstraße.

 

Das Problem sind wir. Aber auch die Lösung.“ Das sagt Dirk Neubauer, Bürgermeister von Augustusburg bei Chemnitz. Der Quereinsteiger versucht seit Jahren das Unmögliche. Aus stummem Frust und besorgter Bürgerwut einen Neuanfang zu schmieden. Noch sei es nicht zu spät, schreibt er in seinem Buch, das Anfang September 2019 – am Tag nach der Sachsenwahl – erscheinen wird. Seine Botschaft: Nicht auf Zeit spielen. Etwas daraus machen. Handeln. Kennen wir das nicht? Erinnert uns dieser Stoßseufzer nicht an die sattsam bekannte Klimadebatte?

 

„Ich war gerne DDR-Bürger.“ Gesehen in Hoyerswerda auf der Heckscheibe eines Mittelklassewagens.

 

Der Osten eine fremdenfeindliche Zone? – Von wegen. An einem heißen Juliabend erreichten wir nach einem langen Arbeitstag erschöpft eine Gaststätte in Thüringen. Potzblitz. Was sahen wir? Ruhetag! Geschlossen. Doch unser Klingeln und Betteln half. Am Ende der Welt, mitten im ehemaligen Grenzgebiet zur „BRD“, ließ sich die Wirtin erweichen, packte die Pfannen aus und servierte ihren hungrigen Gästen „Thüringer Rostbrätl mit Bratkartoffeln“. Das Wegebier für die Nacht verkaufte der Sohn für einen Euro die Flasche. So viel Gastfreundschaft und Fremdenfreundlichkeit geht auch – dreißig Jahre nach dem Fall der sichtbaren Mauer.