Archive for : April, 2020

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Bis zum letzten Atemzug

Vor genau 75 Jahren. Das Dritte Reich liegt in den letzten Zügen. Der 23. April 1945 ist ein Montag mit typischem Aprilwetter. Sonne folgt auf Regen. Auf der Landstraße von Neuruppin nach Wittstock ist auf einmal das tausendfache Klappern von Holzpantinen zu hören. Elendsgestalten in Blöcken zu jeweils fünfhundert Mann schleppen sich gen Norden. Die SS verfolgt ihren letzten teuflischen Plan. Über dreißigtausend KZ-Häftlinge aus Sachsenhausen sollen zur Ostsee getrieben werden, um dort auf Schiffen versenkt zu werden. Am 29. April 1945 können die Überlebenden in Mecklenburg befreit werden.

 

Reinhold Heinen (1894-1969) überlebte den Todesmarsch von Sachsenhausen Richtung Ostsee.  Foto: Wikipedia

 

Der 51-jährige Reinhold Heinen ist einer der Todeskandidaten. Er quält sich im Block der Politischen seit zwei Tagen über die Chaussee. Teilweise bewacht von ehemaligen Mitinsassen, also eigenen „Kameraden“, denen die SS Knüppel und damit ein Stück Macht übertragen hat. Vier Jahre Konzentrationslager in Sachsenhausen hatte der frühere Chefredakteur des „Aachener Volksfreunds“ überstanden. Der Düsseldorfer will auf keinen Fall noch in den letzten Stunden in einem Straßengraben enden. Heinen hat die Kraft, Tagebuch zu führen. An diesem Montagabend (23. April 1945) notiert er:

„Steif, missmutig, kein Wasser. Kein Kaffee, nichts Warmes. Wir marschieren, machen vor dem Dorf an der Bahnstation Halt, kochen ab und warten. (…) Unsere Gruppe in eine Scheune, sehr eng, aber es geht. Am Nachmittag, der marschfrei ist, kann man sich säubern, rasieren, hinlegen, schlafen. Aber die Enge ist zu groß. Einer muss über den andern klettern. Auf den sechs Kilometern, die wir zurückgelegt haben, zählte ich zwölf Tote im Straßengraben, darunter einen Holländer. Ein Mann lag noch mit dem Genickschuss lebend und verdrehte die Augen, verfolgte unseren Marsch mit seinen Blicken.“

 

April 1945. Eines der vielen Opfer des Todesmarsches von Sachsenhausen. Foto: Gedenkstätte Todesmarsch im Belower Wald

 

Die märkische Landbevölkerung beobachtet den Zug der Todgeweihten aus 18 Nationen eher gleichgültig bis misstrauisch. Nur ganz wenige fassen sich ein Herz und helfen. Als der Elendszug am Pfarrhaus von Rossow (heute Ostprignitz-Ruppin in Nord-Brandenburg) zum Stehen kommt, bietet Pfarrerstochter Edith von Jüchen den völlig Erschöpften etwas Warmes an. „Eine Selbstverständlichkeit.“ Die damals 24-jährige wird diese Stunden nie vergessen: „Wir hörten die Schüsse. Die KZ-Häftlinge wurden bei uns im Hof einquartiert. Der Pfarrhof wimmelte voller Menschen. Wir kochten Pellkartoffeln. Es waren verhungerte Gestalten. Sie umlagerten uns, bedrängten mich voller Hunger und Gier in den Augen. Ich bekam richtig Angst, als ich die Töpfe in den Hof trug. Es waren keine Menschen mehr, sie wirkten wie wilde Tiere. Am nächsten Morgen zogen sie weiter.“

 

Ende April 1945. SS-Angehörige plündern Hilfsgüter des Internationalen Roten Kreuzes. Eine bizarre Besonderheit war, dass es dem Schwedischen Roten Kreuz erlaubt wurde, KZ-Häftlingen auf dem Marsch Nahrungsmittel zur Verfügung zu stellen. Quelle: Gedenkstätte Todesmarsch im Belower Wald

 

Wenig später weiter nördlich in Wittstock. Der sechzehnjährige Werner Zimmermann ist mit einem versprengten Trupp auf wilder Flucht vor der Roten Armee. Alles löst sich auf. Statt vom Endsieg träumt der Volkssturmjunge aus Köpenick nur noch vom Überleben. Der Schüler will kein Kanonenfutter mehr sein, genau wie seine Kameraden. In der Nähe des Flugplatzes Wittstock sieht er plötzlich den Todesmarsch aus nächster Nähe.

„Wir lagerten völlig erschöpft am Straßenrand. Unser Unteroffizier rief: „Keiner steht auf. Keiner rührt sich.“ Wir sahen die Leute. Das nackte Elend. Alle nur Haut und Knochen. Ein Häftling stürzte auf der Straße. Ein SS-Mann mit Hund brüllte: „Auf, aber dalli.“ Der Häftling rührte sich nicht. Dann schoss er mit seiner Pistole. Peng! Den Mann stieß er mit den Füßen in den Graben. Wir waren entsetzt, wollten helfen. Unser Leutnant brüllte: „Kein Aufsehen! Keiner geht hin!“ Wir haben uns dann in die Wälder zurückgezogen. Als wir später die Straße noch einmal passierten, habe ich viele Tote gesehen. Links und rechts von der Straße.“

 

Todesmarsch Belower Wald bei Wittstock. Quelle: BHS-tv 1995

 

Der Düsseldorfer Reinhold Heinen überlebte den Todesmarsch. Der christliche Verleger gründete nach seiner Rückkehr im rheinischen Düren die örtliche CDU. Er ist 1969 verstorben. Pfarrerstochter Edith von Jüchen lebt heute 95-jährig in Schwerin und nimmt weiter hellwach am Geschehen teil. „Nie wieder“ ist ihr Lebensmotto. Hitlerjunge Werner Zimmermann geriet Anfang Mai 1945 im Raum Schwerin in US-Gefangenschaft. Der mittlerweile 91-jährige wohnt wieder in Berlin-Köpenick.

Mehr über den Todesmarsch von Sachsenhausen in So viel Anfang war nie. Notizen aus der ostdeutschen Provinz.

So viel Zukunft war nie

Mein Krankenhaus, in dem ich seit drei Jahren ehrenamtlich mithelfe, ist geschlossen. Im gegenwärtigen Corona-Modus sind ganze Stationen geräumt und isoliert worden. Bisher blieb der große Ansturm aus. Gott sei Dank. Aber was ist mit dem Stammpersonal? Wie geht es den Pflegekräften und der Ärzteschaft? In Nachrichten und Talkshows sind Virologen Dauergäste. Aber Pflegerinnen und Pfleger, Schwestern, Stationsärzte? Fehlanzeige oder ganz seltene Ausnahmefälle. Dabei sind sie hautnah ganz vorne und am intensivsten an Corona-Patienten. Was auf der Hand liegt: Statt Balkon-Beifall für Pflege- und Stationspersonal wären angemessene Löhne und Gehälter eine wirkliche Verbesserung. Ein Schritt in die Zukunft.

Der 23-jährige Alexander Jorde ist einer der wenigen, der offen über die Schwächen im Gesundheitssystem redet. Der Krankenpfleger in Hannover hat sich einmal in einer Wahlsendung mit Angela Merkel angelegt. Da sagte er über den Alltag auf den Stationen: „Die Würde des Menschen wird tagtäglich in Deutschland tausendfach verletzt“. Pfleger, Schwestern, Ärzte sind „systemrelevant“. Wie einst Banken. Diese schlitterten damals in eine selbstverschuldete Krise. Folge ihrer hemmungslosen Zockerei. Sie wurden mit Milliarden Euros gerettet.

 

 

In den Krankenhäusern muss mit den Folgen eines weltweit außer Kontrolle  geratenen Virus ganz alleine gerungen werden. Wie sieht deren Schutzschild aus?  Tja. Es herrschen Atemnot, Improvisation, Stress und manchmal ein wenig Hoffnung auf bessere Zeiten. Gesundheitsminister Jens Spahn setzte als Sofortmaßnahme die Personaluntergrenzen aus. Noch mehr Druck. Dabei liegt der Pflegeschlüssel bereits bei gegenwärtig 13:1. Das heißt eine Pflegekraft versorgt im Schnitt 13 Patienten. Das ist einer der schlechtesten Werte in Europa. Schutzmasken müssen wegen Mangel in vielen Krankenhäusern mehrfach getragen werden. Kollegen fallen wegen Krankheit aus. Es gibt ein hohes Risiko selbst infiziert zu werden. Bei 12% liegt die Rate in Spanien. In Deutschland weiß man es nicht, es wird zu wenig getestet.

 

Vhelalde aus Mailand interpretiert mit ihrer Band einen Klassiker.

 

„Wir haben genügend Betten, wir haben genügend Beatmungsgeräte, wir haben sogar meistens auch genügend Ärzte. Aber wir haben nicht genügend Pflegekräfte“, sagt Pfleger Alexander Jorde. Er hofft, dass in Corona-Zeiten endlich ergebnisorientiert debattiert wird, wer die Gesellschaft am Laufen hält. Zum Beispiel seine Kolleginnen und Kollegen, genau wie die vielen Kassiererinnen, Kuriere, Lkw-Fahrer oder Erntehelfer. Jorde appelliert: „Wir müssen gemeinsam für bessere Löhne und anständige Arbeitsbedingungen kämpfen. Auch nach Corona.“ Ein frommer Wunsch des 23-jährigen aus Hildesheim? Jung und naiv?

 

So sieht Banksy in England die Quarantäne-Zeit. Seine Frau hofft, dass er bald wieder raus kann.

 

Was wird, wenn das Kontaktverbot wieder fällt und wir in den ersehnten Normalmodus zurückkehren? Lernen wir aus der staatlich verordneten Zwangspause? Die Chance ist da. Jetzt. Noch ist die Tür einen Spalt weit geöffnet. So viel Zukunft war nie.

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„Da müssen wir durch“

Leben im Sperrgebiet. Die Sonne strahlt. Kraniche ziehen übers Land. Birken blühen auf. Kröten wandern. Nicht wenige bleiben platt am Straßenrand zurück. Trecker auf Feldwegen wirbeln dickbraune Staubwolken auf. Sie schütten literweise streng riechende Gülle auf ihre Äcker. Es ist eigentlich wie jedes Frühjahr. Die märkische Heide ist im dritten Jahr staubtrocken. Wir warten auf die Störche. Oder gilt für sie auch das neue Einreiseverbot wie für alle Fremden, besonders diejenigen aus Berlin? Das kleine Herzdorf, wie unser Dorf in meinem Buch heißt, befindet sich seit zwei Wochen mitten in der Verbotszone. Der zuständige brandenburgische Landkreis OPR (Ostprignitz-Ruppin) hat ein Betretungsverbot erlassen. Corona führt Regie.

 

Kröten im Sperrgebiet. Mutter Natur hat folgendes arrangiert: das Weibchen trägt den etwas kleineren Kröterich im Huckepack zum Ort der trauten Gemeinsamkeit.

 

Wenige Tage vor Ostern fiel überraschend das Einreiseverbot. Nun dürfen Berliner mit Zweitwohnsitz ihre Feriendomizile wieder betreten. Zwei Berliner hatten sich mit ihrer Klage vor Gericht durchgesetzt. Einer der Kläger ist unser Nachbar. Und die Einheimischen? Sie sind hin- und hergerissen. Sie ziehen sich auf eingeübte Positionen zurück. „Was soll man machen? Die da oben machen sowieso was sie wollen.“ Selbst in schlimmsten Corona-Zeiten wie diesen bewährt sich die gewohnt märkische Sturheit. Manche nennen es Lebensklugheit.

Auf den ersten Blick präsentiert sich das „verbotene Land“ wie immer zu Ostern. In den Vorgärten mit bunten Eiern geschmückte Sträucher. Im Park ein beeindruckender Holzstapel. Doch das Osterfeuer fällt aus. Erstens wegen Waldbrandgefahr. Wie im Vorjahr. Zweitens wegen Corona, natürlich. Dieses Jahr gibt es strafverschärfend weder Bier am Feuerwehrhaus. Noch das Osterkonzert für bildungshungrige Besucher. Kein Reiten für Kinder. Kein Bett über Nacht. Eine Landfrau winkt ab. „Da müssen wir durch. Ist immer noch besser als Krieg. Wir haben zu essen, zu trinken, der Fernseher läuft. Wird schon werden.“ Sie lächelt und geht hinter die Scheune Holz hacken.

 

Frühling 2020 im Corona-Sperrgebiet. Freundlich aber staubtrocken.

 

Die Corona-Krise erinnert die Älteren im Dorf an den ungewöhnlich warmen Frühling 1945. Es waren Monate der Zeitenwende ohne Fernseher, Whatsapp oder Facebook aber mit Durchhalteparolen, Endsieg-Geschrei, Tieffliegern, Rotarmisten auf Panje-Wagen, Wodka, Vergewaltigungen, Kapitulation, Befreiung. Als urplötzlich alle Nazis weg waren und der Hunger zum täglichen Küchenmeister wurde. Als aus Graupen Suppen gezaubert und Katzen zu Delikatessen verarbeitet wurden. Als ein einziges Brot einen ganzen Wochenlohn wert war. Was die Kunst des Erinnerns heute ausrichten kann, ist möglicherweise die Erfahrung, dass uns das Erzählen solcher Situationen wieder zu Bodenhaftung und Demut verhelfen kann. Wenn wir bereit sind zuzuhören.

Aktualisierung: Eine gute Nachricht vom Lande. Der Storch ist seit dem 10. April 2020 wieder da.

Zur Kunst des Erinnerns noch eine spannende viertelstündige Kurzgeschichte von einem gewissen Robert Zimmermann, besser bekannt als Bob Dylan. Er lässt in seinem brandneuen Sprechgesang Murder most foul einen Mann aus hoffnungsvollen Zeiten wiederauferstehen – John F. Kennedy. Es ist Dylans Geschichte zu Ostern 2020.

Seid in diesen Ausnahmezeiten alle digital gedrückt!

 

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Der Brotaufstand von Rahnsdorf

AKTUALISIERT am 5. April 2022

Es ist wieder Krieg in Europa. Diesmal haben die russischen Streitkräfte unter Putin das Völkerrecht gebrochen und die Ukraine überfallen, um sie „zu befreien“. Vor 77 Jahren kamen die Russen tatsächlich als Befreier. Anfang April 1945 kehrte der Krieg  nach Berlin zurück, wo er von Hitler vom Zaun gebrochen wurde. Die Rote Armee setzte zur Entscheidungsschlacht an. Hitler erklärte im Führer-Bunker: „Der Soldat kann sterben, der Deserteur muss sterben.“ Am 1. April 1945 um 20.00 Uhr meldete der neue Sender „Radio Werwolf“: „Lieber tot als rot! – Siegen oder sterben! – Hass ist unser Gebet, Rache unser Feldgeschrei.“ Die allermeisten Berliner wollten nicht mehr kämpfen. Sie versteckten sich in Kellern, hungerten und kämpften ums Überleben. „Reichsverteidigungskommissar für den Gau Berlin“ Joseph Goebbels verfügte eine Sonderbrotverteilung nur noch für NS-Parteigenossen.

 

Die ehemalige Bäckerei Deter in Berlin-Rahnsdorf. NSDAP-Ortsgruppenleiter Hans Gathemann: „Es gibt kein Brot mehr. Nur noch für Parteigenossen!“ Hunderte Menschen versuchten am Vomittag des 6. April 1945 verzweifelt an Brot zu kommen.  Foto: Werner Zimmermann, 1998.

 

Die Nachricht erreicht Berlin-Köpenick am 6 . April 1945. Es ist ein frühlingshafter Freitag. Im Ortsteil Rahnsdorf wird bekannt, dass die Bevölkerung kein Brot mehr erhalten soll. Hunderte Frauen, Kinder und Alte eilen zu den drei Bäckern des Ortes. Zwei verkaufen das Stück zu 50,- Pfennig, bis alles weg ist. Beim zentralen Bäcker in der Fürstenwalder Allee 27 weigern sich die nazitreuen Bäckersleute Brot an die Bevölkerung abzugeben.  Sie alarmieren NSDAP-Ortsgruppenleiter Hans Gathemann.  – „Es gibt kein Brot mehr. Nur noch für Parteigenossen!“ – Diese Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Die Lage eskaliert. Erregt versucht eine vielköpfige Menge den Bäckerladen zu stürmen.  Reinhard Heuback war damals zehn Jahre alt. Der damalige Schüler erinnert sich genau. „Der komische Gathemann stand mit der Pistole in der Hand. Ich durfte noch gehen. Andere wurden verhaftet, in den Knast gesperrt.“

 

Margarete Elchlepp (1899-1945). Mit dem Tischler Max Hilliges als  „Rädelsführer“ enthauptet.  Foto: Familiennachlass Elchlepp

 

Der fanatische Nazifunktionär meldet der Gestapo den Tischler Max Hilliges (53) und die beiden Frauen Margarete Elchlepp (45) und deren Schwester Gertrud Kleindienst (36) als „Aufrührer“. Sie seien „Volksschädlinge“, würden sich widersetzen. Hilliges ist im Laden mit Reparaturarbeiten beschäftigt. Er liefert sich mit dem NS-Mann, der mit der Waffe herumfuchtelt, ein Wortgefecht: „Gib doch den Frauen Brot, sie wollen es ja nicht für sich, sondern für ihre Kinder.“ Dann setzt Hilliges nach: „Es dauert ja nicht mehr lange, dann musst du deinen braunen Rock auch ausziehen.“ Noch am gleichen Tag gegen 18 Uhr wird der Tischler in seiner Wohnung verhaftet. Die Gestapo nimmt insgesamt 15 Personen fest, die zum Polizeigefängnis am Alexanderplatz gebracht werden. Ein Standgericht verurteilt den Tischler und die beiden Schwestern Margarete und Gertrud am nächsten Tag als „Rädelsführer“ zum Tode.

 

Hier starben Max Hilliges und Margarete Elchlepp in der Nacht vom 7. auf den 8. April 1945 – drei Wochen vor Kriegsende. Sie gehörten zu den letzten Opfern in Plötzensee. Quelle: Gedenkstätte Plötzensee

 

Keine drei Stunden nach dem Todesurteil werden Max Hilliges und Margarete Elchlepp in der Nacht des 7. April 1945 gegen 0.45 Uhr in der Haftanstalt Plötzensee enthauptet. Die dritte als „Rädelsführerin“ zum Tode verurteilte Gertrud Kleindienst, Mutter von drei Kindern, wird  von Gauleiter Goebbels in letzter Sekunde zu acht Jahren Zuchthaus begnadigt. Hitlers Propagandaminister notiert in seinem Tagebuch am 8. April 1945: „So muss man vorgehen, wenn man in einer Millionenstadt Ordnung halten will. Und die Ordnung ist die Voraussetzung der Fortsetzung unseres Widerstandes.“ Am Tag darauf werden die Hinrichtungen „unter Trommelwirbel“, so Augenzeuge Heubeck, auf dem Bismarckplatz vor der Bäckerei verkündet. „Zur Abschreckung“ kleben NS-Genossen Flugblätter mit der Nachricht mit den vollzogenen Todesurteilen an Laternen und Bäume.

Keine zwei Wochen später marschiert am 21. April die 1. Weißrussische Front der Sowjetarmee im Berliner Vorort Rahnsdorf ein. NS-Ortsgröße Gathemann taucht in den Wirren unter. Für immer. Gerüchte besagen, er und seine Familie seien im Müggelsee „ins Wasser gegangen“ Tatsächlich führen die Spuren nach Moskau. Nach einem bislang unbestätigten Aktenfund soll Gathemann „zum Tode durch Erschießen“ verurteilt worden sein. Wann und wo, ist unklar. Eine Anfrage zum Verbleib Gathemanns ist beim zuständigen Militärstaatsanwalt in Moskau auf dem Wege. Gertrud Kleindienst aber überlebt. Sie wird am 2. Mai 1945 aus dem Gefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel befreit. Im September 1945 kehrt sie nach Rahnsdorf zurück.

 

Diese erste (fehlerhafte) Gedenktafel wurde 1998 an der ehem. Bäckerei Deter angebracht. Sie verschwand vor einigen Jahren spurlos. Tatsächlich wurden drei Todesurteile verkündet, zwei davon vollzogen.

 

Nach 1945 wird es viele Jahrzehnte still. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang gerät die Geschichte vom Brotaufruhr der Frauen in Vergessenheit. Selbst die Angehörigen der Opfer halten sich bedeckt. Dietrich Elchlepp lebt in Denzlingen bei Freiburg. Er gehört zur Familie der hingerichteten Margarete Elchlepp: „Ich erinnere mich noch sehr genau, wie die Familie allerdings nur sehr leise darüber sprach, mit einem gewissen Erschrecken auch im Gesicht. Aber es wurde nicht ausführlich über diese Ungeheuerlichkeit gesprochen. Man wollte es und konnte es anfänglich gar nicht glauben, was geschehen war. Das wohl der Hintergrund für das Schweigen“,  Der heute 83-jährige Ministerialdirigent i. R. über den tragischen Tod seiner Tante: „Ich war bei Kriegsende acht Jahre alt. Von meinem Onkel Walter (dem Witwer) weiß ich nur, dass er sagte, sie sei wegen einer Nichtigkeit kurz vor Kriegsende hingerichtet worden“.

Was wurde aus dem fanatischen NS-Mann Gathemann? Über ein dreiviertel Jahr ließ das angefragte Moskauer Justizministerium auf eine Antwort warten. Ende 2021 teilte der russische Militärstaatsanwalt auf unsere ZDF-Anfrage mit, dass NS-Ortsgruppenführer Gathemann am 1. August 1945 hingerichtet wurde. Er habe sich an „Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit“ schuldig gemacht. Das bedeutet: Auch der Denunziant Gathemann war nach Kriegsende denunziert worden.Wo genau das Urteil „Tod durch Erschießen“ vollzogen wurde, teilte die russische Justiz nicht mit.

1998 organisierten einige couragierte Bürger eine Gedenktafel am Ort des schrecklichen Geschehens. Die ehemalige Bäckerei wurde mittlerweile verkauft, das Haus vorbildlich renoviert, nur die Tafel verschwand. Seit 2016 versucht der Verein Bürger für Rahnsdorf  wieder eine Gedenktafel am Haus anzubringen. Der neue Hausbesitzer weigerte sich. Nach nun mehr als sechs Jahren Debatten, Petitionen und anschließendem Berliner Behördenbingo soll jetzt tatsächlich „noch in diesem Jahr“ eine neue Gedenk-Stele vor der ehemaligen Bäckerei aufgestellt werden. Diesen Informationsstand teilte der Bürgerverein Rahnsdorf mit. Stand: Anfang April 2022.