Archive for : Oktober, 2021

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Ein weites Feld

Buchhändler Kaspar hat eine Menge erreicht. Er hat seinen Traumjob, ist an der Welt interessiert und wähnt sich in der Regel auf der richtigen Seite. Nur mit seiner Frau, da läuft alles schief. Seine erste große Liebe stirbt früh, an Alkohol, Kummer und Verzweiflung. Die Frau, die der Mann aus dem rheinischen Westen im Osten kennengelernt hatte. Auf dem Bebelplatz in Berlin-Mitte, während eines FDJ-Treffens in den Sechzigern. Birgit, so heißt sie in Bernhard Schlinks neuem Buch „Die Enkelin“, ist strahlend, schlagfertig, einfach anders als die anderen. Nicht ideologisch borniert, sondern offen und neugierig. Er organisiert einen Fluchthelfer. Sie lässt die DDR zurück und ihre Tochter. Das verschweigt sie bis zu ihrem frühen Tode. Kaspar fällt aus allen Wolken. Er macht sich auf die Suche nach der unbekannten Tochter.

 

Die verschwiegene Svenja wächst in einer SED-treuen Familie auf. Auch sie erfährt hier nur ein kurzes Glück. Sie flüchtet wie ihre Mutter. Nicht in den Westen, sie begehrt im Osten auf. Nimmt im Nachwende-Land Drogen, surft in der S-Bahn und verprügelt Menschen, die anders aussehen oder nicht in ihr Weltbild passen. Sie heiratet einen rechten Siedler, zieht zu ihm aufs Land. Sie hält den Holocaust für ein „Wessi-Ding“ und feiert Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess als Märtyrer. Svenja rebelliert nicht aus Sattheit, auch nicht aus Langeweile oder weil es gerade cool ist, sondern weil sie es ernst meint. Die völkischen Eltern nennen ihre gemeinsame Tochter Sigrun. Auch sie ist ein heranwachsendes Mädchen, das stolz ist auf ihr Land und die Tagebücher der Anne Frank für eine Fälschung hält. Sigrun ist die Enkelin des Buchhändlers.

Bernhard Schlink gehört zu den Autoren, die bei ihren erzählerischen Abenteuern in die Abgründe des Alltages aufmerksam in den Rückspiegel schauen. Dort entdeckt er Beunruhigendes. Schon lange kümmert sich der Jurist und Bestseller-Autor („Der Vorleser“) um die Frage, was sich im rechten Spektrum zusammengebraut hat. Die Szene der völkischen Siedler ist ein großes, weites Feld. Es reicht von Impfgegnern über Verschwörungsanhänger bis zu einem militanten rechten Kern, der Gewaltmärsche organisiert und sich auf den Tag X vorbereitet. Die Völkischen haben ihre eigenen Foren und Codes. Bei ihnen heißt es Handtelefon statt Handy, Weltnetz statt Internet. Denn: „Des Volkes Seele lebt in seiner Sprache“. Bei aller Volkstümelei sind sie jedoch vernetzt von Bautzen bis Boston. Von Bologna bis Budapest.

 

Jurist und Autor Bernhard Schlink. „Wiedervereinigung noch nicht vollendet.“ Foto: Diogenes

 

Der Großvater kämpft um die Seele der verlorenen Enkelin. Er will Sigrun zurückgewinnen. Er holt sie vom Land, zeigt ihr seine Buchhändler-Welt. Er setzt auf Bach, Brahms und Beethoven. „Du hast ein Ohr für Musik, Sigrun, und Hände fürs Klavier. Du hast etwas Besonderes, etwas Kostbares – lass die Politik raus.“ Mach was aus deinem Leben, fleht der Mann des Wortes. Das Klavierspiel als Ausstieg aus der Welt der völkischen Siedler mit ihrem Hass und ihren Hakenkreuzen, gepierct am Ohr, getragen bei Gemeinschaftsfeiern unterm wallenden Haar? Es hat etwas Berührendes, wie Schlink seinen Buchhändler auf die Ideale von Goethe und Schiller setzen lässt. Die Aufgabe der Deutschen sei nicht die Entfaltung von Macht und Zerstörung, sondern die Erneuerung und Weiterentwicklung von Kultur. So will er die Enkelin aus dem Reich der rechten Verführer entreißen. Mit Bach und Rilke. Ob das gelingt? Es lohnt sich, dem versierten Erzähler Bernhard Schlink bis zur letzten Zeile zu folgen.

Bernhard Schlink. Die Enkelin. Diogenes.

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„Drei-Treppen-hoch-Leute“

Eine schöne Wohnung. Hell, geräumig, bezahlbar. Mitten in Berlin. Am besten mit Dachterrasse. Blick auf Fernsehturm, Park und Spree. In der verkehrsberuhigten, begrünten Straße Kneipe, Club und in der Nähe einen gepflegten Italiener. Dazu nette Nachbarn. Hausfeste. Stets ein Parkplatz vor der Tür. Wenn´s sein soll, Nightlife – bis der Arzt kommt. Wer will das nicht? Alles eine Frage des Portemonnaies. Wer zahlungskräftig ist, kann in der Hauptstadt eine Menge haben. Der Boom will nicht enden. Wer nicht mithalten kann, hat Pech gehabt. Alles neu? Von wegen. Geschichte wiederholt sich.

 

Theodor Fontane gehörte mit seiner Familie zu den „Trockenbewohnern“ in Berlin. Kunstdruck: Jürgen Wölk

Der Mann – ein renommierter Dichter, aber knapp bei Kasse – ist Anfang fünfzig, im besten Alter. Frau, vier Kinder. Die Familie ist „Trockenbewohner“ einer feuchten Parterrewohnung am Landwehrkanal. Der Eigentümer, ein Holzhändler, erhöht kräftig die Miete. „Geht nicht anders. Ich will auch vom Leben was haben.“ Der arme Poet bittet um Gnade. Es hilft kein Betteln, kein Klagen. Die sechsköpfige Familie in der Tempelhofer 51, parterre, muss raus. Wir schreiben das Jahr 1871. Berlin ist im Gründerrausch. Der gekündigte Parterrebewohner heißt Theodor Fontane. Nun beginnen seine mühsamen Wanderungen auf dem Wohnungsmarkt.

Nur wenig später, im März 1872 müssen die Fontanes auch ihre nächste Bleibe am einstigen Anhalter Bahnhof in der heutigen Stresemannstraße verlassen. Wieder zu teuer. Familie Fontane macht ein weiteres Mal Bekanntschaft mit drastischen Mietsteigerungen, Verdrängung und herzlosen Vermietern. Fontane schreibt an seine Freundin Mathilde von Rohr: „Ich weiß nicht, ob ich Ihnen schon schrieb, dass unser Haus verkauft ist, dass die Mieten mindestens verdoppelt werden, und dass wir alle ziehen.“

 

 

Am 3. Oktober 1872 ziehen die Fontanes in die Potsdamerstr. 134 c. Drei Treppen links. Hier tanzen Kakerlaken auf den Dielen. Es stinkt erbärmlich. Sohn Friedrich beschreibt die neue Bleibe als schäbig und furchtbar heruntergekommen. Egal. Die Familie wohnt nun immerhin im Vorderhaus. Doch die Vormieterin, eine ältere alleinstehende Frau muss weichen. Sie zischt beim Auszug dem neuen Nachmieter Fontane zu: „Na, Freude soll er hier nicht erleben.“ Fontanes sind von nun an „Drei-Treppen-hoch-Leute“. Fontane ist zufrieden. „Drei Treppen hoch wohnt sich´s gut“. Der soziale Aufstieg. Hier schreibt er seine letzten großen Romane über den Untergang einer ganzen Epoche. Effi Briest lässt grüßen. Hier bleibt der Mieter Fontane bis zu seinem Tode 1898.

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Wenn der Schuh drückt

Es riecht nach Leder und nach frischem Kleber. Endlich geschafft! Ein Schuster, der noch besohlt. Mittlerweile sind Handwerker gefragt wie eine bezahlbare Wohnung in der Innenstadt. Schuhmacher sind mindestens so begehrt wie faire Vermieter. Schnaufend erbarmt sich Meister Luschanski aus dem hinteren Teil seiner kleinen Werkstatt in den Verkaufsraum. Mit Kennerblick zieht er seine buschigen Augenbrauen kraus, als er meine desolaten Treter auf dem Ladentisch begutachtet. Es ist ein dänischer Markenschuh, keine Billigware. Er ist mir an den Fuß gewachsen. Ich will mich nicht trennen. Die Gummi-Sohle hat sich an der Schuhspitze aufgerollt. Akute Solpergefahr. Mmh, meint der Meister. „Alles Plastik! Keine Qualität. Das hält höchstens drei, vier Jahre.“ – „Vor genau zwei Jahren gekauft“, entgegne ich. „Sehnse, das ist das Elend. Ein Wegwerfartikel.“

 

 

Ich bereite mich auf das Schlimmste vor. Ich muss wohl Abschied nehmen von meinen bequemen Fußgefährten. „Macht 89 Euro! Mit Ledersohlen, die auch halten“, sagt der Meister und sieht meine überraschten Augen sprechen. „Gut. Ich mach´s für 80,-. Gegen Vorkasse aber nur in bar. Kartengerät habe ich nicht. Zwei Wochen Wartezeit. Ich habe viel zu tun.“ Ein „Noch“ schiebt er rasch hinterher. Schuster seien ein aussterbender Beruf, wie früher die Kohlekumpel. Die Zeiten seien längst vorbei, als es für seinen Berufsstand hieß „Handwerk hat goldenen Boden.“ Dann legt er los. Erzählt, dass er von einigen anhänglichen älteren Herrschaften aus den besseren Berliner Vierteln lebe, die ihre Schuhe bis zu zwölf- oder dreizehn Mal besohlen lassen. „Gute Schuhe können ein Leben lang halten“, betont er. „Drei bis vier Paare reichen. Mehr braucht kein Mensch“. Aber die Generation Greta trage nur noch Turnschuhe oder Sneakers. Die landen zum Saubermachen in der Waschmaschine, wenig später im Mülleimer.

 

Schuhe zum Lüften. Gesehen in Flensburg.

 

Tja. So ist das, sagen seine Augen. Er prüft noch einmal die kaputte Plastiksohle. Dann lehnt sich der Meister über den Ladentisch. Nachhaltig soll alles sein, erklärt er, die Umwelt wolle man schützen, aber die Menschen trügen heutzutage zusammengeklebte Plastiktüten um die Füße. Gesund sei das nicht. Nicht für die Füße. Nicht für die Umwelt, nicht für den Mittelstand, der noch repariert und bewahrt. Schuhmacher befänden sich auf verlorenem Posten. Von der eigenen Hände Arbeit könne keiner mehr richtig leben, sprudelt es weiter. Vielleicht wird aus seinem Laden bald ein Sushi-Lieferservice oder ein Späti.

 

Frisch besohlt? – Nur gegen Vorkasse.

 

Ob er Hoffnung habe, dass sich was ändere? Meister Luschanski lacht kurz laut und gallig auf. „Christian Lindner verspricht uns ja alles. Aber am Ende denkt er nur an sich selbst. Kannste abhaken!“ Ich gebe ihm meine Anzahlung. Er überreicht mir den Abholschein wie eine Reliquie und dankt für mein Vertrauen. Ach, was für ein schönes altmodisches Wort: Vertrauen.