Archive for : Juli, 2022

post image

Viva Santana

Anfang Juli klappte der 75-jährige Musiker einfach zusammen. Mitten im Stück ungefähr nach vierzig Minuten seines Auftritts im Pine Knob Music Theatre in der Nähe von Detroit. „Latin Rock-Legende Carlos Santana ist während eines Konzerts zusammengebrochen“, meldeten die Agenturen. Er habe zu wenig getrunken, hieß es, sei dehydriert. Mittlerweile gehe es ihm wieder gut. Seine Segen und Wunder-Tour 2022 musste unterbrochen werden. Wer in seinen Tourneeplan schaut, wundert sich in der Tat, was der 75jährige Gitarrist leistet. Auf der Bühne bis zum letzten Akkord? Liegt es in seinen Genen? Santana stammt aus einer Musikerfamilie. Geboren und aufgewachsen in Mexiko, lernt er bei seinem Vater zunächst Geige.

 

 

Als seine Eltern 1960 in die USA einwandern, begeistert sich der Teenager in seiner neuen Heimat San Francisco für die Gitarre und B.B. King. Der Vierzehnjährige will Musiker werden – wie sein Vater. Er jammt in Kellern, spielt in Kirchen oder Striptease-Clubs. Rasch entwickelt er einen eigenen Stil, den Latin-Rock. Diesen kombiniert er mit Blues- und Jazzeinflüssen. Mit 22 Jahren wird Santana in einer Dreiviertelstunde weltberühmt. Im Juli 1969 versetzt der Nobody in Woodstock das Publikum in Ekstase. Die junge Band spielt und trommelt sich in einen musikalischen Rausch. Der Woodstock-Filmausschnitt mit Soul Sacrifice ist Legende. Santana: „Es war beängstigend, auf ein Meer von Menschen zu blicken, ohne überhaupt eine Platte auf dem Markt zu haben. Plötzlich stehst du mit auf der Bühne mit Jimi Hendrix, Sly Stone, The Who“.

 

 

Sommer 1970. Ferienlager auf der Nordseeinsel Juist. Ich entdecke den Santana-Sound. Da bin ich zwölf, habe dank meiner zwei älteren Brüder ein wenig Einblick in die neue Rockwelt. „Samba Pa Ti“ „und „Oye Como Va“ werden meine Songs. Ich träume vom ersten Kuss, während mein Bettnachbar auf Mango Jerrys „In the Summertime“ steht. Er hat deutlich mehr Erfolg. Beim Abschlussfest schafft er es bis zum Zungenkuss, mit einem Mädchen aus der älteren Gruppe. Wow! Mir bleibt Santana. Er tröstet mich mit „Evil Ways“ oder „Black Magic Women”. Seitdem folge ich seiner musikalischen Weltreise nach Afrika (Caravanserai) oder Indien (Love, Devotion, Surrender mit John McLaughlin). Ich lese Sätze von ihm wie: „Wenn ich nach Jerusalem reise, spiele ich dort nicht nur für Juden, sondern für alle. Trete ich in St. Quentin auf, dann nicht nur für Mexikaner. Denn ich bin Woodstock und die Vereinten Nationen. Ich repräsentiere keine bestimmte Fahne, sondern Menschlichkeit. Ansonsten ladet mich gar nicht erst ein – denn das ist mir wichtig.“

 

 

Als Santana in den Achtzigern und Neunzigern nur wenig zustande bringt, bin ich trotzdem in der Deutschlandhalle, hänge im Regen in der vollen Waldbühne, über der eine riesige Kifferwolke schwebt. Als Carlos 1999 mit „Supernatural“ ein Comeback feiert, bin ich überrascht. Diesmal Crossover mit Kids aus der Rap- und Soulszene. „Maria, Maria“ und „Smooth“ werden Welthits. Santana verkauft das Album Supernatural 25 Millionen Mal, während die Kitsch-Grenze bedenklich näher rückt. Einige Songs aus dieser Zeit werden in Einkaufszentren gedudelt. Doch: Der bekennende Alt-Hippie Carlos Santana hat Substanz und eine Mission. Seine Botschaft. Musik kann die Welt zu verbessern. Daran glaubt er: „Heilung kommt, wenn du krank vom Kranksein bist“. Mit dem „Healer“ gemeinsam mit Blues-Legende John Lee Hooker zaubert er eine geniale Coproduktion aus dem Hut. „Musik ist nicht Playback. Musik ist Singen mit der Seele“.

 

 

Santana gehört zu meinem Leben, ist Soundtrack seit meiner frühesten Jugend. Natürlich will ich nicht wahrhaben, dass er alt geworden ist. (genau wie ich) Aber wenn ich in stillen Stunden an den ersten Kuss denke, dann beginnt seine Gitarre „Samba Pa Ti“ oder „Europa“ in meinem Kopf zu spielen. Ich beginne zu träumen und denke: Wer, bitte schön, ist Mungo Jerry?

 

75 Jahre Santana. 100 Millionen verkaufte Alben, 10 Grammys und eine Hoffnung: Mit Musik eine bessere Welt schaffen.

post image

Sax und Bach

Sie steht im Mittelpunkt. Ganz in weiß. Das Ensemble der lautten compagney trägt schwarz. Das Saxofon glänzt golden, sobald Solistin Asya Fateyeva loslegt. Ein Crossover-Abend. Klassische Musik des 17. Jahrhunderts trifft auf Klassiker des 20. Jahrhunderts. Henry Purcell jammt mit den Beatles. Die Saxofonistin schenkt dem Abend Seele, Leidenschaft und Können. Das Beste: Sie spielt ihre Soli, ohne sich als Star zu inszenieren. Faszinierend. Saxofon und Klassik. Geht das? Aber klar doch, wenn Asya ihrem Messing-Gerät den nötigen Atem schenkt. Als die junge Saxofonistin mit der „Alte-Musik-Band“ den Beatles-Oldtimer „When I am 64“ anstimmt, geht ein Raunen durch das Publikum. Die Zielgruppe gluckst selig. Die Babyboomer-Generation schwelgt in Jugendzeiten. Yesterday. Ach, wie schön!

 

 

Asya Fateyeva (*1990), Tochter eines Profifußballers, wächst in Kertsch am östlichsten Zipfel der Krim auf. Ihre Kindheit riecht nach feuchter Salzluft, sagt sie. Mit sechs lernt sie Klavier, dann bringt der Vater ein Saxofon mit nach Hause. „Ich glaube, ich war neun Jahre alt. Ich kann mich gut an den Koffer erinnern. Er war aus blauem Samt, das Saxofon silbern. Er hat sich dann in eine Ecke gestellt, gegen die Wand, um zu üben. Wenn man so spielt, glaubt man, man klingt fantastisch. Die Resonanz ist enorm. Man hat es nicht nur in der Wohnung, sondern im ganzen Haus gehört. Aber beschwert hat sich keiner.“ Asya lernt das Instrument, pendelt zwischen Moskau und der Krim. Sie belegt Kurse am renommierten Gnessin-Institut in Moskau, später im französischen Gap. 2004 zieht die Familie nach Hamburg. Für Asya mit vierzehn Jahren ein Neuanfang.

 

 

Doch ihre Welt ist die Musik. Ihre Heimat das Saxofon: “Musik ist nicht einem einzigen Instrument vorbehalten!” Als klassische Saxofonistin ist sie eine doppelte Außenseiterin. Als Frau mit einem eher typisch männlichen Instrument. Dazu das Vorurteil: Klassisches Sax – geht gar nicht! Der taz sagte sie 2016: „Ich habe noch immer diesen Komplex, dass ich nicht richtig dazugehöre. Dass die anderen hochnäsig auf mein Instrument herabschauen würden. Man kennt diese Zeichnung aus der Nazizeit: Ein Schwarzer spielt Saxofon, davor der Schriftzug „ent-artete Musik“. Sowohl im Dritten Reich als auch in der Sowjetunion war Jazz verboten. Und damit auch das Saxofon. Man hat immer noch diese Vorurteile. Man vergisst leider den Ursprung des Instruments: Mitte des 19. Jahrhunderts, Hochromantik, von dem Belgier Adolphe Sax in Paris patentiert. Es ist wichtig, dass die Leute hören, was das Saxofon kann.“

Asya gewinnt als erste Frau den Internationalen Adolphe Sax-Preis. Der Belgier Sax hatte 1846 seine Erfindung in Paris patentieren lassen. Er baute in seiner Werkstatt mehr als 20.000 Saxofone. 1894 starb er als armer Mann. In den Golden Twenties erlebt sein Saxofon den großen Durchbruch im Jazz. Asya schwärmt von den Möglichkeiten: „Auf dem Saxofon spielt man mit dem Atem. Das ist viel näher dran an einem selbst. Mit mehr Luft spielst du lauter, der Klang vibriert im Körper, man kann mit dem Klang mitleben. Wie ein Sänger.“

 

 

Mittlerweile hat die 32-jährige Künstlerin zahlreiche wichtige Preise abgeräumt. Aber ihre Leidenschaft gehört dem Experimentieren. Sax und Bach, gerne mit der Goldberg-Variation. Sax mit Kurt Weill und der Zuhälter-Ballade. Sax mit Mozart oder Chopin. Anything goes! Ihr Traum? „Selbst Musiker haben Vorurteile gegen das Saxofon und Schranken im Kopf. Wir brauchen mehr Offenheit.“ Asya Fateyeva übt täglich drei Stunden. „Minimum!“  In ihrer Wahlheimat Hamburg ist sie an den Stadtrand gezogen, weil sich Nachbarn beschwert hatten. Keine Frage: Sax ist wild. Sax ist laut. Sax hat Power. Und viel Gefühl. Das beweist jedes Konzert mit Asya Fateyeva. Oh, that Sax!

 

Asya Fateyeva. Foto: Neda Navaee.

post image

Stimmwunder

Als ich neulich ihre Stimme im Radio hörte, war ich hin und weg. Ein kurzer Live-Auftritt abends, unplugged. Die Stimme hell und klar, ausdrucksvoll, mit großer Bandbreite. Erster Eindruck: Auffallend anders, die Frau kann famos singen und hat mit ihren Texten auch noch etwas zu sagen. Als ich ihren Namen hörte, machte es Klick. Katharina Franck. Da war doch was? Richtig! Die Rainbirds. Eine Berliner Kultband. Unverwechselbarer Gitarrensound. Die Achtziger vor Augen suchte ich im Netz ihren größten Hit: Blueprint. Ihr Durchbruch. Wie Phoenix aus der Asche der ausgebrannten Neuen Deutschen Welle stieg die Band im Herbst 1987 empor. Eine halbe Million verkaufte Alben, lese ich nach, Goldene Schallplatte und Hymnen ohne Ende wie „Sternstunde der deutschen Pop-Musik“. Katharina Franck vorneweg. Markenzeichen Kurzhaarschnitt. Dann war sie weg. Ein Fall, wie man eine Karriere vermeidet?

 

 

Ein Jahr vor dem Mauerfall, sagte Katharina Franck auf dem Höhepunkt der Rainbirds  im Spiegel: „Wir sind irgendwie normal und stellen nicht dar, was wir nicht sind. So etwas überzeugt die Leute. So wie wir aussehen, klingen wir auch“. Die Band brauchte weder Insta-Fotos oder TikTok-Schnickschnack um europaweit bekannt zu werden. Nach zwei langen Sommern brach die Band auseinander. „Es ging damals alles viel zu schnell . . . Wir haben nach außen hin ein sehr klares Gruppenbild abgegeben, aber innen drin gab es große Probleme, weil wir aus dem Proben und Spielen und Interviews geben gar nicht mehr herausgekommen sind. Nach der zweiten Tour war ich auch körperlich einfach am Ende, ich habe mich teilweise durch die Konzerte nur noch hindurch gehustet“.

Katharina Franck machte sich auf eine lange Reise, auf die nicht einfache Suche nach neuen Wegen. Die Diplomatentochter produzierte Hörspiele, experimentierte mit Avantgarde-Künstlern aus dem Umfeld der Einstürzenden Neubauten. Sie veröffentlichte Spoken-Word- Platten, vertonte literarische Größen wie Rilke oder Fontane in Reinhardt Repkes’ „Club der Toten Dichter“. Als Proberäume in Berlin unbezahlbar wurden, zog die gebürtige Düsseldorferin in ein altes Forsthaus bei Neuruppin aufs Land. Auf die Frage, was eine berufliche Alternative wäre, sagte sie einmal: „Schleusenwärterin“. Ihr größter Traum? „Dass die Würde aller Menschen wirklich unantastbar wird“.

 

 

Wenn Katharina Franck singt, dann jubilieren meine Ohren, als würden Regenvögel einen neuen Morgen begrüßen. Auch wenn die Zeit ihrer Hits vorbei sein mag, Katharina Franck ist eine Wiederentdeckung wert. Im September will die bald 69-jährige Künstlerin Neues vorstellen.

post image

„Ich bin der Waffenhändler der Ukraine“

Update: Am 9. Juli 2022 entließ der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij mit dem Dekret 479/2022 Botschafter Andrij Melnyk. Dies sein ein normaler Vorgang.

Der Mann ist seit Monaten in aller Munde. Andrij Jaroslawowytsch Melnyk. Ukrainischer Botschafter. 46 Jahre. Die „verbale Panzerhaubitze“ Kiews im Westen. Der gebürtige Lwiwer (Lemberger) studierte Chemie, Jura und Internationale Beziehungen und war während der Maidan-Proteste Aktivist. „Ich war der Fahrer des Maidans“. Der ungewöhnlichste Diplomat auf deutschem Boden sagt über sich selbst: „Ich bin ein moderater Mensch. Kein Radikaler. Ich will Menschen überzeugen. Durch die Kraft des Wortes“.

Dabei versteht Melnyk seine Mission als Abwehrkampf eines überfallenen Landes, das um sein Überleben ringt. In dieser Notwehrsituation – „jede zweite ukrainische Familie ist kriegsbetroffen“ – feuert er seine Verbalattacken auf die Trägheit bundesdeutscher Entscheidungsträger, wie es ihm beliebt. Wie einst Trump twittert er gegen die deutsche Elite in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Einen SPD-Politiker titulierte er als „Arschloch“, den Bundespräsidenten als Russenfreund und Verfasser von Friedensappellen als „pseudo-intellektuelle Versager“, die sich „zum Teufel scheren“ sollten. So viel Trommelfeuer war noch nie – von einem Diplomaten.

 

 

Jetzt legte Andriy Melnyk in einem dreistündigen Gespräch bei jung&naiv nach. Im Viertelstundentakt krachte es: „Alle Russen sind meine Feinde“. „Russland hat ein faschistisches System“. „Putin ist schlimmer als Hitler und Stalin“. „Wir haben Merkel naiv vertraut. Das war ein Fehler“. „Ich bin der Waffenhändler der Ukraine“. „Die Menschen aus der Rüstungsindustrie sind die nettesten Menschen, die ich kennenlernen durfte“. „Bandera war kein Massenmörder“.

 

Stepan Bandera. (1909-1959) Ukrainischer Nationalheld oder Nazi-Kollaborateur? Foto Grzegorz Rossoliński-Liebe

 

Bandera? Ein Name, ein Mythos, ein Streitfall. Wer ist dieser Stepan Bandera? National-Held oder Nazi-Halunke? Der Priestersohn aus Staryj Uhryniw, Ostgalizien wurde 1909 in das zerfallende Habsburger Reich hineingeboren. Seine Jugend erlebte er als Angehöriger der ukrainischen Minderheit im neuen Polen. Der glänzende Redner stieg 1933 zum Prowidnyk, zum Führer der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) auf. Die militante OUN-Bewegung orientierte sich an ihren Vorbildern Hitler und Mussolini. Sie wollten einen unabhängigen, homogenen ukrainischen Staat ohne Juden und Polen. Aus diesem Grund ermordete die OUN 1934 den polnischen Innenminister Bronisław Pieracki. Bandera wurde verurteilt.

Bandera erklärte, dass im Kampf um die Freiheit der Ukraine „nicht nur Hunderte, sondern Tausende Menschenleben geopfert werden müssen“. Nach dem Hitler-Überfall auf Stalins Sowjetunion sah Bandera seine Stunde gekommen. Er proklamierte am 30. Juni 1941 in Lemberg einen neuen Staat, doch Hitler verweigerte dieser Ukraine die Aufnahme in sein „Neues Europa“. Hitler hatte völlig andere Pläne und ließ ihn verhaften. Bis Herbst 1944 war Bandera Sonderhäftling in Sachsenhausen, allerdings mit Wohnzimmer, Teppich und einer Versorgung, von der andere KZ-Häftlinge nur träumen konnten.

 

Lemberger Pogrom Anfang Juli 1941. Foto Grzegorz Rossoliński-Liebe

 

Die Bilanz von Banderas Freiheitskampf? Seine Milizen töteten im Juli 1941 in Lemberg Zehntausende Juden und im März 1943 rund 100.000 Polen. Zehntausende vertrieben sie aus der Westukraine. Bandera hatte persönlich nichts damit zu tun. Doch die OUN-Milizen, die an Massakern, Deportationen und Vertreibungen beteiligt waren, betrachteten ihn als ihren Prowidnyk, ihren Führer, wie u.a. der polnische Historiker Grzegorz Rossoliński-Liebe in seiner Promotion nachwies.

 

Feierstunde zu Ehren Stepan Banderas in München am 17.10.2009 Foto Grzegorz Rossoliński-Liebe

 

Nach dem II. Weltkrieg setzte sich in der Ukraine der brutale Partisanenkrieg mit mehr als Hunderttausend Todesopfern bis in die 50er Jahre fort. Stepan Bandera unterstützte diesen Kampf aus seinem deutschen Exil. Nach den tödlichen Schüssen durch den KGB-Agenten Bohdan Staschinski am 15. Oktober 1959 in München erreichte der Bandera-Kult neuen Auftrieb. Seit dem Ende der Sowjetunion wurden in der Westukraine 46 Denkmäler für Bandera aufgestellt. In der Ostukraine und besonders im Putin-Russland wird er hingegen als Verräter und Faschist wahrgenommen. Für Botschafter Andrij Melnyk ist der 2010 zum „Helden der Ukraine“ ernannte Lemberger der „Inbegriff des Freiheitskämpfers“. Als eine seiner ersten Amtshandlungen in Deutschland besuchte er im April 2015 dessen Grab im Waldfriedhof von München.

US-Historiker Timothy Snyder in Prag über Stepan Bandera.

https://youtu.be/cke7G5_2-ak