Wolfskinder
Es ist seine 66. Tour nach Litauen. Mit seinem privaten Skoda und vollbepacktem Anhänger zuckelt der 81-jährige Günter Toepfer zu seinen „Wolfskindern“. Es ist eine weite, beschwerliche Reise ins ehemalige Memelland, im heutigen Litauen. Der Berliner Ingenieur hält seit einem Vierteljahrhundert an seiner Hilfs-Mission fest: Er kümmert sich um die letzten Überlebenden. Er will, dass die deutschen Kriegskinder von 1945 nicht vergessen werden. Heute leben noch zwei Dutzend der einst 7.000 Waisenkinder aus Ostpreußen. Kinder, die zwischen alle Fronten gerieten. Die Bundesrepublik konnte sich erst im Jahre 2017 zu einer einmaligen Entschädigung von 2.500 Euro pro Person durchringen. Ein privater Förderverein um den ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Wolfgang Frhr. v. Stetten finanziert seit einigen Jahren eine monatliche Unterstützung von rund 150 Euro. Es sind mittlerweile noch 23 Überlebende.
Die Wolfskinder sind litauische Bürger, hochbetagt und leben äußerst bescheiden, so Günter Toepfer. Deutsch haben sie verlernt. Manche können noch ein paar Worte oder die Strophe eines Kinderliedes. Nach Kriegsende flüchteten die Kinder in die Wälder von Ostpreußen, versuchten über die Memel ins sichere Litauen zu kommen. Sie schlossen sich zu Gruppen zusammen, kämpften gegen Kälte und Hunger, klauten, kratzten Rinde von den Bäumen. Sie mussten ihre Sprache verleugnen, um bei litauischen Bauern eine Chance zu haben. Die Kleinen galten als „Hitler-Kinder“, als Nachgeborene von Nazis und Faschisten. Sie waren Strandgut von Hitlers Größenwahn. Verloren und verdammt, verdrängt und vergessen.
Wolfskind-Unterstützer Toepfer hat vor einiger Zeit ein litauisches Filmteam beauftragt, das Schicksal der Kinder festzuhalten. So entstand ein privat finanzierter 77-minütiger Zeitzeugen-Film, der unter die Haut geht. Waltraut, Gisela und all die anderen erzählen aus ihrer Kindheit: wie die Rote Armee Heimat, Haus und Hof überrollte, wie sie allein zurückblieben. Sie berichten von Angst und Gewalt, Hoffnung und Überlebenswillen. Wer Glück hatte, fand hilfsbereite litauische Bauern, die sie retteten. Andere jagten die fremden Kinder vom Hof, auch weil die einheimischen Bauernfamilien fürchteten, denunziert und somit selbst nach Sibirien verbannt zu werden.
Die Kinder des Krieges kommen nun fast achtzig Jahre nach der NS-Katastrophe selbst zu Wort. Die litauische Produktion „Wolfskinder“ umkreist die Frage: Was macht Krieg mit Kindern? Eine Frage, die heute in Europa leider wieder hochaktuell ist. Wer hätte das jemals gedacht?
Stimmen aus „Wolfskinder“ (Litauen, 2022):
GISELA LAUNER
„Mama und mein Großvater gingen neben dem Wagen. Auf dem Weg dann – ich weiß nicht, wie es passierte – wurden meine Mutter und mein Großvater von den Russen erschossen. Niedergeschossen neben dem Wagen.“
GISLINDE LUTKUS
“Nachts hörte ich meine Schwestern schreien und wimmern, dass meine Mutter im Sterben liege. Sie ist dann gestorben. Die Leute begruben sie auf dem Friedhof in Maironai im Bezirk Kelmé.“
WALTRAUT MINNT
“Meine Schwester ist von den Soldaten umgebracht worden und mein kleiner Bruder war an Hunger gestorben. Und was mit meiner Mutter geschah, weiß ich nicht. Alle waren nach Russland deportiert worden.“
“Ich übernachtete auf den Feldern und im Wald. Als es Herbst wurde, vergrub ich mich oft in einem Heuhaufen. Ich ging zum Schlafen in die Heuschober und in die Ställe der Höfe. So war es eben. Ich aß, was man mir zu essen gab. Es gab immer irgendetwas. Wenn ich Kartoffeln bekam, habe ich sie nicht kochen können, wo hätte ich sie kochen sollen? Wenn man den Hunden das Fressen brachte, rannte ich dorthin, um es ihnen wegzunehmen. Ein Hund hat mich mal ins Bein gebissen. Wir haben die ganze Zeit ums Überleben gekämpft. Es war so. Was hätte man anderes machen können?“
“Vor Hunger haben wir dann Katzen und Hunde gegessen. Andere sagten, sie hätten Ratten gegessen. Ich nicht. Ich habe nur Katzen und Hunde gegessen. Es gab einfach nichts zu essen. Rohes Fleisch – wir haben alles gegessen. Herr vergib mir, ich dachte manchmal, wir wären besser alle gestorben.“
GERTRUD SCHULZ
“Ich bin überall gewesen. Ich war in Klajpeda/Memel aber nicht nur dort. Ich bin in allen Dörfern herumgekommen. Aber … es gab gute Menschen und es gab schlechte. An den Schlechten lag es, dass ich im Wald übernachten musste. Ich habe auch auf Friedhöfen geschlafen.“
HARZ GLADSTEIN
„Aber man uns deshalb auch Wölfe getauft, weil wir wie hungrige Wölfe waren. So blieben wir die Wolfskinder.“
Der litauische Film „Wolfskinder“ (2022) sucht einen deutschen Abnehmer. Es gibt viele Anfragen, wann der Film auch bei uns zu sehen ist. Wenn ich genaueres weiß, werde ich Bescheid geben.