Archive for : August, 2023

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Wolfskinder

Es ist seine 66. Tour nach Litauen. Mit seinem privaten Skoda und vollbepacktem Anhänger zuckelt der 81-jährige Günter Toepfer zu seinen „Wolfskindern“. Es ist eine weite, beschwerliche Reise ins ehemalige Memelland, im heutigen Litauen. Der Berliner Ingenieur hält seit einem Vierteljahrhundert an seiner Hilfs-Mission fest: Er kümmert sich um die letzten Überlebenden. Er will, dass die deutschen Kriegskinder von 1945 nicht vergessen werden. Heute leben noch zwei Dutzend der einst 7.000 Waisenkinder aus Ostpreußen. Kinder, die zwischen alle Fronten gerieten. Die Bundesrepublik konnte sich erst im Jahre 2017 zu einer einmaligen Entschädigung von 2.500 Euro pro Person durchringen. Ein privater Förderverein um den ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Wolfgang Frhr. v. Stetten finanziert seit einigen Jahren eine monatliche Unterstützung von rund 150 Euro. Es sind mittlerweile noch 23 Überlebende.

Die Wolfskinder sind litauische Bürger, hochbetagt und leben äußerst bescheiden, so Günter Toepfer. Deutsch haben sie verlernt. Manche können noch ein paar Worte oder die Strophe eines Kinderliedes. Nach Kriegsende flüchteten die Kinder in die Wälder von Ostpreußen, versuchten über die Memel ins sichere Litauen zu kommen. Sie schlossen sich zu Gruppen zusammen, kämpften gegen Kälte und Hunger, klauten, kratzten Rinde von den Bäumen. Sie mussten ihre Sprache verleugnen, um bei litauischen Bauern eine Chance zu haben. Die Kleinen galten als „Hitler-Kinder“, als Nachgeborene von Nazis und Faschisten. Sie waren Strandgut von Hitlers Größenwahn. Verloren und verdammt, verdrängt und vergessen.

 

„Wolfskinder“ in Palanga. Zeitpunkt der Aufnahme unbekannt.

 

Wolfskind-Unterstützer Toepfer hat vor einiger Zeit ein litauisches Filmteam beauftragt, das Schicksal der Kinder festzuhalten. So entstand ein privat finanzierter 77-minütiger Zeitzeugen-Film, der unter die Haut geht. Waltraut, Gisela und all die anderen erzählen aus ihrer Kindheit: wie die Rote Armee Heimat, Haus und Hof überrollte, wie sie allein zurückblieben. Sie berichten von Angst und Gewalt, Hoffnung und Überlebenswillen. Wer Glück hatte, fand hilfsbereite litauische Bauern, die sie retteten. Andere jagten die fremden Kinder vom Hof, auch weil die einheimischen Bauernfamilien fürchteten, denunziert und somit selbst nach Sibirien verbannt zu werden.

Die Kinder des Krieges kommen nun fast achtzig Jahre nach der NS-Katastrophe selbst zu Wort. Die litauische Produktion „Wolfskinder“ umkreist die Frage: Was macht Krieg mit Kindern? Eine Frage, die heute in Europa leider wieder hochaktuell ist. Wer hätte das jemals gedacht?

Stimmen aus „Wolfskinder“ (Litauen, 2022):

GISELA LAUNER

„Mama und mein Großvater gingen neben dem Wagen. Auf dem Weg dann – ich weiß nicht, wie es passierte – wurden meine Mutter und mein Großvater von den Russen erschossen. Niedergeschossen neben dem Wagen.“

GISLINDE LUTKUS

“Nachts hörte ich meine Schwestern schreien und wimmern, dass meine Mutter im Sterben liege. Sie ist dann gestorben. Die Leute begruben sie auf dem Friedhof in Maironai im Bezirk Kelmé.“

 

Waltraut Minnt. Snapshot aus dem litauischen Film „Wolfskinder“

 

WALTRAUT MINNT

“Meine Schwester ist von den Soldaten umgebracht worden und mein kleiner Bruder war an Hunger gestorben. Und was mit meiner Mutter geschah, weiß ich nicht. Alle waren nach Russland deportiert worden.“

“Ich übernachtete auf den Feldern und im Wald. Als es Herbst wurde, vergrub ich mich oft in einem Heuhaufen. Ich ging zum Schlafen in die Heuschober und in die Ställe der Höfe. So war es eben. Ich aß, was man mir zu essen gab. Es gab immer irgendetwas. Wenn ich Kartoffeln bekam, habe ich sie nicht kochen können, wo hätte ich sie kochen sollen? Wenn man den Hunden das Fressen brachte, rannte ich dorthin, um es ihnen wegzunehmen. Ein Hund hat mich mal ins Bein gebissen. Wir haben die ganze Zeit ums Überleben gekämpft. Es war so.  Was hätte man anderes machen können?“

“Vor Hunger haben wir dann Katzen und Hunde gegessen. Andere sagten, sie hätten Ratten gegessen. Ich nicht. Ich habe nur Katzen und Hunde gegessen. Es gab einfach nichts zu essen. Rohes Fleisch – wir haben alles gegessen. Herr vergib mir, ich dachte manchmal, wir wären besser alle gestorben.“

 

Gertrud Schulz. Snapshot aus dem litauischen Film „Wolfskinder“

 

GERTRUD SCHULZ

“Ich bin überall gewesen. Ich war in Klajpeda/Memel aber nicht nur dort. Ich bin in allen Dörfern herumgekommen. Aber … es gab gute Menschen und es gab schlechte. An den Schlechten lag es, dass ich im Wald übernachten musste. Ich habe auch auf Friedhöfen geschlafen.“

HARZ GLADSTEIN

„Aber man uns deshalb auch Wölfe getauft, weil wir wie hungrige Wölfe waren. So blieben wir die Wolfskinder.“

Der litauische Film „Wolfskinder“ (2022) sucht einen deutschen Abnehmer. Es gibt viele Anfragen, wann der Film auch bei uns zu sehen ist. Wenn ich genaueres weiß, werde ich Bescheid geben.

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Dem Himmel nah

Aufgeregtes Tuscheln. Kurz vor dem Konzert des hoffnungsfrohen Nachwuchses der Berliner Hochschule der Künste. Großes Orchester, stattlicher Chor, nervöse Anspannung bei allen Beteiligten. Das Ganze ist kostenlos. Das Saallicht verlischt. Die Streicher setzen ein, wenig später Bläser und Chor. Sie tauchen den Saal in ein warmes Wonnebad zum Wohlfühlen. Mit ausladenden Harmonien verwandeln Chor und Orchester meinen Alltag in einen romantischen Rausch der Töne. Die jungen Musikerinnen und Musiker verzaubern mit Klarheit den vierstimmigen Chorsatz und schaffen Momente von schwelgerischer Schönheit.  Nach gut fünf Minuten ist plötzlich Schluss. Beifall brandet auf. War´s das? Ja. Das Frühwerk des 19-jährigen Gabriel Fauré dauert nicht länger. Schade! Mit seiner Vertonung der Hymne von Jean Racine gewann der Franzose 1864 den Komponistenwettbewerb.  Cantique de Jean Racine. Zum Niederknien schön.

 

 

Gabriel Fauré (1845-1924) wuchs als jüngstes von sechs Kindern in der Nähe von Carcassonne auf. Bereits mit acht Jahren spielte der talentierte Sohn eines Schulleiters so gut, dass ihn die Eltern mit neun nach Paris schickten. Er lernte an der Musikschule von Louis Niedermeyer, einem renommierten Musikprofessor in der Rue Neuve-Fontaine-Saint-Georges. In elf Studienjahren (1854-65) gewann Fauré dort Eindrücke für sein ganzes Leben. Der Schweizer Niedermeyer lehrte deutlich progressiver als die angestaubten Professoren des Parisers Nationalkonservatoriums. Er prägte Fauré genauso wie sein späterer Lehrer Camille Saint-Saëns. Faurés Frühwerk Cantique vertonte Jean Racines „Wort, dem Höchsten gleich“, eine Hymne aus dem Jahre 1688. Ein Kritiker schrieb, seine Werke zeichnen sich durch „parfumfreien Charme“ aus. Fauré gilt als geistiger Vater der Impressionisten.

 

Gabriel Fauré im Alter von 19 Jahren. Sturm und Drang.

 

Fauré lebte für die Musik. Seine Brotjobs als Organist waren mickrig bezahlt, mit der Religion hielt er es nicht so streng. Lieber improvisierte Fauré abends in den Pariser Salons. Bald sorgte der Familienvater für Gesprächsstoff. Er verliebte sich in die dreißig Jahre jüngere Pianistin Marguerite Hasselmans, die er jedoch nie heiratete. Später erklomm er die Leitungsebene des renommierten Pariser Konservatoriums. Ein weiterer Skandal für die feine Pariser Gesellschaft. Denn noch nie zuvor hatte ein Musiker diese Position übernommen, ohne vorher das altehrwürdige Konservatorium durchlaufen zu haben. Der Quereinsteiger Fauré modernisierte Lehre und Unterricht, galt gar als „Robbespiere“ des Musikbetriebes. 1903 ließ jedoch sein Gehör nach. Fauré ereilte das gleiche Schicksal wie Beethoven. 1920 war er völlig taub. 1924 starb er. Auf seiner Trauerfeier wurde sein 1887 komponiertes Requiem gespielt – was sonst? Ein großer Wurf, so fesselnd und packend wie sein Sturm- und Drangwerk Cantique de Jean Racine.

 

 

Ach, Monsieur Fauré! Was wäre ein Leben ohne Musik? Dank Euch jungen Musikenthusiasten von der Hochschule der Künste für Euer Gratis-Vorführkonzert, das mein Herz im Flug erobert hat.

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„Natur braucht Geld“

Der Regenwald soll gerettet werden. Die Amazonas-Konferenz blieb vor kurzem unverbindlich. Auf einen Abholzungsstopp ab 2030 konnte sie sich nicht einigen. Bedauerlich, es war das erste gemeinsame Treffen seit vierzehn Jahren. Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva brachte das Problem auf den Punkt:  „Mutter Natur braucht Geld, sie braucht Finanzierung, weil die industrielle Entwicklung sie in den letzten 200 Jahren zerstört hat“. Das gigantische wie gefährdete Amazonasgebiet verfügt über zehn Prozent der biologischen Vielfalt unserer Erde. Die Hunderte Milliarden von Bäumen sind eine der wichtigsten Kohlenstoffsenken der Welt. Daher fordern Amazonas-Anrainer die von den Industrienationen versprochenen 100 Milliarden US-Dollar. Aber kann man mit Geld Natur reparieren? Welche Lösungen gibt es jenseits von Appellen oder Verboten, angesichts großer aber ergebnisloser Konferenzen?

 

Ein Baum ist effektiver als zehn Klimaanlagen. Foto: Brigitte Werner ArtTower

 

Die Deutschen leben längst über ihre Verhältnisse. Des Pudels Kern: Wir wissen das, wollen es aber nicht wirklich ändern. Der Erdüberlastungstag – der German Overshoot Day – wurde dieses Jahr bereits am 4. Mai erreicht. Das bedeutet: Lebten alle wie wir, bräuchte es mindestens drei Erden. Frage: Kann uns das kapitalistische Gewinnstreben helfen, das unseren Wohlstand in den letzten Jahrzehnten gesichert hat? Geht das? Bäume als Kapitalanlage? Natur als Investment? Ja, es gibt sogenannte Waldinvestments, die versuchen mit unserem schlechten Gewissen gute Gewinne zu erzielen. Investoren wie Forrest Finance oder Life Forestry Group versprechen einen „Zinseszinseffekt der Natur“. Die Botschaft: Kapitalisten aller Länder, werdet Waldbesitzer. Investiert statt in Beton, Öl und Chemie in die Natur als effektivste und ökologische Kapitalanlage. Es klingt zu schön, um wahr zu sein.

 

Robinien gelten als Zukunftsbaum. Hoch genügsam, belastbar und stress-resilient.

 

Das Münchner Start-up Econos hat für rund 1,5 Millionen Euro einen 107 Hektar großen Wald in Sachsen-Anhalt gekauft und binnen weniger als sechs Monate wieder verkauft. Rendite laut Econos: 15 Prozent. Doch solche Investments in Bäume seien hochriskant, wie Lotto spielen, warnt zum Beispiel Stiftung Warentest. Ein Waldinvestment bedeute ein hohes Risiko bei wenig Rendite. „Es ist so, als wenn man an der Bushaltestelle steht und einem wildfremden Menschen Geld leihen würde“, warnt Renate Daum, Finanztesterin von Stiftung Warentest laut Süddeutscher Zeitung.

Hinzu kommt: Brandgefahr, Borkenkäfer und Stürme sind reale Gefahren. Zudem braucht ein gesunder Wald Jahrzehnte, bis „geerntet“ werden kann. Aber dennoch muss die Gesellschaft neue Wege gehen. Ein Weiter so, geht nicht mehr. Bäume sind die beste Klimaanlage der Welt. Sie verbrauchen keine teure Energie und regulieren das Klima. Ein gesunder Baum entwickelt eine zehnmal höhere Kühlleistung als jede Klimaanlage. Unzählige Studien belegen, dass es sich im Schatten eines Baumes 10 bis 15 Grad kühler anfühlt. Warum also nicht das Naheliegende wagen? Bäume als Klima- und als Kapitalanlage fördern. Denn: Natur braucht Geld. Aber auch umgekehrt wird ein Schuh draus: Geld braucht Natur. Ohne intakte Natur ist alles Geld nichts wert.

Wer mehr über seriöse Klimafinanzprojekte weiß oder bereits Erfahrungen mit Waldinvestments gesammelt hat, bitte melden. Ich bin für jeden Hinweis dankbar.

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Letzte Worte

Vor wenigen Tagen verurteilte ein russisches Gericht den Oppositionellen Alexej Nawalny wegen „Extremismus“ zu neunzehn Jahren Straflager. Der Prozess fand in einem improvisierten Gerichtssaal im Straflager Melechowo unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. In seinem Schlusswort sprach er von einer „stalinistischen Haftstrafe“ und sagte über den Schauprozess: „Die Zahl spielt keine Rolle. Ich verstehe sehr gut, dass ich, wie viele politische Gefangene eine lebenslange Haftstrafe verbüße.“ Nawalny hatte 2020 einen Nervengiftanschlag nur knapp überlebt. An die Öffentlichkeit richtete der 47-jährige folgenden Appell: „Verliert nicht den Willen zum Widerstand.“

Das System Putin bricht mit geradezu stalinistischer Härte jegliche Versuche von Widerstand und Opposition. Das Recht wird gebeugt. Nach § 293 der russischen Strafprozessordnung haben Angeklagte jedoch das Recht auf ein letztes, unzensiertes Wort vor Gericht. Ein kafkaesker Vorgang, da die Beschuldigten alles haben, nur nicht die Chance auf ein faires Verfahren oder Urteil. Wer sich fragt, wo in Russland Menschen sind, die sich gegen Willkür, Repression und Verfolgung in Putins Reich wehren, muss diese Stimmen kennenlernen. Sie zeugen von Mut, Unbeugsamkeit und Zivilcourage. Mut zum offenen Widerspruch gegen Putins Kriegspropaganda trauen sich nur wenige, auch deshalb, weil jeder Protest vom Regime mit aller Härte bestraft wird. Drei Beispiele möchte ich stellvertretend vorstellen.

 

Maria Ponomarenko. Journalistin. Urteil: 6 Jahre Lagerhaft. Februar 2023. © SOTA

 

Maria Ponomarenko, 44, Journalistin aus Westsibirien. Mutter zweier Kinder; zu sechs Jahren im Straflager Nr. 22 in Krasnojarsk verurteilt. Ihr Vergehen: Sie hatte einen Beitrag über den russischen Luftangriff auf das Theater von Mariupol verbreitet.

Letzte Worte vor Gericht am 13. Februar 2023:

„Wenn es einen Krieg gibt, sollte man ihn auch beim Namen nennen. (…)

Glauben Sie, ich werde weinen und in Hysterie verfallen, weil Sie mich zu achteinhalb Jahren Gefängnis verurteilen? Nein. Das ist nur ein neuer Lebens­abschnitt. Und glauben Sie mir: Hinter Gittern gibt es viel mehr anständige Menschen als in der Regierungspartei Einiges Russland.“ (…)

Wir sehen uns in Freiheit! Nie sind totalitäre Regime so stark wie kurz vor ihrem Zusammenbruch.“

 

Alla Gutnikowa. Studentin. April 2022. Urteil in Abwesenheit: zwei Monate Straflager plus zwei Jahre „Besserungsarbeit“. Bildrechte: IMAGO ITAR-TASS.

 

Alla Gutnikowa, 25. Ehemalige Studentin einer Moskauer Eliteuniversität. Ehem. Redakteurin der Studentenzeitung »Doxa«. Sie wurde zu Hausarrest verurteilt, konnte fliehen. Urteil in Abwesenheit: zwei Monate Straflager + zwei Jahre „Besserungsarbeit“. Ihr Vergehen: Sie hatte mit zwei weiteren Frauen in einem Video die Exmatrikulation von oppositionellen Studenten kritisiert.

Letzte Worte am 3. April 2022:

In meinem Französischkurs an der Uni bin ich mal auf eine Liedzeile von Édith Piaf gestoßen: »Ça ne pouvait pas durer toujours« – es konnte nicht ewig so weitergehen. Als ich 19 war, fuhr ich nach Majdanek und Treblinka. Dort lernte ich, wie man »никогда больше« sagt, in sieben verschiedenen Sprachen. ­Never ­again. ­Jamais plus. Nie wieder. רעמ לאמנייק. Nigdy więcej. דוע אל. Später lernte ich ein paar weitere wichtige Lektionen. Erstens: Wörter haben Bedeutung. Zweitens: Man muss die Dinge beim Namen nennen. Und schließlich: sapere aude – habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen.“ (…)

„Wiederhole, für dich und andere: Zwei plus zwei ist vier. Schwarz ist schwarz. Weiß ist weiß. Ich bin ein mutiger, starker Mann. Ich bin eine mutige, starke Frau. Wir sind mutige, starke Menschen. Freiheit ist eine Entwicklung, in deren Verlauf man lernt, sich nicht unter­jochen zu lassen.“

 

Wladimir Kara-Mursa. Historiker. April 2023. Urteil: 25 Jahre Lagerhaft. © Natalia Kolesnikova​ AFP​/Getty.

 

Wladimir Kara-Mursa, 41, Historiker/Politiker aus Moskau. Überlebte zwei Giftanschläge. Festnahme im April 2022. Urteil: 25 Jahre Lagerhaft. Sein Vergehen: Kurz nach dem Überfall auf die Ukraine hatte Kara-Mursa mit anderen Regimekritikern ein »Komitee gegen den Krieg« gegründet.

Letzte Worte am 10. April 2023:

„Während meiner Vernehmung hier vor Gericht hat der Vorsitzende Richter mich daran erinnert, dass ich, wenn ich für die von mir begangenen Taten Reue zeige, auf mildernde Umstände hoffen könne. Obwohl ich zurzeit wenig zu lachen habe, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Verbrecher sollten Reue zeigen. Ich aber bin im Gefängnis wegen meiner politischen Ansichten. Wegen meiner Auftritte gegen den Krieg in der Ukraine. Wegen meines langjährigen Kampfes gegen Putins Diktatur.“ (…)

„In seinem Letzten Wort bittet man normalerweise um Freispruch. Für jemanden wie mich, der kein Verbrechen begangen hat, wäre Freispruch auch das einzig legitime Urteil. Aber ich bitte dieses Gericht um nichts. Ich kenne mein Urteil. Ich kannte es bereits vor einem Jahr, als ich im Rückspiegel Männer in schwarzen Uniformen und mit Masken sah, die hinter meinem Auto herliefen. Das ist in Russland der Preis dafür, dass man nicht schweigt.“

 

Wer mehr über „letzte Worte“ in politischen Schauprozessen erfahren will, findet im ZEIT-Dossier „Sogar in diesem Käfig liebe ich mein Land“ beeindruckende Beispiele. Sie erzählen von Menschen, die seit Kriegsbeginn versuchen, Putins zerstörerischem Kurs Einhalt zu gebieten, selbst wenn es ihre persönliche Freiheit kostet.

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Kirche im Dorf

Ein Sonntag auf dem Lande. Angenehme Stille. Nur die Feldlerche trillert fröhlich ein Liedchen. Ein heißer Sommertag kündigt sich an. Die riesigen Roggenfelder warten auf den Ernteeinsatz. Ich radele ins Nachbardorf, zum Gottesdienst. Wie bitte? Wirklich! Alle drei, vier Monate kommt der Pfarrer vorbei, er hat mehr als ein gutes Dutzend Gemeinden zu betreuen. Da bleibt für die kleine Kirche im Nachbardorf wenig Zeit. Ich komme in letzter Minute in der schnuckeligen Fachwerkkirche an. Gleich am Eingang werde ich vom Kirchenvorstand abgefangen: „Ah, der radelnde Kantor! Dann kommen Sie, es geht gleich los.“ Er führt mich zur kleinen Hollenbach-Orgel und wirft die Elektrik an. „Auf geht´s. Dann können wir loslegen.“

 

Ein Sonntagsausflug zur Kirche im Nachbardorf.

 

Nun wird es höchste Zeit, das Missverständnis aufzuklären. Ich sei nicht der Kantor, nur ein Besucher, wehre ich ab. „Können Sie spielen?“ – Ja, antworte ich. Es ist bei mir einfach so. Sobald  ich Tasten sehe, überkommt mich ein tiefes Verlangen. Die Freude auszuprobieren, einfach zu spielen. Ich improvisiere ein paar Takte, ziehe alle Register. Die kleine Dorforgel spukt munter Töne aus. Plötzlich steht der evangelische Pastor neben mir: „Ach wie schön. Hier sind die Gemeindelieder, die wir heute anstimmen.“ Ich sage, da müsse ich erst ordentlich üben. Vielleicht später einmal. Er zieht ein enttäuschtes Gesicht. „Wir haben hier auf dem Land dreißig Gemeinden und keinen einzigen Organisten. So ist die Lage. Wir können jede Hilfe brauchen.“

 

Ohne Musik ist ein Sonntag kein richtiger.

 

Ich flüchte mit meiner Radler-Gepäcktasche und schlechtem Gewissen in die vorletzte Reihe. Im Kirchlein haben sich genau zehn Menschen versammelt. Ein Mann erzählt, gestern sei die Freiwillige Feuerwehr mal wieder mit Tatütata auf der A24 gewesen. Für 7,50 Euro pro Einsatz riskierten die Kameraden Kopf und Kragen. Unmöglich! Ein Witz, pflichtet seine Nachbarin bei. Eine Reihe weiter erzählt eine alte Frau von Ärzten und Krankheiten. „Totumfallen. Einfach so. Das Beste, was passieren kann. Da brauchste keine Kasse, keinen Pfleger, kein Heim.“ So falle man niemanden zur Last. Zwei Frauen nicken. Der Pastor beendet alle Gespräche und begrüßt die kleine Schar. Neun Besucher halten inne. Es geht los. So ist das in einem Land, in dem mehr Menschen beim ADAC als in der Kirche sind. Tatsächlich hat in diesem Sommer Deutschlands größter Autoclub die Katholischen Kirche an Mitgliedern überholt.

„Unser Gott sei eine feste Burg“. Der Pfarrer intoniert mit kräftiger Stimme die Lieder. Die Gemeinde versucht mitzuhalten. Mit Orgel würde es sicher stimmungsvoller klingen. Haben die Massenaustritte der letzten Jahre mit der Unzufriedenheit zu tun, zuletzt über die mangelhafte Aufarbeitung von Übergriffen des Kirchenpersonals? Vermutlich wollen einfach viele die Kirchensteuer sparen, aber noch wahrscheinlicher finden die meisten längst etwas anderes wichtiger als ein Sonntagvormittag in der Kirche. Was auch immer? Die neuen Götter heißen Yoga, YouTube oder das Freiheitsversprechen schneller Flitzer.

 

Cartoon 02.07.2023

 

Müsste eine moderne Kirche nicht auch ein Dienstleister mit Rundum-Servicepaket sein? Mit Pannen-Engeln und Rettung in höchster Not? Nichts Geringeres als „Hilfe, Rat und Schutz“ verspricht der ADAC. Diese Dreieinigkeit passt doch an jedes Kirchenportal. Wir sind beim letzten Lied angekommen. Die Stimme des Pfarrers wird nach einer Stunde Service und Pannenhilfe müde. Welches Freiheitsversprechen gibt seine Kirche? Welchen Schutz, welchen Mehrwert? Nach dem Gottesdienst werde ich noch einmal gefragt, ob ich beim nächsten Mal die Orgel spielen möchte. Da hätten doch alle was davon.

 

Good Times, ist ein schönes Versprechen.