Archive for : September, 2023

post image

Typisch Berlin

Rotz an der Backe? Na, und! Was soll´s? – Wirklich große Städte haben ihre eigenen Gesetze. Die Melodie lautet: Anonymität, Massen, Tempo, Vielvölkergemisch. Es ist bunt, laut, schmutzig. Was geht? Große Klappe, schräge Typen, merkwürdige Gestalten. Ein Käfig voller Narren: Außenseiter, Glückssucher, Selbstdarsteller. Der Bühnenvorhang öffnet sich jeden Tag. Die hektische Metropole mitten in der märkischen Streusandbüchse pflegt seit einem Jahrhundert, seit den schmutzig-goldenen Zwanzigern den Mythos von Babylon Berlin. Die Stadt an der Spree spült die besten und die schlimmsten Seiten der Menschheit nach oben. Freiheit und Toleranz vs. Respektlosigkeit und Gleichgültigkeit. Wer regiert die Stadt? Die politische Elite? Lobbyisten? Springers Bild? Oder die Woken, der rot-grüne Latte Macchiato-Mittelstand? Oder vielleicht etwa Nationalisten, Clans und Strippenzieher im Hintergrund? Jeder nach seiner Façon, ist das Einzige, worauf sich Berlin einigen sollte, einst wie heute.

 

Hausnachrichten in Berlin-Neukölln.

 

Im Alltag prallen alle menschlichen Gefühlslagen aufeinander. Viele Emotionen haben sich längst in die Jagdgründe des Internets verlagert. Doch in Altbauten oder Plattenburgen, in engster Nachbarschaft gibt es umso mehr Gelegenheiten, worüber jede/r sich freuen, ärgern, anbandeln oder ausrasten kann. Überraschung: Die gute alte Zettelwirtschaft hält sich selbst im Chatbot-Zeitalter. Der gebürtige Münchner Joab Nist fotografiert und sammelt seit über einem Jahrzehnt solche Nachrichten an Türen, Hauswänden und Treppenhäusern. Es ist eine wunderbare Fundgrube. Der Neuköllner Nist schreibt: „Die Notizen sind wie die Menschen, die hier leben: direkt, laut, kreativ, tolerant, freiheitsliebend, skurril, einsam, romantisch und definitiv nicht auf den Mund gefallen. Und die Themen, die kommuniziert werden: Pure Alltagskultur in ihrer reinsten Form.“

 

Berlin. Prenzlauer-Berg.

 

Es geht um alles, was Menschen in nächster Nachbarschaft gemeinsam aushalten, erdulden und ertragen müssen. Laute Partys, falsche Klaviertöne, stinkende Katzenklos, geklaute Utensilien aller Art, heftige Liebesgeräusche bei offenen Fenstern, verschwundene Pakete, Müll. Kurzum: Die angeklebten Haus-Nachrichten künden von großen Kleinkriegen direkt vor der Haustür, von den täglichen Zumutungen, wenn Menschen (zu) dicht aufeinander leben und irgendwie miteinander klarkommen müssen. Eine Entdeckung: Notes of Berlin. Eine Seite, die jede Menge über das heutige Berlin und sein Personal erzählt. Im Guten wie im Schlechten. „Spiel endlich leiser, es nervt…!“

 

Berlin. Friedrichshain.

post image

Neue Wege

Es war ein 14. Mai. Mein Geburtstag. Doch als Rotterdam 1940 in Schutt und Asche gelegt wurde, war ich noch lange nicht auf der Welt. Erst achtzehn Jahre später sollte es so weit sein. Da waren die Trümmer von Rotterdam längst beiseite geräumt. Viele Städte in Europa erlitten das gleiche Schicksal. Dresden zum Beispiel im Februar 1945, oder Berlin. Der Krieg kehrte dorthin zurück, wo er angezettelt wurde. 1945 bauten die Holländer ihre zerstörte Stadt an der Maas wieder auf. Im Zentrum Rotterdams blieb nur die Ruine der Laurenzkirche (Laurenskirk) stehen. Verloren zeugte sie von einer gigantischen Zerstörungsorgie. Die Deutschen hatten Rotterdam in Grund und Boden bombardiert, um die Kapitulation zu erzwingen. 57 Bomber der I. Gruppe des Bombergeschwaders von Oberst Walter Lackner machten 2.6 qkm der Innenstadt dem Erdboden gleich. Mehr als 800 Zivilisten kamen ums Leben. Die Laurenskirk aus dem 16. Jahrhundert blieb. Sie wurde wieder aufgebaut.

 

Die Laurenskirk in Rotterdam, nach dem deutschen Bombenangriff vom 14. Mai 1940. Quelle: Wikipedia

 

Rotterdam ist die niederländische Stadt, die im II. Weltkrieg am heftigsten zerstört wurde. Damit hatten die Rotterdamer – ungewollt – die Chance, eine neue, moderne Stadt aufzubauen. Die Laurenskirk steht heute mutterseelenallein in einer Umgebung aus zugigen Plätzen, Fußgängerzonen, Hochhausburgen aus Beton und Glas. Wer enge Grachten und hübsche Patrizierhäuser sucht, ist in Rotterdam fehl am Platze. Trotz aller Modernisierungsschübe sind die Wunden des Krieges bis heute zu spüren. Es fehlt der Stadt etwas entscheidendes: die Seele. Tradition, Heimeligkeit, gemütliche Cafés und Plätze zum Verweilen wie zum Beispiel in Amsterdam sind Fehlanzeige.

 

Ein gelber Kubus-Riegel grüßt im neuen, modernen Zentrum von Rotterdam. Quelle: Wikipedia

 

Dennoch: Ein Häuserkomplex auf Stelzen unweit der Laurenskirk überrascht. Über einer riesigen, äußerst ungemütlichen Verkehrskreuzung schieben sich 51 gelbe Kubushäuser. Die Überbauung fällt sofort auf. Häuser würfelartig aufeinandergestapelt, auf bizarre Weise in sich verdreht und verschachtelt.  Dazu schräge, stürzende Außenwände. Sicher: Ein wenig ist die Anlage in die Jahre gekommen. Fast vierzig Jahre sind seit ihrer Fertigstellung 1984 vergangen. Doch die gelben UFO-Kisten mitten im geschundenen Zentrum zeugen von Mut und städtebaulicher Risikobereitschaft. Die laute Kreuzung wird gedeckelt. Im öffentlich zugänglichen Raum der ersten Etage finden sich erstaunlich lärmgedämpft Läden, Restaurants und ein Hostel, ein Kinderspielplatz und insgesamt 38 Wohneinheiten.

 

Neues Leben, mitten in der Stadt. Piet Bloms Kubushäuser in Rotterdam.

 

Küche mit stürzenden Wänden und Fenstern.

 

Eine Musterwohnung kann besichtigt werden. Der holländische Architekt Piet Blom orientierte sich am Vorbild eines Baumhauses. Auf drei Etagen sind 100 qm Wohnfläche aufgetürmt. Es geht wie in alten Grachtenhäusern über schmale, steile Treppen nach oben. Fit sollte man sein. Bilder aufhängen ist kaum möglich. Doch die Perspektiven auf die Stadt sind faszinierend. Ganz oben auf der Dachetage lohnt ein Panorama-360-Grad-Rundblick über Rotterdam, Hafen und die restaurierte Laurenskirk. Rotterdam ist längst aus Ruinen auferstanden. Die Kubushäuser stehen für eine Vision. Sie versprechen eine menschengerechte Stadt zum Leben und Wohnen. Es wäre schön, wenn nicht wieder vierzig Jahre vergehen, bis neue, zukunftsweisende Projekte auf den Weg gebracht werden. Rotterdam, oft als hässlich und seelenlos geschmäht, zeigt, dass es geht. Man muss nur neue Wege gehen.

 

post image

Wir sind Weltmeister

Acht Spiele, acht Siege. Ein deutsches Team ist zum ersten Mal Weltmeister. Kein hochbezahltes DFB-Fußball-Team. Weder Herren noch Damen. Keine Handballer, keine Leichtathleten, die ohne eine einzige Medaille bei der letzten WM blieben. Es ist eine deutsche Randgruppensportart: Basketball. Früher nur in Uni-Städten oder US-Stützpunkten gespielt. Die Vorbilder kamen aus den dem früheren Jugoslawien oder – ganz klar – aus den USA. Jetzt hat eine deutsche Auswahl die Lehrmeister des Sports besiegt. Erst gewannen die Deutschen gegen die USA, dann im Finale gegen Serbien. Eine Sensation, melden die Medien, die bis zum WM-Titel die Erfolge der Korbjäger konsequent ignoriert hatten. So läuft das Geschäft. Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg. Plötzlich werden in unserer erschöpften Gesellschaft wieder Teamgeist und Leistungswille gefeiert. Basketball ersetzt ausgebrannte Fußballstars. Wie schön, wie wunderbar.

Höhepunkte aus dem besten Spiel der WM: Deutschland vs. USA. Halbfinale

 

Sport konnte schon immer Außenseitern eine Chance geben. Die Bereitschaft sich zu quälen, um besser zu sein, wird mit Aufmerksamkeit und Anerkennung entlohnt. Später mit Profi-Verträgen und sozialem Aufstieg. Basketball bleibt wohl in Deutschland weiter eine Schattensportart. Zwar haben viele aus der WM-Mannschaft in den USA oder in der Euro-League gut dotierte Verträge. Doch Kicker verdienen mittlerweile utopische Summen. Nur ein Beispiel: Für die 100 Mio. Euro, die Bayern München für Harry Kane hingelegt hat, könnte man etwa 21 Millionen Kinder ein Jahr lang ernähren. Vielleicht erklärt sich das fehlende Engagement der kickenden Stars für ihre Nationalmannschaften mit dem totalen Triumph des Kommerzes über Ideale, Sport und Mannschaftsgeist. Wenn am Ende nur das Ich zählt, dann geht es nur noch um die optimale Vermarktung.

 

Die Basketball-Kathedrale von Moerdijk. Aus einer Kirchenruine entstand 2019 ein Sportzentrum. Entdeckt in Süd-Holland.

 

Der Weltmeister-Titel der Basketballer setzt eine Begeisterung frei, wie einst bei den Fußballern in Bern 1954. Motto: Ihr müsst zusammenhalten und ein Team sein. Doch der Erfolg mobilisiert reflexartig digitale Miesepeter und Heckenschützen. In Internetforen wird gegen farbige Spieler im deutschen Team gestichelt und gehetzt. Gott bewahre! Was für armselige Kleingeister! Ohne diese Mischung hätte das Team nie eine Chance gehabt. Isaac Bonga ist in Neuwied geboren. Sein Vater stammt aus dem Kongo. Johannes Thiemann stammt aus Trier, sein Vater kommt aus Kamerun. Zu ihm hat er nur wenig Kontakte. Superstar Dennis Schröder ist in Braunschweig aufgewachsen. Seine Mutter führte in Gambia einen Friseursalon. Der Vater ist Deutscher. Sein Talent hat ihn in die beste Liga der Welt geführt: in die NBA der USA.

 

Mit der Künstlerin Elvira Bach und ihrem Sohn Maodo Lo im Kreuzberger Atelier.

 

Maodo Lo ist ein typischer Berliner Junge. Sein Vater aus dem Senegal studierte an der Spree. Er verliebte sich in die Künstlerin Elvira Bach. Maodos Mutter ist eine renommierte Malerin, ihre Ideen setzt sie in einem Kreuzberger Atelier um. Elvira Bach hat ihren Sohn nie zum Training geschickt. Heute malt sie ihn und ist von seinem Erfolg begeistert. Was zählt im Leben? Selbstvertrauen plus Teamgeist. Besonders Jugendliche aus Brennpunktbezirken können davon profitieren. Streetball, „der kleine Bruder“ vom Profi-Basketball, wird genau dort gespielt, wo sich niemand um Kids kümmert. Der Ball muss in den Korb. Das ist entscheidend. Niemand trifft immer. Aber es gibt stets die zweite Chance. Im Basketball wie im Leben.

post image

Ach, lass liegen!

Aufräumen, To-do-Listen abarbeiten, Lästiges erledigen. Oh, Gott! Ordnung ist das halbe Leben, sagt der Volksmund. Über die andere Hälfte hat sich Nele Pollatschek  Gedanken gemacht. Die streitbare und talentierte Journalistin beschäftigt sich in ihrem neuen Buch „Kleine Probleme“ mit der Last des ständigen Aufschiebens. Wer kennt das nicht?  Im Mittelpunkt steht ein 49-jähriger Lars. Durchschnittstyp, verheiratet, eine Tochter. Der Vorstadt-Schluffi hat – genau genommen – nur YouTube studiert. Er ist keine Trans, kein cooler, queerer Zeitgenosse. Er ist eine Stimme, die schon lange nicht mehr gehört wird. Auch Lars sucht den Weltrettungsknopf, träumt von einer Karriere als Bestsellerautor oder wenn es dazu nicht reicht, wenigstens vom Aufstieg zum Homeshopping-Milliardär.

 

Wäre es niicht an der Zeit, ein paar Dinge in Ordnung zu bringen?

 

Nele Pollatschek kümmert sich um Durchschnittsmenschen. Das ist gegen den Trend. Für sie ist ihr Held Lars „ein alter Sack, der in einem Drecksloch sitzt und raucht und davon erzählt, was er morgen machen wird.“ Aufräumen ist eine Qual. Dreizehn Punkte muss er bis zum Jahresende unbedingt erledigen. Steuererklärung, Wohnung putzen, Bett für die Tochter zusammenschrauben, Lebenswerk schreiben, mit dem Rauchen aufhören, Klima retten. Nicht mehr prokrastinieren, nichts mehr aufschieben. Zauberwort und Kernproblem der Instagram-Generation. „Wie beschissen ist es bitte, wenn alle Türen offenstehen und man trotzdem stehenbleibt.“ Pollatschek erzählt vom Wunsch nach Perfektion, dem “Nudelsalat mit Geschmacksexplosion“ und der kinderleichten Steuererklärung. Sie breitet uns die Dramen des Alltags aus. Ein Leben zwischen Ordnung und Chaos, mal profan, mal hoch-Philosophisch, irgendwo zwischen Tragik und Komik. Motto: Spannend ist, was nicht funktioniert.

 

Nele Pollatschek, Jahrgang 1988, schreibt gerne gegen den Strich. Foto Wikipedia

 

Pollatschek balanciert in „Kleine Problem“ souverän zwischen wokem Zeitgeist und der Sehnsucht der normalen Smartphone-Junkies, die wir längst alle sind. Stets auf der Suche nach dem Kick, nach Aufmerksamkeit und Anerkennung. Wisch für Wisch, unterwegs mit, Google, Tinder und YouTube. Ach, wenn nur nicht das versiffte Bad zu putzen wäre oder die Sache mit der Beziehung, die endlich angegangen werden muss. Zu guter Letzt: Das Finanzamt wartet. Mist: „Eine Steuererklärung ist wie eine Schachtel Pralinen, nur ohne Schokolade. Man greift in die Belege und weiß selbst nicht, was man bekommt.“

Nele Pollatschek erblickte ein Jahr vor dem Mauerfall in Ost-Berlin das Licht der Welt, zog in die Welt hinaus, studierte an britischen Eliteunis. Sie schreibt frohgelaunt gegen den Strich. Die 35-jährige SZ-Autorin bevorzugt das generische Maskulinum. Durch die weibliche Berufsbezeichnung „Schriftstellerin“ fühle sie sich auf ihr Geschlecht reduziert: „Wer aus meinem ‚Schriftsteller‘ ein ‚Schriftstellerin‘ macht, kann auch gleich ‚Vagina!‘ rufen.“

Nele Pollatschek. „Kleine Probleme“. Galiani. Macht Spaß. Ab 7. September 2023.