Archive for : Januar, 2024

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Bye, bye Boomer

Karen Heumann ist eine kluge, erfolgreiche Werbefrau. Sie hat alles erreicht. Die gebürtige Wetzlarerin ist eine von Millionen Baby-Boomern. Vor kurzem ist sie als Vorständin mit 58 Jahren vorzeitig in Ruhestand gegangen. Warum? Sie fühle sich zu alt. Außerdem sei es Zeit, Jüngeren Platz zu machen. Ihr Gefühlshaushalt? „Oh Gott. Jetzt muss ich ohne meine Droge auskommen. Und das ist nicht schön. (sie lacht) Ich hatte mir ein Feriengefühl vorgestellt, aber zunächst war es eher ein Verlustgefühl, eine Mischung aus Liebeskummer und Ratlosigkeit.“ In diesem Jahr gehen offiziell 1.175.870 Menschen des Jahrgangs 1958 in Rente. Einer von ihnen bin ich. Die Babyboomer werden durch 719.250 Menschen des Jahrgangs 2003 ersetzt. Die Zahlen beruhen auf Mittelwerten. Nicht wenige haben sich längst beruflich verabschiedet. Weil sie nicht mehr können oder wollen. Am Ende bleibt eine Lücke von 400.000 Erwerbsfähigen. Take Over, Generation Z, ihr werdet gebraucht!

 

Karen Heumann. 2019.

 

Danke Boomer, schrieb die ZEIT im letzten Sommer. Zur „besten Generation aller Zeiten“ zählen 21,75 Millionen Nachkriegskinder (geboren von 1946-1964). Es sind die Glücklichen, die ein Leben lang kein Hunger, keine Not und keinen Krieg erlebten, sondern stetig Mehr von allem erfuhren: Besitz, Chancen, Fortschritt, Wohlstand. Sie waren Teil der 68er-Revolte, von Willy Brandt, Hippies, Punk und Disco. So gesehen haben die Boomer in ihrer Jugend die komplette kulturelle Grundausstattung der westlichen Moderne eingerichtet – von den Beatles über Alice Schwarzer bis zu Madonna. Ohne Boomer kein I-Phone, kein Techno, kein Internet.

 

The times they are a-changin…

 

Eine von den 22 Millionen Boomern ist Annette Humpe. Die einstige Frontfrau von Ideal ist mittlerweile 73 Jahre alt. Vor über vierzig Jahren performte sie „Deine blauen Augen“ mit übergroßer Kapitänsmütze.  „Der ganze Hassel um die Knete/macht mich taub und stumm/Für den halben Luxus/Leg ich mich nicht krumm/Nur der Scheich ist wirklich reich/und deine blauen Augen machen mich so sentimental.“ Ein Hit auf dem Höhepunkt der Neuen Deutschen Welle. Die Boomer sind die vielleicht kreativste, kooperativste und friedlichste Generation, die in den vergangenen zweihundert Jahren gelebt hat. Kaum eine Generation hat so viel Gutes und so wenig Böses hervorgebracht. Bleibt es so?

 

 

„Zu reich, zu satt, zu wenig Einsatz für die Umwelt“, monieren Vertreter der Generation Z. Zu ihnen zählen 11,57 Millionen Menschen in Deutschland, die seit 1996 das Licht der Welt erblickt haben. Boomer kontern die Kritik der Jungen mit Sprüchen wie: „Von nichts kommt nichts. Früher haben die Leute härter gearbeitet. Gendern zerstört die deutsche Sprache. Der Klimawandel kommt schon nicht so schlimm.“ Statt Revolte zu machen, kümmern sich die ergrauten Boomer heute eher um das Verlegen von Stolpersteinen oder die Buchung der nächsten Hurtigruten-Reise. Und die Jungen? Schimpfen über die Ignoranz der Alten und erholen sich dank Mamas Reisezuschuss beim Ayurveda-Seminar in Spanien. Den Sound für alle liefert Annette Humpe: „Deine blauen Augen machen mich so sentimental, so blaue Augen. Wenn du mich so anschaust, wird mir alles andre egal, total egal.“

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Miteinander reden?

Die Republik ist in der Krise. Die Demokratie in Gefahr. Bei den letzten Wahlen verliert die regierende SPD deutlich Wählerstimmen. Ihre wankelmütige Vierer-Koalition war nach nur zwei Jahren auseinandergebrochen. Die Rechten feiern einen überwältigenden Aufschwung. Ihr Anteil schnellt hoch: von 2,6% auf 18,3% Zustimmung. Ein Plus von 15,7%. Achtung! Es handelt sich um den 18. September 1930. In Berlin wie in der gesamten Republik ist die Stimmung aufgeheizt. Ende Oktober 1930 organisiert der österreichische Dramaturg Arnolt Bronnen ein brisantes Radiogespräch für die „Berliner Funkstunde“. Thema: „Nationale und Internationale Kunst“. Der berühmte Theatermacher und überzeugte Kommunist Erwin Piscator soll sich mit dem ehrgeizigen NS-Demagogen Joseph Goebbels zu einem Streitgespräch treffen.

 

Erwin Piscator (1893-1966), Theaterlegende 1929. „Es ist unmöglich, Staub aufzuwirbeln, ohne dass einige husten“.

Beide Männer sind misstrauisch. Ein Vorgespräch wird vereinbart. Das auf fünfzehn Minuten anberaumte Treffen dauert am Ende mehrere Stunden. Es geht um Schiller und Goethe, um Mozarts Musik. Heftig diskutiert wird die Frage, ob Kunst „national“ (Goebbels) oder „international“ (Piscator) ausgerichtet zu sein habe. So jedenfalls ist es in einem Protokoll nachzulesen, das Goebbels später verfasst. In seinem Tagebuch notiert G.: »Piscator ist gar kein Kommunist mehr. Er steht uns näher als der Roten Fahne. Dabei persönlich ein angenehmer und sauberer Bursche. Es war sehr amüsant und die ganze Bronzerie des Rundfunks hat gespannt zugelauscht.«

 

Joseph Goebbels (1897-1945), als Propagandachef der Nationalsozialisten vor dem Reichstag 1932.  „Wenn ich das Wort Kultur höre, entsichere ich den Revolver“.

 

Die Kontrahenten kommen auf keinen gemeinsamen Nenner. Piscator seinerseits notiert, im anderen „ein Menschengesicht“ zu erkennen, „trotz des widerborstigen inneren Widerspruchs, trotz Unbehagen, Abwehr, physischer Widerwärtigkeit. Er gefiel mir plötzlich mehr, als er mir missfiel, er missfiel mir weniger, als er mir gefiel. Mir schien, wir beide kamen uns vor wie zwei sagenhafte aus der Unterwelt aufgestiegene Tiere, die, über einen abgrundtiefen Erdspalt einander zugebeugt, sich ins Gesicht starren.“

 

Wahlkampfplakat der NSDAP 1930.

 

Zum Zeitpunkt ihres bizarren Treffens ist Goebbels Gauleiter der NSDAP für Berlin. Der Mann fürs Grobe, der begnadete Hetzer („Alle Parteien haben das Volk belogen und betrogen“). Seit dem NS-Wahlerfolg sucht er auffallend Kontakt zu Künstlern und Intellektuellen, um gemäßigt und wählbar zu wirken. Piscator fühlt sich getäuscht, als ihm später Goebbels Protokoll vorgelegt wurde: »Er hatte alle meine grundsätzlichen Argumente sich selbst zu eigen gemacht, so als ob er sie erfunden und zugleich widerlegt hätte.«

 

Wahlkampfplakat der SPD, 1930.

 

Nach der legendenumwobenen Begegnung im Berliner Rundfunk, so eine weitere Anekdote, fragt Goebbels. „Piscator, wollen wir zusammen essen gehen?“ Der Angesprochene setzt sein charmantestes Lächeln auf: „Aber ich gehe doch nicht mit Ihnen über die Straße, Herr Dr. Goebbels!“ Ach, ja. Die Sendung fand nie statt. Dennoch gibt es eine Fortsetzung, ein letztes Kapitel: Goebbels bittet den großen Theatermann im Frühjahr 1935  aus seinem Moskauer Exil zurückzukehren. »Ich käme gerne zurück«, lässt Piscator ausrichten, »und zwar sofort — wenn er nicht mehr da wäre.«

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Lass Dir nicht alles gefallen

Die letzten Jahrzehnte lebte Werner Fischer in seinem selbstgewählten Exil. Ein Leben im Hölderlin-Turm, gut versteckt in einer Dachetage über dem Jüdischen Friedhof am Kollwitzplatz. Hölderlin verzweifelte in seiner Matratzengruft, ähnlich wie Nietzsche: „Warum schläft denn nur bei mir der Stachel in der Brust?“ Des Dichters Antwort: „Dunkel wird´s und einsam unter dem Himmel. Wie immer – im ich.“ Wer ist nun Werner Fischer? Nie gehört! Das sagen viele. Aber manche erinnern sich. Fischer gehört zu den wenigen Mutigen in Ost-Berlin, die in aussichtsloser Situation versuchten, Verhältnisse zu ändern, die scheinbar in Beton gegossen zu sein schienen. Er war kein Anpasser, Mitläufer oder Opportunist. Fischer arbeitete sich in der DDR an den Mächtigen ab, die mit Ausgrenzung, Verfolgung und Abschiebung reagierten. Sein Vergehen: er träumte den Traum von einer besseren DDR. Nach der Wende musste er keinen Widerstand nachholen. Aufarbeitung interessierte ihn nicht. Den Gratismut derjenigen, die immer auf der richtigen Seite sein wollen, verachtete er.

 

Werner Fischer. 1950-2023

 

Aus Werner Fischers unvollendeten Aufzeichnungen

Januar 1988. Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen. Vorwurf: „landesverräterische Agententätigkeit.“

„Ich hatte Angst vor dem Moment, indem die Zellentür hinter mir ins Schloss fallen würde. Wirklich gefangen zu sein, erzeugte schon in meiner Fantasie eine Panikattacke. Doch ich blieb ganz ruhig. Ich konzentrierte mich auf eine nüchterne und neugierige Sicht meiner neuen Situation, an der ich nichts ändern konnte, außer dass ich eine Methode finde, die mich stabilisiert. Ich redete mir ein: Du hast Observationen erlebt, Telefon- und Postüberwachung, etliche Stunden und Tage hast Du nach Festnahmen in Verhören verbracht. Jetzt konzentriere dich auf etwas, was du noch nicht kennst. Sieh dir genau alles an.  …

Ich war inzwischen in eine Zwei-Mann-Zelle verlegt worden. Paul, so stellte er sich jedenfalls vor, war von nun an mein Zellengenosse. Ein eifriger, devoter Typ von etwa dreißig Jahren, der angeblich wegen versuchter „Republikflucht“ hier einsaß. Seit meiner Zeit als Rohrleitungsmonteur auf Großbaustellen der DDR und besonders seit meiner Armeezeit hatte ich große Schwierigkeiten, mit mehreren Männern mein Zimmer und damit meine Intimsphäre zu teilen.  …

Er machte sich sogleich daran, das Klo- und Waschbecken zu reinigen. Die Notdurft würden wir verrichten, wenn der andere im Verhör sitzt. Es funktionierte gut. Gemeinsam hielten wir uns mit Gymnastik fit. … Wir teilten unsere Zigaretten und spielten „Mensch ärgere dich nicht“. Mühsam brachte ich ihm Schach bei. Als es anfing Spaß zu machen, musste ich ihn verlassen. Die Zelle, das Gefängnis und das Land. …

 

Berlin in den achtziger Jahren. Blick auf die Hauptstadt der DDR.

 

Jeden Tag wurde ich zu den Vernehmungen aus der Zelle in einem Seitenflügel der Untersuchungshaftanstalt geführt. Vormittags und nachmittags. Seitenlange Protokolle tippte Burckhardt (Anm. der Vernehmer) in seine Schreibmaschine. Jedes Mal weigerte ich mich, sie zu unterschreiben. Er nahm nur halbherzige Versuche, mich zum Unterschreiben zu veranlassen. Ich hatte auch in früheren Vernehmungen nie etwas unterschrieben. … Ich hatte nicht den Eindruck, dass Burckhardt, so richtig von seinem Auftrag überzeugt war. Er wirkte zu leidenschaftslos. Es konnte aber auch Taktik sein. Als ich ihm einmal sagte, dass es ziemlich unerheblich sei, was er mich frage und was ich antworte, letztlich werde die Entscheidung über den Ausgang dieser Sache an ganz anderer Stelle entschieden, hob er nur die Schultern. Im Übrigen sei das Ministerium für Staatssicherheit keine geeignete Institution, mit der man die anstehenden politischen Probleme in unserem Land klären könnte, es sei sogar ziemlich überflüssig und gehöre aufgelöst, diktierte ich ihm in die Maschine und auf Band. Das Tonband lief während aller Vernehmungen. Diesen Absatz im Protokoll habe ich unterschrieben.“

 

Werner Fischer mit Bärbel Bohley und Oskar

 

Werner Fischer. Am 29. März 1950 geboren. 1964 weigerte er sich der FDJ beizutreten und wurde nicht zum Abitur zugelassen. Lehre als Rohrleitungsmonteur. Von 1968 bis 1971 Wehrdienst bei den Grenztruppen. Ab 1972 Berliner Metropoltheater.  Ab diesem Zeitpunkt wird Fischer überwacht. Die Observationen der Staatssicherheit, darunter IM-Berichte der Mutter, wachsen bis zum Ende der DDR auf 67 Bände an.

1985 Mitbegründer der „Initiative Frieden und Menschenrechte“. 1986 Berufsverbot. Intensive Kontakte zur internationalen Friedensbewegung und zur Opposition in Osteuropa, insbesondere zur Charta 77. Verfasser und Unterzeichner zahlreicher Aufrufe. Januar 1988 Verhaftung Werner Fischers im Zusammenhang mit der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration wegen „landesverräterischer Agententätigkeit. Abschiebung zusammen mit Bärbel Bohley nach England.

Im August 1988 Rückkehr nach Ost-Berlin. Ab Oktober 1989 in der Berliner Gethsemane-Kirche Mitorganisator der unabhängigen Untersuchungskommission zu polizeilichen Übergriffen und Verhaftungen. 1990-1992 Beauftragter zur Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit. 1992-1994 Pressesprecher der Bundestagsgruppe Bündnis 90/Die Grünen. Bekennnender Fan der Rolling Stones. Ende November 2023 fand er seine Ruhe.

 

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Bauern, Bonzen und Bomben

Schleswig-Holstein vor knapp hundert Jahren. Ein lokaler Hilfsredakteur berichtet 1929 über Bauernproteste. Der Mann ist im Dauereinsatz. Im kleinen Neumünster protestieren rund dreitausend wütende Bauern mit Handstöcken und Knüppeln. Sie fordern ein Ende von Pfändungen und Steuernachzahlungen. Die Polizei versucht die Landvolkfahne mit Pflug und Schwert in ihren Besitz zu bringen. Die Bauern verteidigen ihr Symbol. Es gibt zahlreiche Festnahmen und mehrere Schwerverletzte. Der Reporter: „Ich sitze tatsächlich zwischen den Stühlen, bin vormittags gegen die Polizei und für Bürgertum und Bauern und nachmittags umgekehrt.“ Der Mann zwischen allen Stühlen heißt Rudolf Ditzen. Besser bekannt als Hans Fallada. Zwei Jahre später erscheint sein wegweisender Roman „Bauern, Bonzen und Bomben“.

 

Kleiner Mann, ganz groß! Rudolf Ditzen alias Hans Fallada. 1893 – 1947. Kein anderer erzählte so ergreifend Geschichten aus dem wirklichen Leben. Foto Aufbau-Verlag

 

Ditzen hat es 1928 nach Neumünster verschlagen. Für einen Hungerlohn versucht er, Anzeigen zu verkaufen, verfasst außerdem kleine Lokalberichte. Aus nächster Nähe erlebt er mit wie Honoratioren ticken. Eine eine eigene Welt aus Denunziation, Staatsverdrossenheit und Intrigen. „Meine kleine Stadt steht für tausend andere und für große auch.“ Hilfsredakteur Ditzen bekommt „Einblicke in Kämpfe um Macht, kleine Eifersüchteleien, Geldsackangst, Parteidisziplin, Geschrei, Drohungen und Lavieren“.

 

 

Den Bauern geht es schlecht. Zinsen und Steuern sind hoch. Viele Betriebe unrentabel. Seit Jahren treiben Kreditschulden und hohe Kosten vor allem kleine Höfe in den Ruin. Schlachtreifes Vieh muss weit unter Preis verkauft werden, weil die „Preise stürzen“. Als im November 1929 wieder einmal bei einem Schuldner zwei Ochsen gepfändet werden sollen, errichten Bauern brennende Barrikaden. Das Landvolk ist aufgebracht. Funktionäre wiegeln zum Kampf gegen das ungerechte System auf. Ein Teil der Bauernschaft radikalisiert sich. Es gibt Bombendrohungen und Anschläge. Die Obrigkeit verlangt: Hart durchgreifen.

 

Teil 1 Bauern. Bonzen und Bomben. Die Verfilmung von Egon Monk. 1973. Leider lässt die technische Qualität zu wünschen übrig, aber wer sich einlässt, wird belohnt.

 

Die Bauern verhängen einen Boykott gegen die Stadt Neumünster. Ein dreiviertel Jahr lang liefern sie kein Obst, Gemüse, Getreide, Butter oder Milch. Große Teile der Wutbauern beteiligen sich. Rechte Stimmungsmacher wiegeln das Landvolk zusätzlich nationalistisch, antisemitisch und völkisch auf. Eine Kraftprobe, von der später nur eine Partei profitiert: die NSDAP. Die Saat geht auf, die Hitlerpartei kommt an die Macht. Das war vor knapp hundert Jahren. Alles vergangen und vorbei?