Archive for : März, 2024

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Jule

Wenn ich meine Augen schließe, um zu träumen, schwebe ich eine alte Chausseestraße mit alten, knorrigen Bäumen entlang. Irgendwann hinter der letzten Abbiegung treffe ich auf einer Wiese am Wald Familie und Freunde. Alle packen aus, was sie mitgebracht haben. Ein paar Köstlichkeiten, Käse, Trauben, ein Stück Brot zum Teilen, guten Wein. Dann packt eine junge Frau ihre Gitarre aus, stimmt kurz die Saiten, lächelt in die Runde. Sie konzentriert sich. Die Gitarristin beginnt zu spielen. Ihre Stimme setzt ein. Die Plaudereien verstummen. Gemeinsam träumt die Runde von Glück und Gemeinschaft. Mein Vater gab mir mit: Freunde und Musik. Das sind die beiden Dinge, auf die es im Leben ankommt.

 

Wenn Gitarre, dann Jule Malischke. Foto: www.julemalischke.de

 

Jule Malischke bringt Menschen zum Träumen. Der Gitarristin gelingt das Kunststück mit ihrer Musik zu verzaubern. Ihre Lieder sind ab den ersten Riffs aufregender als jeder kuschelige Lagerfeuer-Sound. Die Sing-a-Songwriterin beherrscht eine wunderbare Mischung aus Überraschung, Leichtigkeit und Tiefgang. Ihre folkigen Arrangements erinnern an Joni Mitchell. Kein Wunder, mit „A Case of You“ covert sie bravourös einen der berühmten Songs der großen, alten Dame des Folk-Jazz. Wie eine Möwe schwebt Jule mit ihrem neuen Album „Seagull“ eine dreiviertel Stunde lang über Alleen, Wiesen, Wälder, Flüsse und Seen. Sie vertreibt Einsamkeit, Trübsal und tristen Alltagsblues.

 

 

Jule Malischke stammt aus dem kleinen Dorf Söhnstetten bei Heidenheim in Baden-Württemberg. Ihre Mutter brachte ihr als musizierende Erzieherin erste Lieder bei. Die Musikerlaufbahn zog sie einer möglichen Tenniskarriere vor. Keine schlechte Idee. Ihren Gitarren gibt Jule Namen. Sie legt Wert auf einfühlsame, kluge Texte, widmet ihren neuen Titelsong „He waited“ dem älteren Paar Richard and Colleen, das nach langer Trennung wieder zusammenfindet. Wie oft im Leben verpasst man den richtigen Zeitpunkt?

 

 

Ihr großes Talent zeigt sie bei einer Coverversion ihres Lieblingskomponisten Ralph Towner. In „If“ zieht Jule alle Register. Egal, ob Konzert-, Klassik-, Bariton- oder Jazzgitarre, sie teilt ihr Können nicht nur auf der Bühne. Seit einigen Jahren unterrichtet sie an der Musikhochschule Carl Maria von Weber in Dresden. Der britische Gitarrenvirtuose Clive Carroll schreibt begeistert: „The future of acoustic guitar is safe in the hands of a player like Jule Malischke. She has great technique, but this never overshadows the quality of the songwriting.”

 

 

Lust auf eine Reise in neue musikalische Regionen? Auf geht´s, einsteigen bei Jule Malischke. Ihr neues Album Seagull erscheint am 5. April 2024.

Bei uns in Berlin ist Jule Malischke am 13. Juni 2024 im Künstlerhof “Spätsünder” in Charlottenburg live zu erleben.

Ich wünsche allen: Frohe und Friedvolle Ostern. Mit Freunden und guter Musik.

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Leipziger Allerlei

Regen peitscht aufs Kopfsteinpflaster. Ein einsamer Pianist trotzt der Nässe. Er intoniert Evergreens vor der Leipziger Nikolaikirche. Dort, wo 1989 die friedliche DDR-Revolution ihren Ausgang nahm. Wenige Passanten eilen vorbei. Es ist Buchmesse, die Stadt gerade leergefegt. Spiel´s noch einmal, Sam. Das Lied trägt mich weiter. Dabei ist Leipzig die ganzen Tage über voll. Rund 300.000 Buchfreaks oder Cos-Player in Manga-Kostümen bevölkern Messehallen. Abends stürmen Heerscharen abertausende Veranstaltungen in der Innenstadt. Von queerer Literatur in Sachsen bis zur probiotischen Quarkherstellung ist alles dabei. Die Veranstalter kloppen bei ihrer Bilanz in die Marketingtasten. „Besucherplus. Das Buch wird gefeiert. Ein Fest der Demokratie.“ Tatsächlich feiert Leipzig nach vier verunglückten Pandemiejahren ein Comeback. Erfreulich: Es gibt immer noch genügend Menschen, die schreiben und noch viel mehr Publikum, das zuhört.

Der Trend? Die längsten Schlangen finden sich an Ständen, die New Romance oder New Adult feilbieten. Ganz einfache Geschichten von der Suche nach dem Märchenprinzen. Das sind die diesjährigen Renner. Titel wie Infinity Falling, Save me, save you, save us gehen bei der jungen weiblichen Zielgruppe weg wie warme Semmeln. Die 28-jährige Sarah Sprinz vom Bodensee verkauft bis zu 750.000 Exemplare pro Herz/Schmerz-Titel. Die Medizinerin Sprinz und ihre Kolleginnen legen großen Wert auf Gendern und Diversität. Keine Gruppe oder Minderheit dürfe sich durch irgendetwas ausgegrenzt oder beleidigt fühlen. Dafür sind bis zu fünf Sensitivity-Readers im Einsatz. Jedes Wort wird gecheckt.

 

Mehr Gefühl im Gewühl der Leipziger Buchmesse. New Adult und New Romance-BookToks sind die Bestseller der Saison. Herz/Schmerz geht immer.

 

In der neuen Romantik-Wohlfühl-Kuschelwelt sind Warnhinweise obligatorisch. Da heißt es vorab: „Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Diese sind: Tod, Verlust, Trauer und Trauerbewältigung, Substanzmissbrauch und Abhängigkeit. Bitte lest dieses Buch nur, wenn ihr euch momentan emotional dazu in der Lage fühlt.“ Zur Sicherheit folgt die Nummer der Telefonseelsorge. So bleibt die reale Welt mit Krieg, Krisen und Klimakatastrophen oder Armut, Not und Elend – draußen vor der Tür. Mehr echtes Gefühl, weniger Müll. Das geht vorzüglich. So verdienen renommierte Verlage mit New-Romance-BookToks ihre Brötchen.

 

Omri Boehm. Der deutsch-israelische Philosoph glaubt an universelle Werte und die Kraft von Freundschaft. Nur so könne „Licht ins Dunkel zwischen Israelis und Palästinenser“ gebracht werden. Foto: Wikipedia

 

Was gibt es für alle diejenigen, die keinen Prinzen oder Prinzessin suchen? Natürlich finden sich zeitlose Helden wie Dr. Kafka (100. Todestag) oder die neuen Lieblinge der Feuilletons wie Barbi Mirkovic („Minihorror“) und Iris Wulff („Lichtungen“). Der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm ist einer der Stars des 2024er Jahrgangs. In Zeiten von Multikrisen und allgemeinem Missvergnügen lockt der Preisträger des Buchpreises zur Europäischen Verständigung die Massen magisch an. Böhm predigt gegen Rückzug, Identitätsblasen und Eskapismus. Sein Zauberwort: Freundschaft. Wie bei Lessings Nathan den Weisen, Immanuel Kant oder Hannah Arendt. Aufklärung und Menschlichkeit sind für ihn der einzige Maßstab, der zählt. Eine Ansage gegen den Zeitgeist, der da heißt: Jeder für sich in seinem Zirkel. Gegen nationale Alleingänge, Säbelrasseln und die Zersplitterung in zahllose Identitäten. Vor allem aber gegen den Hass als Motor der Internet-Gesellschaft.

 

 

Was für ein Traum! Das Vertrauen in das Menschliche wiedergewinnen. Dafür braucht es Kitt, sagt Omri Boehm, der im Turbo-Kapitalismus verloren zu sein scheint: Freundschaft. Plus den Willen zur offenen Kommunikation. Wahre Freundschaft zeige sich eben darin, dass man sich die Wahrheit sagen könne. Ohne Verletzung oder an den Pranger gestellt zu werden und – ohne die Salven unserer aufgedreht-hysterischen Debatten sofort abzufeuern: … „das ist jetzt aber faschistisch/rassistisch/antisemitisch etc.“

Wäre doch ein Ziel? Ach, sagt mir die Manga-Truppe auf der Messetreppe. „Wenn Du Dich als Cos verkleidest, wirst du gleich ein anderer Mensch. Jedenfalls hier in Leipzig.“ Kann es sein, dass sie hinter ihren Masken lächeln?

 

Cosplayer in Leipzig. Sie feiern ihr zehntes Jubiläum auf der Messe. Kleider machen Leute. Auch 2024!

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Wie ein Vulkan

Als Halldor Gudmundsson seine große Island-Geschichte aufschreibt, tobt die Natur. In unmittelbarer Nachbarschaft bricht ein Vulkan unweit von Reykjavik fünfmal aus. Der Himmel verfärbt sich rot, die Erde öffnet sich nordöstlich des Berges Sylingarfell und spukt kilometerweit rotglühende Lava aus. Ein faszinierend-beängstigendes Naturspektakel, während Gudmundsson an seinem Manuskript feilt. So entsteht „Im Schatten des Vulkans“, eine Reise durch die Literatur Islands. Seit Menschengedenken prägt die Kraft der Natur mit Erdbeben, Vulkanausbrüchen und eiskalten Winternächten die kleine, große Wikingerinsel hoch oben im Norden. Der Sylingarfell-Vulkanausbruch der letzten Monate blieb bislang ohne schwerwiegende Folgen – zum Glück.

 

 

Island ist die größte Vulkaninsel der Welt. Regelmäßig brodelt und explodiert die Erde. Gudmundsson notiert: Naturgewalten prägen Menschen. Existenzkämpfe und „die raue Schönheit beeinflusst unsere Literatur“ grundlegend. Abenteuerlust, Überlebenskampf und unerklärliche Naturphänomene liefern reichlich Stoff für Sagen, Märchen und Legenden. So liegt für ihn der Schluss nahe, dass die Isländer zu den besten Geschichtenerzählern der Welt zählen.

Bereits im 13. Jahrhundert sprudelten in Island Saga-Geschichten und Edda-Lieder wie explodierende Geysire. Zu dieser Zeit produzierte  das kleine Land insgesamt elftausend Seiten erzählende Prosa. Vom skandinavischen Nachbarn Schweden sind sieben Seiten, aus Dänemark keine einzige Zeile überliefert. Die Isländer sind Pioniere der Sprache. Die Wikinger-Nachfahren lieben das Wort und vor allem: eine gute Geschichte.

 

Der Autor im Schatten des Vulkans. Halldor Gudmundsson hat mir versichert, dass die Aufnahme fünfzig Meter von seinem Haus in Reykjavik entfernt entstanden und 100% echt sei. Alle weiteren Fragen bitte direkt an Halldor Gundmundsson.

 

Gudmundsson führt in seinem Buch elegant durch acht Jahrhunderte einzigartige Literaturgeschichte. Er erzählt von Heldenmut und Hungersnöten, von Wal- und Fischfang und vom ersten Nobelpreisträger seines Landes Halldor Laxness. Gudmundsson hat ihm eine wichtige Biografie gewidmet. Der 68-jährige Schriftsteller Gudmundsson übersieht nicht isländischen Größenwahn wie beim Finanzcrash 2007/08. Er beschreibt, wie sich die gebeutelte Insel als Tourismus-Hotspot erholt, wie das einst abgeschottete Eiland in den letzten Jahren Migration und damit neue Impulse für die Literatur erlebt. Die Menschen in Island sind bekannt für ihre Kreativität und Weltoffenheit. Die Vulkaninsel hat weltweit eine riesige Fangemeinde.

 

 

Im Schatten des Vulkans. Erscheint am 20. März 2024

 

Halldor Gudmundsson erzählt, warum es in Island-Krimis mehr Morde in Fjorden als im wirklichen Leben gibt. Zur Erinnerung: Island hat so viele Einwohner wie Bielefeld. Allein Bestsellerautor Arnaldur Indriason hat mit seinem kauzig-schusseligen Polizisten Erlendur mehr als 18 Millionen Krimis verkauft. Auch wenn in Island mittlerweile weniger gelesen wird: Die Literatur lebt, nun als E-Book. Der Streaming-Dienst Storytel zählt über fünfzigtausend Abonnenten, bei 300.000 Einwohnern. Fast jedes dritte Buch erreicht die Leserschaft über den Kopfhörer. „Dank Podcasts sind wir wieder bei der mündlichen Überlieferung gelandet“, schmunzelt Gudmundsson, „von Ohr zu Ohr, wie es einst für die klassische Literatur so wichtig war.“ Geschichten werden heute weitergegeben wie im 13. Jahrhundert, als in Island alles anfing. Im Vulkan-Reich der Wikinger, Sagas, Edda-Lieder, Elfen und Trolle.

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Hinterm Zaun

Der siebzehnjährige Yaser aus Afghanistan schafft es aus seiner Heimat über den Iran in die Türkei. Beim elften Versuch gelingt ihm die gefährliche Mittelmeer-Passage nach Griechenland. Der Junge, ein echter Filmfreak und Quentin Tarantino-Fan, landet auf Lesbos. Seine neue Heimat: Moria, 2020 das größte Flüchtlingslager der EU. Ausgelegt für dreitausend Menschen. Bis zu 22.000 Bewohner kampieren auf einem ehemaligen Militärgelände in glühender Sonne, umzäunt von Maschendraht. Der junge Afghane will Regisseur werden. Er hat Glück und ergattert einen Platz an der Filmschule im Lager. Das „ReFOCUS MediaLab“ wird von dem US-Dozenten Douglas und seiner Lebenspartnerin Sonia aus Polen geleitet. In dieser Filmschule lernt die Schauspielerin Katja Riemann unter anderem Yaser kennen.

Sechzehn Jahre lang war Riemann UNICEF-Botschafterin. Von 2020 bis 2023 bereiste sie nun Flüchtlingscamps wie Moria und Lipa (Bosnien-Herzegowina) oder Hotspots in Calais und in der spanischen Afrika-Enklave Ceuta. Orte, an denen niemand freiwillig ist. Schauplätze, die fast nur negativ in den News sind. Warum? Riemann: „Flüchtlinge sind zu allen Zeiten lästig“.

Katja Riemann. Bekannte Schauspielerin und „Reporterin“ im Auftrag der Menschlichkeit. Neues Buch: Zeit der Zäune. Orte der Flucht“.

 

Als „Reporterin ohne festen Auftrag“ erlebt die prominente Schauspielerin im Camp von Moria anrührende Gastfreundschaft. Sie wird im „Dschungel“ von mittelosen Familien mit Tee und Ashak bewirtet. Ashak sind mit Porree gefüllte Teigtaschen, dazu Bohnen und Minzsauce. „Wir wurden beschenkt von Menschen, die alles verloren hatten. Scham und Ohnmacht reichten sich die Hand.“ Sie lernt eine junge Frau aus Afghanistan kennen, die fließend Englisch spricht und ausgebildete Bankerin ist. Humor sei die stärkste Waffe, schreibt Riemann in ihrem neuen Buch „Zeit der Zäune“, nur so könne das Elend ertragen werden. Die Zeit in Lagern ist ein Leben im Interim, ein Hoffen und Bangen, der Wunsch nach Zukunft. Dieser Wartezustand interessiert Riemann. Über Hundert Millionen Menschen sind derzeit (UNHCR von 2022) auf der Flucht. So viele wie noch nie.

140 Millionen Euro hat die EU für neue Zäune in der spanischen Enklave Ceuta ausgegeben, so Riemann. Insgesamt drei Stacheldrahtverhaue wurden errichtet. „Todesstreifen“ mit eingebauten Push-Back-Türen. Die EU-Außengrenze sehe aus wie ein Hochsicherheitstrakt. „Humanitäre Arbeit ist ganz konkret“, betont die Schauspielerin. Oder doch eher kriminell? Helfen ist gefährlich. Unterstützer werden bedroht, schikaniert und kriminalisiert. Riemann: „Ich glaube, man sucht sich den schwächeren Feind. Es ist einfacher Volontäre, die Seenotrettung machen, oder Humanitäre, die Distribution für Flüchtende leisten, zusammenzuscheißen, vor Gericht zu ziehen und mit Hass zu überziehen.“

 

 

Griechenland beispielsweise klagt Aktivisten und Helfer wie Staatsfeinde an: Die Vorwürfe: „Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Unterstützung von Menschenhandel, Beihilfe zur illegalen Einreise, Geldwäsche, Urkundenfälschung, illegale Nutzung von Funkfrequenzen, Spionage“. Bis zu zwanzig Jahre Haft drohen. Auch die Filmleute Douglas und Sonia bekommen den Druck zu spüren. Erst brennt ihre ReFocus-Filmschule für Studierende aus zwölf Nationen in Moria nieder, dann wird Douglas des Landes verwiesen. Sein „Exil“ hat der US-Amerikaner mittlerweile mit Sonia in Warschau bezogen. Dort erteilen die beiden weiter Online-Kurse für Geflüchtete.

 

 

Das 445-Seiten-Buch von Katja Riemann ist eine echte Überraschung. Sie sieht dort hin, wo die meisten wegschauen. Sie wagt einen vorurteilsfreien Blick hinter Zäune, die in unserem Namen errichtet werden. Sie spricht mit Beteiligten statt über sie. Vielen Namenlosen gibt sie eine Stimme. So findet Riemann den passenden Ton in einer Zeit, in der Europa sich massiv abschottet und Wutbürger lautstark eine viel härtere Gangart fordern. Ihre Reportage in die Hinterhöfe Europas ist keine Verklärung des Flüchtlingsdramas. Nüchtern stellt Katja Riemann fest: „Die Anzahl der Arschgeigen ist in jeder Gruppe gleich groß, auch unter Humanitären.“

Katja Riemann. Zeit der Zäune. Orte der Flucht. S. Fischer Verlag. 2024.

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Tanz den Hotzenplotz

Er ist ein Räuber, kennt keine Gnade. Na, ja! Manchmal schon. Der Mann mit dem Donnernamen Hotzenplotz nimmt sich, was er begehrt. Sogar Großmutters Kaffeemühle, die beim Kurbeln so schön „Alles neu macht der Mai“ spielt. Kasperl und Seppel ziehen los, um dem breitbeinigen Räuberhauptmann mit Schlapphut, Feder und Pistole das Handwerk zu legen. Gemeinsam mit Wachtmeister Dimpfelmoser und Zauberer Petrosilius Zwackelmann triumphieren sie am Ende im Namen der Gerechtigkeit. Happy End! Wie schön. Als Babyboomer habe ich den Räuber Hotzenplotz geliebt. Ausgedacht hat sich diese Geschichte ein gemütlicher Mann mit vertrauensvoller Stimme: Otfried Preußler. Mit seiner „Der-Die-Das-Trilogie“ – Der Räuber Hotzenplotz (1962; Trilogie), Die kleine Hexe und Das Kleine Gespenst verkaufte er über 15 Millionen Bücher in 55 Sprachen und 275 Übersetzungen. Natürlich verschlang ich auch Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer, Pippi Langstrumpf, Kater Mikesch, Emil und die Detektive, Krabat, Momo…

 

 

Kinder brauchen Geschichten, steht auf dem Grabstein von Otfried Preußler. Hochgeehrt verließ der Autor neunzigjährig unseren Planeten. Er hinterließ Bücher, Filme und bei Kindern viele Erinnerungen. 22 Schulen tragen seinen Namen. Eine, die Otfried-Preußler-Schule in Pullach, will nun seinen Namen ablegen. Grund sei die verschwiegene NS-Vergangenheit des Kinderbuchautors. Er könne kein Vorbild mehr sein. Eine „große Mehrheit“ der Schüler-, Lehrer- und Elternschaft habe laut Schuldirektor nach fünfjähriger Debatte die Umbenennung beschlossen. Potzblitz, würde der Räuberhauptmann sagen: Preußler – ein Betrüger? Das geht auf keine Kuhhaut.

Wer war Otfried Preußler? Geboren 1923 in Reichenbach, Sudetenland. Heute Liberec, Tschechische Republik. Geburtsname: Syrowatka. Seine Oma erzählt wunderbare böhmische Geschichten. Als Jugendlicher verfällt er „dem braunen Hexer“, wie er selbst schreibt. Preußler wird HJ-Oberjungführer. Mit siebzehn schreibt er 1940 seinen ersten Roman „Erntelager Geyer“ Der Text über Pimpfe, Lagefeuer und Kameradschaft wird 1944 veröffentlicht. Mit achtzehn tritt er in die NSDAP ein, wenig später kämpft er als Kompanieführer an der Ostfront, erhält das Eiserne Kreuz II. Klasse. 1944 gerät er in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Typhus, Malaria und Fleckfieber überlebt er in seiner fünfjährigen Gefangenschaft wie durch ein Wunder nur dank einer russischen Ärztin. Abgemagert auf vierzig Kilo verfasst er im Lager Gedichte und kriegskritische Theaterstücke. Er sagt, er sei dem falschen Führer gefolgt.

 

Otfried Preußler im Sommer 1941. Als Siebzehnjähriger hatte er ein Jahr zuvor „Erntelager Geyer“ geschrieben. Das NS-tümelnde Buch erscheint 1944, wird nach dem Krieg in Ost und West aussortiert.

 

Neuanfang 1949 im bayrischen Rosenheim. Das Land liegt noch in Trümmern. Seine neue Heimat wird der Chiemgau. Bis 1970 arbeitet er als Volksschullehrer in Klassen mit bis zu 52 Kindern. Generationen von Schülern folgen begeistert seinen Geschichten, die er gerne im Unterricht erzählt. Denn: Langweilig darf es nicht sein.  Nebenbei veröffentlicht er im Bayrischen Rundfunk. Fleißig füttert Preußler in diesen Jahren „das große gefräßige Tier“, seinen Papierkorb. Darin verschwindet auch seine Hitler-Zeit, wie bei den meisten Nachkriegsdeutschen. Nur einmal erwähnt Preußler das Erntelager-Buch in einem Brief an die Künstlergilde Esslingen. Ein ganzes Jahrzehnt feilt Preußler an seinem Jugendroman Krabat. Die Geschichte eines vierzehnjährigen sorbischen Waisenjungen. Der Müllerbursche in der Oberlausitz lehnt sich im Großen Nordischen Krieg gegen seinen Meister auf. Preußler: „Mein Krabat ist meine Geschichte, die Geschichte meiner Generation und die aller jungen Leute, die mit der Macht und ihren Verlockungen in Berührung kommen und sich darin verstricken.“ Das 1971 erschienene Buch wird ein Bestseller.

 

Otfried Preußler (1923-2023) im Jahre 2010. Seine Stücke zählen zu den meistgespielten im deutschsprachigen Raum. Foto: Markus Schlaf

 

Nach Preußlers Tod 2013 mehren sich kritische Stimmen. Dem „Märchenonkel“ werden Hang zu starken Autoritäten und eine heile Welt vorgeworfen. Eine Medienexpertin stört, „dass er einen Standpunkt vertritt, der eigentlich auf den Müllhaufen der Geschichte gehört.“ Schlechte Zeiten für Märchen aus früheren Zeiten? Preußler ergeht es nun wie Astrid Lindgren, Michael Ende (Jim Knopf), Erich Kästner oder Hans Fallada. Der Zeitgeist wirft ihnen falsche Begriffe vor. Die hypersensible Social-Media-Community legt Wert auf Achtsamkeit, Reinheit und Tugendhaftigkeit. Sensitive Reading ist das neue Zauberwort. Der Zeitgeist der Nachgeborenen kommt offenbar mit widersprüchlichen und wandelbaren Menschen nicht mehr klar.

 

Räuber Hotzenplatz. Er brachte es barfuß und mit Räuberhut auf drei Bände und Millionen verkaufter Exemplare.

 

„Der Mensch ist aus krummem Holz geschnitzt“, notierte Aufklärer Immanuel Kant aus Königsberg. Auch er gilt als kontaminiert. Er sei ein Rassist, lautet der Vorwurf.  Was heißt das? Muss dann Günter Grass, der seine Zeit als Heranwachsender in der Waffen-SS lange verschwiegen hat, nicht posthum der Nobelpreis aberkannt werden? Ist Otfried Preußler mit seiner NS-Jugendschwärmerei heute untragbar? Und: Gibt es lupenreine Biografien, unbefleckte Lebensläufe? Sollen „gefährliche Stellen“ ausgetauscht und entschärft werden, damit dadurch „zeitgemäße, korrekte“ Literatur entsteht? Wer entscheidet das?

So viele Fragen. Was denken Sie?

 

Transparenz-Hinweis

Mein Vater und mein Schwiegervater (beide Jahrgang 1928) waren als Flakhelfer an der Front. Beide gerieten sechzehnjährig in Gefangenschaft. Der eine einige Monate in Frankreich in einem ehemaligen deutschen KZ, der andere drei Jahre lang an der Wolga in sowjetischen Lagern. Diese Erfahrung hat ihr Leben geprägt – bis zuletzt.