Archive for : Dezember, 2024

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Bob Marley in der Lausitz

Mitte der siebziger Jahre. Es spricht sich wie ein Lauffeuer herum. Bob Marley ist im Land. Der große „Reggae King of the World“ besucht die kleine DDR. Inkognito eingereist mit einer „Jugendtourist“-Gruppe will er das Land hinter der Mauer entdecken. Im Gepäck seine Gitarre und jede Menge Gras. Marihuana ist für Rastas das „Heilkraut der Völker“. Robert Nesta Marley, so sein Geburtsname, ist ein großer Fußball-Fan und zu „90 Prozent der Zeit bekifft“. Heimlich setzt er sich von der Gruppe ab, organisiert einen Trabi.

Mit dem Zweitakter holpert er nach Cottbus. Dann weiter gen Süden. Irgendwo in der Lausitz streikt der kleine Stinker. Bob steht hilflos am Straßenrand. Plötzlich hält quietschend ein Wartburg. Ein junger schlaksiger Mann mit langen Haaren und einer großen Kassenbrille steigt aus. Er fragt den Fremden radebrechend auf Englisch: „Do you need some help? – Sure, Bro!“ Der junge Pannenhelfer ist Gundi Gundermann. Der singende Baggerfahrer aus der Lausitz. Wahnsinn, Brother! Die beiden düsen nach Hoyerswerda. Sie haben ein gemeinsames Ziel: Kicken, Kiffen und Konzerte.

 

 

Wirklich? Stimmt das? – Leider nein! Wäre auch zu schön, diese Schnurre. Filmemacher Andreas Dresen erzählte sie vor kurzem beim Konzert im Festsaal Kreuzberg. Dort coverte er mit Schauspieler Alexander Scheer die besten Gundermann-Songs. Die Hütte war bis zum Umfallen voll. Was stimmt: 1976 tourte Bob Marley erstmals durch Deutschland, allerdings nur im Westen. Die damalige Tour startete in München, weitere Stationen waren unter anderem Offenburg, Düsseldorf und Hamburg. In Ludwigsburg, meiner Vaterstadt, ging abends der Stoff aus. Guter Rat ist teuer! In der Kleinstadt gab es damals weder Gras noch Dealer. Ständig dabei: Musikjournalist Teja Schwaner. Der Spiegel-Reporter konnte mit selbstangebautem Dope aushelfen.

 

 

Was er über Deutschland wisse, fragte Spiegel-Mann Bob Marley. Dessen Antwort: „Hitler, Müller, Beckenbauer“. Im Tourbus erkundigte sich die Band, wie es sich mit East-Germany und West-Germany lebe. Reporter Teja Schwaner erzählte von Mauer, Todestreifen und Teilung. Da antwortete einer aus der Band: „The wall is gonna fall.“ Im Jahr 1976 gab es keinerleich Anzeichen für ein Ende der DDR. Fröhlich sangen die Jungs von der Marley-Band: „Don’t  worry …. the wall is gonna fall, the wall is gonna fall.“

 

 

Im Mai 1981 verließ Reggae-Legende Bob Marley mit gerade einmal 36 Jahren für immer die Welt. Der Mann, dessen Lebenskerze stets an beiden Enden brannte. Vermutlich war das ein Grund, dass sein Körper der Krake Krebs schutzlos ausgeliefert war. Auch der Lausitzer Liedermacher Gerhard „Gundi“ Gundermann hat sich die Seele aus dem Leib gesungen. Geniale Texte. Ungewöhnliche Arrangements. Bodenständiges Auftreten im karierten Fleischerhemd. Sein Lebenslicht erlosch mit 43 Jahren. Gott sei Dank, Bob und Gundi, bleiben eure Lieder und Texte. Viel Spaß bei Eurer Session unterm Himmelszelt. Erfreut die Engel: Get up, stand up, don´t give up your fight.

 

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„Vom Wollen zum Können“

Er suchte die Harmonie der Farben. Die Heilung in der Kunst. Er fand seinen Lebenssinn in Natur und Landschaften. Sein Sonnenreich war die Malerei: Kurt Sonn. Unermüdlich arrangierte er seine Bilder in warmen, wohltuenden Farben und fließende Formen. Häuser, Kirchtürme, Höfe und Schuppen. Kantige Brüche oder dunkle Dissonanzen sind eher selten zu erkennen. Seine Sache war das Entdecken und Sehen. Einer, der genau hinschaute, das Spiel der Wolken und den Wechsel der Jahreszeiten. Seine in den Grundtönen rot, braun und gerne mit gelben Sonnentupfern versehenen Landschaftsmotive folgen der expressionistischen Schule. Gabriele Münter und Wassily Kandinsky waren seine Vorbilder. Abstraktion der Natur auf Basis der Romantik. Tendenz zum Kontrast, dünne lasierende, tuschende Malweise. „Vom Wollen zum Können voranschreitend“, wie es im berühmten Manifest von 1916 heißt.

 

Kurt Sonn. Bild Nr. 639. Der Maler ließ die Bilder namenlos.

 

Kurt Sonn fand seine Bestimmung in der Natur. Sein Gegenbild zur zerstörerischen Kraft der Menschheit in Zeiten von maximalen Gewinnstreben, Globalisierung und Digitalisierung. Harmonische Farben und Formen sind seine Antwort auf Ausplünderung des Planeten. Sein Atelier in der (noch) heilen Unberührtheit der lieblichen schwäbischen Heimat inspirierte und beflügelte ihn genau wie seine geliebten mediterranen Motive.

 

Bild-Nr. 553

 

Doch Sonn war kein weltfremder oder naiver Maler. Er suchte Halt im Glauben, erlebte dort Glück wie Verzweiflung. So malte er gegen das Scheitern an. Täglich neu. Immer wieder getrieben, suchend und fluchend. Nach Zeiten der inneren Qual machte er einen großen Sprung – vom Naturabmalen – mehr oder weniger impressionistisch – zum Fühlen des Inhaltes, zum Abstrahieren – um auf das Wesentliche und zum Kern seiner Kunst vorzustoßen.

 

Bild-Nr. 1381

 

Kurt Sonn (1933 – 2020) war kein medienerprobter Performer im lauten Kunstbetrieb. Zurückgezogen suchte er die richtige Komposition, die passende Mischung von Farben Formen und Figuren. Einer, der stets um den richtigen Ton rang. Ruhig und bescheiden, auf seine Arbeit konzentriert und äußerst konsequent. Er hinterließ mehr als dreitausend Bilder.

„Schau dir die Natur an! Jeder Sonnenuntergang zaubert jeden Abend ein anderes Licht. Sie ist unser größter Lehrmeister“. Einer seiner Sonn-Sätze. Der Künstler malte nicht nur mit Farben, auch mit Tönen und Worten. Am Klavier oder an der Schreibmaschine. Bis zu seinem Tod hat er nahezu jeden Tag ein neues Bild gemalt. In den warmen Kurt-Sonn-Farben, die er so geliebt hat.

 

Bild-Nr. 726

 

Transparenzhinweis: Kurt Sonn war mein Patenonkel. In seinem Atelier posierte ich als Knirps zum Beispiel für eine Märklin-Werbekampagne, mit der er unter anderem den Lebensunterhalt für seine achtköpfige Familie verdiente. Dank dieser Brotjobs konnte er sich die Malerei leisten.

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„Den Armen eine Stimme geben“

Was tun, wenn das Geld ausgeht? Vor zwei Jahren habe ich schon einmal in Berlin nach Antworten gesucht. Viele wollten nicht über das leidige Thema reden. Bloß nicht! Mit Hilfe des Diakonischen Werks konnte ich einige wenige Menschen finden. Celin ist Mutter und Grundsicherungsbezieherin. Ihr Sparalltag: „Wir schneiden den Gürtel einfach enger. Sparen da, wo wir können. Man sieht einfach zu, dass man mit den Lebensmitteln besser, länger klarkommt, eben mal mehr Eintöpfe kocht, auf Fleisch und auf einige Sachen, die sehr teuer geworden sind, verzichtet.“

Verzicht heißt das: Auf Fleisch, Reisen, Klassenfahrten, neue Klamotten Theater, Kino, Konzerte, Restaurantbesuche, kurzum auf Teilhabe am Leben. Dazu hoffen, dass die Waschmaschine durchhält oder nicht schon wieder die Miete erhöht wird. Herr K., so nennen wir ihn, sitzt nach einem Unfall im Rollstuhl und ist gleichfalls Grundsicherungsbezieher. Er verrät uns einen seiner Spartricks. Er kocht montags Eier für die ganze Woche vor: „Ich habe gerne ein Frühstücksei auf dem Tisch, was ich mir früher jeden Tag gekocht habe. Da habe von meiner Grundsicherung noch den Strom zahlen können und jetzt koche ich halt vier Eier und esse drei Tage halt ein Kaltes, so spare ich zum Beispiel dreimal das Eierkochen.“

 

Eier für die ganze Woche vorkochen. Ein Spartipp von einem, der mit jedem Cent rechnen muss.

 

Die neuen Zahlen müssten eigentlich eine Gesellschaft wachrütteln. 17,5 Millionen Menschen leben in der Bundesrepublik in Armut oder sind armutsbedroht. Sechzig Prozent der Tafeln müssen mittlerweile Lebensmittel rationieren. Weil die Nachfrage drastisch steigt, aber das Angebot permanent sinkt. 2025 wird für viele eine Herausforderung. Große Unternehmen bauen Jobs ab, Kosten der täglichen Daseinsvorsorge wie Wohnen, Lebensmittel, Strom, Benzin, Gas, Krankenversicherung oder Pflegekosten steigen. Nicht nur gefühlt, sondern in Euro und Cent. Die Lebensmittelkosten sind im Vergleich zu 2023 um +41% nach oben geschnellt. Die Energiekosten nehmen mit +37% Teuerung nur eine Richtung ein: nach oben. Wer an der Armutsgrenze lebt, muss genau rechnen: Einmal Duschen kostet 1,10 Euro, einmal Wäschewaschen 1,20 Euro. „Das können sich viele nicht mehr leisten“, sagt Thomas de Vachroi, Armutsbeauftragter der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg.

 

„Der Armut eine Stimme geben“. Das ist die Mission von Thomas de Vachroi. Er kümmert sich als Armutsbeauftragter der ev. Kirche um Menschen in Not. NIcht nur an Weihnachten.

 

Der Kirchenmann versteht sich längst als Sozialarbeiter. Er rechnet für das neue Jahr „mit einem Sozial-Tsunami, der auf uns zurollt“. Seit einiger Zeit müsse er „einen kompletten Wechsel“ von Menschen in Not feststellen. „Neu sind viele Jüngere und Frauen, ihr Anteil ist auf ein Drittel gestiegen. Das gabs früher nicht“. Was zudem immer vergessen werde, ist die grassierende Altersarmut. „Die Alten verstecken sich, ihre Armut ist unsichtbar. Sie leben in Einsamkeit“. In der Neuköllner Tee- und Wärmestube in der Weisestraße sei das Verhältnis von Einheimischen und Zugewanderten 40:60. Was hat sich noch verändert? – „Es gibt kein Lächeln mehr. Das Land befindet sich in einer depressiven Phase.“ Die Betroffenen hätten keine Hoffnung auf Besserung. Von der Politik erwarte man rein gar nichts mehr. Herr Vachroi, was ist zu tun? – „Der Armut eine Stimme geben“, ist seine Antwort. Diese bundesweite Kampagne hat den engagierten Protestanten bis zum Papst geführt.

Was tut not? Es brauche Aufmerksamkeit, Spenden und gesellschaftlichen Druck, Armut endlich als Thema anzugehen. Das beginne damit, dass man Lebensmittel nicht in die Tonne wirft. „Wer so etwas macht, ist emotional und sozial arm.“ Der 63-jährige ist sichtlich empört. Gleichgültigkeit sei ein großes Problem.  „Menschen fragen sich: Kann man sich das Leben noch leisten? Wenn man in einem reichen Land eine solche Frage stellt, dann müssen wir uns in Grund und Boden schämen.“ Zum Schluss noch eine Frage: Wann wird der Armutsbeauftragte überflüssig? – „Wenn wir unsere Einrichtungen schließen könnten.“ Vachroi setzt eine Pause: „Aber ich werde es in meinem Leben nicht mehr erleben.“

 

Einer der Wärmestuben-Besucher bat mich, einen Song von Bruce Springsteen zu spielen. Gerne geschehen. „The Ghost of Tom Road“ nach der Vorlage aus John Steinbecks Roman: „Früchte des Zorn“.

 

Wer helfen will oder wer Hilfe braucht. Die Tee- und Wärmestube in Neukölln ist eine gute Adresse in Berlin.

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Adam, der Wundergeiger

Adam Bałdych gilt als „Wunderkind an der Violine“. Als „der größte lebende Geigentechniker der Welt“ (FAZ). Der polnische Jazzgeiger entlockt seiner „geliebten Braut“ sehnsuchtsvoll-ungewohnte, verzaubernde Töne. Er balanciert, zupft, zwickt, streicht und stürmt über die vier Saiten seiner Geige wie ein Seiltänzer ohne Netz und doppelten Boden. Der 38-jährige mit dem Hipster-Zopf hat sich in die erste Liga der Solisten gespielt. Stets auf der Suche nach einem neuen Mix aus Jazz-, Folk-, und Klassik. Von zart bis rau, von melancholisch-verträumt bis teuflisch-wild. Ausgebildet im polnischen Katowice und am Berklee College in den USA legt der vielfach ausgezeichnete Warschauer mit Portraits ein neues, sehr persönliches Album vor. Bałdych interpretiert in fünfzehn Liedern Zeitzeugenberichte des II. Weltkrieges – aus seiner Heimat Polen.

 

 

„Mit neun Jahren entschloss ich mich, eine Musikschule zu besuchen“, erzählt Bałdych: „Polen hat große Musiktradition, speziell beim Klavier.“ Zur Violine greift Bałdych mit elf. Seine Vorbilder: „Ich war sehr von den berühmten osteuropäischen Komponisten beeinflusst: Rachmaninoff, Chopin und Tschaikowski.“ Mit dreizehn entscheidet sich Adam für den Jazz: „Er gab mir die Freiheit, die ich suchte.“ Besonders gerne geht Bałdych mit dem norwegischen Pianisten Helge Lien, „dem Meister der nordischen Kammermusik“, auf musikalische Reisen.

Bałdychs Album „Portraits“ greift Schicksale aus dem II. Weltkrieg auf. Der Künstler entdeckte sie in zahlreichen Archiven, mitbeteiligt das Berliner Pilecki-Institut. In der polnischen Erinnerungskultur nehmen der Überfall Hitlers auf Polen am 1. September 1939 und besonders der blutige Warschauer Aufstand einen wichtigen Platz ein. Der verzweifelte Kampf des polnischen Widerstands gegen die NS-Besatzer von August bis Oktober 1944 steht für Mut und Hoffnung, Tragik und Trauma. Das Scheitern des Aufstands wirkt bis heute nach. Die Lernkurve bedeutet schlicht und einfach: Freiheit gibt es nicht umsonst.

Wiegenlied.

 

Wer die Vergangenheit kennt, versteht die Gegenwart besser. Dieses Motto treibt den Ausnahme-Geiger um. Bałdych beschäftigt sich mit der „Musik in Auschwitz“. Ein Standardwerk des Komponisten Szymon Laks aus dem Jahre 1967. Dessen Buch erzählt in erschütternden Briefen, Fotos und Dokumenten von der überlebenswichtigen Funktion der Musik im Alltag von Auschwitz-Birkenau. Bałdych: „Das Thema fühlt sich für mich sehr wichtig an, im Angesicht der wachsenden Konflikte in Europa und in der Welt. Ich habe Zeitzeugenberichte gelesen und ich wollte mich gegen das stellen, was Tausende heute wieder erleiden müssen. Ein Aufruf zum Frieden in der Welt. Es sind sehr emotionale Stücke entstanden, die versuchen, Menschen und Lebensbedingungen und die Zeit, in der wir leben, zu porträtieren“.

Adam Bałdych testet in seinen Episoden wie „Wiegenlied“ die Schnittstellen zwischen Jazz und klassischer Musik aus. Er mischt in seine fünfzehn eindrucksvollen „Portraits“ traditionelle polnische und jüdische Musik-Zitate. Weltmusik im besten Sinne, in dunklen, stürmischen Zeiten.